This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project
to make the world's books discoverable online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that 's often difficult to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these flies for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machine
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attribution The Google "watermark" you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can't off er guidance on whether any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner
any where in the world. Copyright infringement liability can be quite severe.
About Google Book Search
Google's mission is to organize the world's Information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover the world's books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll text of this book on the web
at jhttp : //books . qooqle . com/
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google -Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter http : //books . google . com durchsuchen.
Safe
>^j*tf
*^äwv ****** ^ ,^*^*w<i,$ti
P^MM^&
y-^-mM^.
\zmm^mm^fmms*mm^mm®
m*mmm % Mmm^mm'mmm':
i
c
CS
O
O
5
Nene Bündel
Unkraut, Knospen und Blüten
aus dem
blumigen Reiche der Mitte
Si<J«?
Gepflückt und zusammengebunden
* t Rudolph Pieper S. V. D. $ *
Missionar
Mit Illustrationen
Jentschoufu
Druck und Verlag der katholischen Mission
1908
C-L-
t/</fj&c.'JJLe£ diu
Aufklärung.
Ein langatmiger Titel von mittelalterligem Beigeschmack,
denkt zweifelsohne der freundliche Leser ; dahinter steckt sicher
ein langweiliger Inhalt. Und soll mir doch das Lesen die
Langeweile vertreiben, oder will ich als Mann der Wissenschaft
Belehrung dabei suchen über chinesische Verhältnisse : also fort
mit dem Buche; denn zum Schlafeinlullen gebrauche ich alle-
weil noch keines.
Gemach, mein Freund, nicht so eilig. Weißt doch wohl,
der Titel ist nur so ein Aushängeschild ähnlich der Orden, die
manche Herren tragen mit langen Titulaturen. Wer aber wollte
sich erkühnen, zu behaupten, daß hinter den Ordens- und Titels-
führern nicht viel stecke. Hiermit soll nun aber keineswegs
gesagt sein, in meinem Buche finde sich nichts Langweiliges und
Mancherlei, an dem der Leser weniger Interesse hat. Immer
interessant zu sein, ist nicht jedem gegeben und auch nicht immer
gut. Gehören ja zum Unkraut auch Disteln und Dornen, und selbst
die Rose trägt noch ihre Stacheln. Dag ich mich im Titel aber
wieder mit der Botanikschachtel vorstelle, kommt daher, weil der
geehrte Leser mich bereits als Unkrautsammler kennt. Das da-
mals Gebotene ist so ziemlich vergriffen und ich wurde zu neuem
Sammeln angespornt von jemanden, dessen Wunsch mir Befehl
sein muß. Das Sammeln geschah so nebenbei, wie es der Wan-
derer tut, wenn er sich ein Veilchen pflückt oder Gänseblümchen
oder ein Zweiglein vom Ginsterstrauch, wie es bescheiden am
Wege wächst. Gerade wie die Hauptsache für den Wanderer
ist, fortzueilen seines Weges, damit er weiter komme, hat der
Missionar im Allgemeinen genug zu tun mit andern Arbeiten am
Seelenheile, und das Schreiben ist nicht sein Fach. Zudem wird
heutzutage genug geschrieben, daß schier alle Gänse auf Gottes
weiter Welt nicht Federn genug liefern könnten, wenn man deren
noch benötigte. Der Missionar hat nun allerdings den Vorteil
für sich, daß sein „Unkraut" exotisches ist und weit herkommt;
man sich heutzutage aber recht interessiert für das Unbekannte.
- IV -
Dann aber soll das Buch vor allem als Erinnerungszeichen
dienen, als Ausdruck der Dankbarkeit. So ein Missionar ist
Bettler in höchster Potenz. Zunächst beim lieben Gott und da
muß er oft recht stürmisch anklopfen für die verrosteten Heiden-
herzen und Gnade für sie erbitten und Erbarmen. Dann bei den
zu bekehrenden Sündern, und die lassen sich meistens lange ge-
nug bitten, ehe sie Miene machen, abzulassen von ihrem Sünden-
tun ; und endlich klopft er an die lieben Christenherzen daheim,
damit sie mithelfen durch Gebet und Almosen das Werk der
Christianisierung im Heidenlande zu unterstützen. Und da bin ich
manchem verehrten Leser bekannt genug, dermaßen, daß man
mir bereits das Zeugnis eines „ Musterbettlers " ausgestellt. Nun
ist es aber ein süßes Bewußtsein für den Bettler, sich in etwa
dankbar zu bezeigen und etwas wieder geben zu können. So
möge man denn das Gebotene als Gegenpräsent aufnehmen und
ansehen und auch beim Lesen des Buches verfahren nach dem
Sprüchlein vom geschenkten Gaul. Der Verleger freilich wird
das Buch wohl nicht schenken wollen, so gerne ich auch mei-
nerseits dazu bereit wäre. Möge sich denn der verehrte Leser
mit dem guten Willen abfinden lassen und meinen nochmaligen
Dankesbezeugungen.
NB. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich auf ver-
wandte Gegenstände, über die ich bereits in meinem „Unkraute u
geschrieben, mit einem U. nebst Seitenzahl hin. Manches in diesem
Buche wird als Ergänzung dienen zu dem dort Gebotenen.
Puoly, den 18. Januar 1907.
Der Verfasser.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Aufklärung III
Erster Teil.
Die vier Jahreszeiten 1
Der Frühling 3
Chinesische Wetterregeln . , . 6
Der Sommer 10
Die Hundstage 15
Der Ursprung der Hacke 16
Die Weizenernte 17
Summerfäden 20
Wassermelonenfest iu Puoly 21
Der Herbst 27
Wachteln in China 31
Hasentreibjagd . . . . 37
Der Winter .39
Uen-pa-chi-ti 45
Schul denmachen und Schuldenein treiben 46
Schlau angelegt 50
Wie die Chinesen ihre Götzen betrügen 55
Wie die Chinesen mit Wasser die Lebensmittel fälschen .... 57
Der Winkeladvokat Wen 61
Papa Tschou 64
Kuriose Heiraten . . .72
Hochzeits- und Begränisfeierlichkeit an einem Tage 76
Leben sverlängerungs- und Stärkungsmittel der Chinesen .... 78
Die Prügelheilmethode . . . . . . . . . .82
Wunderbare Allopathie 85
Das Nationalgericht der Chinesen 87
Immer nobel 90
Chinesischer Gernegroß . . .92
Ratten und Mäuse 94
Eine eigentümliche Geschichte 98
Die Stiefmutter in China 100
Die Witwe und ihre Ehrung 103
Ein chinesischer Pantoffelheld 108.
Brunnen in China 109
Ahnentempel und -Tafeln 114
Der „heiligste Wald tt 121
Brfrfwesen . . . . 124
Markt und Messe 129
Reklame 133
Der chinesische Wagen und sein Lenker 137
Der Kompaß . 142
— VI —
Di^ Blinden in China 145
8chmuckgegenstände 150
Die Ziegelbrennerei 154
Der Chinesenköter 157
Das Pferd 159
Das verflixte Chinesisch 165
Zweiter Teil: Erinnerungen aus Peking.
Spaziergang auf die Mauer der Haopstadt des himmlischen Reiches 172
Von Pnoly nach Peking 191
Eis und Blumen in Peking 197
Chinesischer Zellenschmelz 201
Zwei Wachtturme 204
Das „heilige 11 Ackerland des Kaisers von China 209
Durch die Straßen Pekings 214
Ma-ngau-schen, das Sommerqnartier der deutschen Trappen in Peking • 222
Beförderungsmittel in Peking 230
Die Eunuchen am Kaiserhofe 232
Pekinger Mohren und Wohltätigkeitseinrichtungen 236
Etwas oher chinesische Nasen nnd den Pekinger Schnupftabak und Staub 240
Theaterspiel 242
In den Pagoden Pekings 246
Das Hauptheiligtum in Peking 259
Pekinger Tagebuch 267
Von Peking nach Puoly 277
Dritter Teil: Aus dem Missionsleben.
Geächtet und vertrieben 286
Von Tsingtau nach Kiautschou 292
Erste Stimmungsbilder nach den Boxerunrahen 296
Kur Mut! immer weiter! 309
Maria Helferin der Christen 311
Zwei Tage Aufenthalt 315
Auf der Reise nach Tjü fu ....,*... 319
Des Missionars Festtagswohnung und seine Stubengenossen 325
Bischofsweihe in Yentsch'oufn 332
Der „kostbare Turm* Ton Tenfu 334
Des Teufels letzter Versach 338
Auffallende Bekehrung zweier Heiden S39
Nebenbei 344
Bestrafte Sonntagsentheiligung 347
Ein Licht in der Finsternis 349
Böse Heidin — gute Christin 352
Muster eines guten Hausvaters 355
Ein bejahrtes Ehepaar 357
Ein gutes Wort 360
Puolj Ton einst 362
Puoly Ton jetzt 386
Typen aus dem Waisenhaus in Puolj 373
Tagebuch und Gedankenschnitzel auf apostolischen Reisen 388
Erster Teil.
Die vier Jahreszeiten in China.
„Der Frühling öffnet uns duftende Gefilde
Es ergötzt der Sommer mit grünen Teppichen und Seen.
Im Herbst trinkt man goldenen Blumenwein
Des Winters glänzender Schnee begeistert den singenden
[Dichter."
(Schen-tung-sche Lied vom Wunderknabe; letzte Strophe).
Zeit, als des unbezopften Mannes Urahnen ihre „Nesten-
wohnungen" (ts'ao-sche) im Laube der Bäume aufgeschlagen
hatten, gab es für sie noch keine vier Jahreszeiten. Das Dach
Jf 1 if L^ES ll ^ er dem Haupte war immer grün und reparierte sich so lange,
als der Baum am Leben blieb. Wohl fühlte man den Unterschied
der Witterung und wußte, ob es heiß oder kalt war ; aber der
gestrenge Winter mit eisbepanzerter Faust und einem dicken
Schneemantel war noch ein unbekannter Herr. Erst als die süd-
lichen Wohnsitze zu enge wurden und die Yölkerwelle stetig mehr
zum Norden drängte, begriff man, daß nicht überall auf der Welt
ewiger Frühling sei. Jetzt muß schon seit mehr denn tausend
Jahren der Chinesenbub in seiner Fibel lernen: „Den Himmel be-
grenzen vier Gegenden: Osten, Westen, Süden, Norden. Das Jahr
hat vier Zeiten, Frühling, Sommer, Herbst und Winter". (San tze
tjing; z. Z. der Sung-Dynastie 420 nach Chr. verfaßt). Somit ent-
spricht, chinesischer Anschauung gemäß, jeder Jahreszeit eine Him-
melsgegend. Dem Osten entsteigt der junge Tag ; er ist das Bild
des Frühlings, des neuen Jahres. Ihre Mittagshöhe erreicht die
Sonne im Süden und dann ist der Tag am wärmsten ; somit hat der
Sommer im Süden seinen Wohnsitz. Der Herbst aber wohnt im
Westen; dorthin rückt allmählich die untergehende Sonne, immer
R. Pieper, „Neue Bündel", 1
— 2 —
sparsamer Licht und Wärme spendend. Und ist sie entschwunden,
hört des Tages Schaffen und Arbeiten auf. Der Herbst bringt des
Sommers Früchte vollends zur Reife und lohnt der Arbeit Schweiß.
Wenn aber die Felder kahl und öde geworden und die Bäume ihres
Blütenmantels beraubt sind, hält der Winter seinen Einzug: ey
kommt aus dem kalten Norden.
Ferner entspricht jeder Jahreszeit ein Ministerium. Der Präsi-
dent des Zeremonienamtes heißt „ Frühlingsminister u (tsch'uin-tj'in)
und sein Ressort „Frühlingsbehörde u (tsch'uin-pu). Der Frühling klei-
det die Natur mit Blättern und Blüten ; was diese aber für die Erde
sind, das bedeutet Anstand und gute Sitte für die Menschen. Der
Geschäftskreis des Kriegsministers wird „ Sommerbehörde u (chia-pu)
benannt; er aber ist der „Soinmermi nister " (chia-tj'in). Wie man
nämlich von Sommerhitze spricht, spricht man auch von der Hitze
des Krieges ; und wie die Früchte des Feldes im Schweiße des Ange-
sichtes eingeheimst werden müssen, darf ein echter Krieger keine
Mühe und Anstrengung scheuen, will er Siegeslorbeeren ernten.
Der Herbst entspricht dem Justizministerium und der Präsident
heißt „Herbstminister" (t'siu-tj'in). Wie nämlich der Herbst die Saat
zur Reife bringt, soll das Ressort des Justizministers der Gerechtig-
keit zu ihrem Rechte verhelfen und die Verbrechen nach Gebühr
bestrafen ; mit anderen Worten : Der Verbrecher soll die Frucht
seiner bösen Tat ernten.
Der Winter endlich versinnbildet das Ministerium für öffent-
liche Arbeiten (kung-pu). Der Präsident derselben wird „Winter-
minister" (tung-tj'in) benannt. Während der anderen Jahreszeiten
hält sich das Volk meistens im Freien, in der Natur auf. Im
Winter aber zieht es sich in die Wohnungen zurück und verbirgt
sich hinter den vier Wänden. Der Behörde nun, welche für
öffentliche Arbeiten zu sorgen hat, liegt es ob, schadhafte Woh-
nungen zu reparieren und neue zu bauen. Zudem ist im Winter
das Volk durch keine Feldarbeiten in Auspruch genommen und hat
Zeit bei Wege-, Kanal- und Dammarbeiten seine Kräfte einzusetzen.
Bekanntlich gibt es aber in China (sowohl in Peking im Großen
als in den Bezirksstädten im Kleinen) in Ganzen sechs Behörden
(liu-pu). Es wäre also noch das Ministerium für Civilämter (li-pu)
und jenes für Finanzwesen in Beziehung zu bringen. Ersteres wird
als des „Himmels-Ressort" (t'ien-pu) bezeichnet. Wie nämlich der
Himmel seinen Einfluß auf die ganze Erde äußert, hat dieses wich-
tige Ministerium (in Peking) welches die Anstellung der höchsten
Beamten überwacht, Einfluß auf das ganze Reich. Die Abteilung
— 3 —
für das Finanzwesen wird „Erdministerium" (ti-pu) benannt. Die
Erde bringt Früchte hervor, daß das Yolk zu leben hat ; das Volk
aber hat Abgaben zu entrichten für den Säckel des Kaisers. Auf-
gabe des Ressorts für die Finanzen ist es, solche einzutreiben.
^ Die chinesische Phantasie kleidet den Frühling in violet. Der
Sommer erscheint in rotem Gewände; die Farbe des Herbstes ist
weiß: der Winter aber hüllt sich in schwarz, die Farbe der Nacht
und des Todes. Freilich schneit es in China verhältnismäßig nur
sehr selten, und ist die Grundfarbe des Winters fahl und grau.
Zudem hat der Winter ja im „schwarzen Norden u seinen Wohnsitz,
wohin die Sonne niemals ihren Weg nimmt.
Der Frühling.
„Freu dich des Kreuzes, das am Wege dich grüßet,
Der Linde, die dich schirmt mit breiten Blättern,
Der Lerchenlieder, die vom Himmel schmettern,
Der bunten Blume, die am Bache sprießet".
J. W. Weber.
geblich mahnt der Dichter uns Bewohner des „Blumen-
reiches" zur Freude über Dinge, nach denen hier das Auge
^ umsonst ausluggt. Kein Kreuz grüßt am Wege ; die Linde aber
E$5öjSlffi w iU s i cn hi er nimmer heimisch fühlen. Weit entfernt, ein Dach
zu spannen, hängen die Zweiglein müde hernieder und ehe der Krüppel
zum Baum geworden, stirbt er ab. Vereinzelt läßt die Lerche ihr Früh-
lingslied ertönen, doch will kein schmetternder Jubel der kleinen
Brust entquillen. Einen Bach aber, an dem bunte Blumen sprießen,
sucht der freundliche Wanderer vergebens im „blumigen Reiche",
es sei denn, du pilgertest in die Berge oder fändest neue Gefilde.
Aber trotzdem ist auch in China der Frühling ein gern gesehener
Gast, so zwar, daß ihn schon sehr früh die Spitzen der Regierung
abholen müssen, nämlich am 5. Februar, also zu einer Zeit, da bei
uns daheim der Winter noch fest im Sattel sitzt. Er kommt von
Osten her und als sein Genius gilt der „grüne Kaiser " (Fuhi). Als
Hauptsymbol erscheint bei dieser Feierlichkeit der „Frühlingsochse".
Überhaupt hat der „gehörnte Genosse" für den ackerbautreibenden
Bauer mehr Interesse als Pferd und Esel. Bauer und Ochs haben
es während des Winters gemütlich gehabt, beide haben das süße
Nichtstun gepflegt; jetzt heißt es wieder auf der Bildfläche erschei-
nen, jetzt muß wieder gearbeitet und geschwitzt werden.
— 4 —
In China, wo von Alters her der Bauer mehr gilt als Kauf-
mann und Handwerker, wird er als jene Persönlichkeit betrachtet,
„von der die Allgemeinheit zehrt a . Dieser Gedanke kommt dadurch
zum Ausdruck, daß der Frühlingsochse, nachdem man ihn mit Kom-
plimenten bedacht hat, zerschlagen wird. Das Innere ist angefüllt
mit eßbaren Sachen, um die sich dann die Zuschauer balgen. Wer
ein Stück erhascht, hebt es sorgfältig auf als Talisman, der ihn das
Jahr hindurch beschützen soll.
Tags vor der Ochsenzeremonie kommt der Frühlingsherold
angeritten, als Mandarin verkleidet. Schnurstracks nimmt er seinen
Weg in die Tribunale der hohen Beamten und ruft mit lauter
Stimme: „Kunde! Kunde! Kunde! einen neuen Frühling kündige ich
an!" Darauf erhält er eine Belohnung. Nachdem er Kehrt gemacht
und einige Schritte weit geritten ist, schwenkt er nochmals um und
wünscht dem Beamten eine höhere Stelle und ein fetteres Einkom-
men, worauf dieser eine zweite und dritte Belohnung zahlt. Der
Frühlingsochse wechselt alljährlich seine Farbe. Je nachdem er
in schwarzer, weißer oder roter Farbe erscheint, weiß das Yolk,
wie das kommende Jahr sich gestalten wird. Ein schwarzer Ochs
zeigt Trockenheit an, während der rote Überschwemmung im Ge-
folge hat. Freilich bedeutet die schwarze Farbe Wasser und die
rote Trockenheit (Feuer), aber der Ochs ist gerade so verkehrten
Sinnes wie sein Treiber Jao-ma, der immer das Gegenteil von dem
tut, was man ihm befohlen. (U. Seite 256). Die Sitte des Frühlings-
abholens soll nach dem Liking aus der Zeit der Tschoudynastie
(1122 — 255 v. Chr.) stammen, also ins hohe Altertum hinüberreichen.
Am Ende der ersten Hälfte des Frühlings, dem 5. März, feiert
man das Erwachen der Insekten. Allerdings wagen sich an der
Südseite von Häusern und Wällen in der warmen Mittagssonne schon
einige Fliegen und Mücken heraus, im übrigen ist es aber um diese
Zeit noch recht empfindlich kalt. Für den Imker gilt dieser Tag
als Honigernte. Mag es stürmen oder regnen, heute muß „der Bien"
daran glauben ; unbarmherzig wird ihm genommen, was er im Win-
ter übrig gelassen. Und das ist nach der chinesischen Methode oft
recht viel, obschon der chinesische Imker die Bienenwirtschaft nicht
„rationell u betreibt.
Auch der Chinese verbindet mit dem Frühling den Begriff
des Schönen und Angenehmen. Statt eines „glückseligen neuen
Jahres" wünscht er „neuen Frühling, neue Freude". Und doch
entbehrt der chinesische Frühling in der Regel des lieblichen Rei-
zes, den uns daheim der Lenz bringt. Statt Blütenstaub bringt er
— 5 —
Staub aus dem Norden, ganze Wolken, die bisweilen selbst die
Sonne verdunkeln, einen Staub der in die entlegensten Winkel von
Nase und Ohren dringt, auch wenn wir im Zimmer sitzen. Die
Singvögelwelt vertritt Herr Spatz, der im Frühling sein freches
Geschrei noch lauter zum Besten gibt und sich mit seinen Genossen
herumbalgt, wenn es sich um die Wahl einer Sommergefährtin han-
delt oder um die Gründung eines Heims. Kein Schneeglöcklein
läutet den chinesischen Frühling ein, kein Veilchen spendet süßen Duft
im verborgenen Heckengrün. Der gewöhnliche Mann hat übrigens
auch wenig Sinn für Vogelkonzert und Blumen duft, seine Sorgen
sind auf den Erwerb gerichtet. Wer aber Zeit und Geld genug
hat und die Annehmlichkeiten des Frühlings genießen will, hält
sich vor allem einen Vogel im Käfig, den er mit sich spazieren führt
ins Feld, und an dessen Gesang er sich ergötzt. Das Fenster wird
mit Frühlingsblumen belebt oder durch einige Rüben, die darin auf-
gehängt sind. Diese entwickeln sich mit der Zeit zu wahren Wunder-
gebilden, wie sie unsere Kunstgärtner daheim noch nicht erfunden.
Die Rübe wird nämlich in der Mitte durchgeschnitten und dann
ausgehöhlt. In diese Höhlung schüttet man Wasser, das öfter er-
neuert werden muß. Das nach unten hängende Kopfende schlägt
aus, bekommt Blätter und Blüthen, die nach oben streben und
somit die Rübe überdecken. Auch werden noch einige Knoblauch-
knollen in das Wasser gelegt, die gleichfalls treiben, so das aus
dem Ganzen ein ebenso zierliches wie merkwürdiges Gebilde entsteht.
Der bezopften Dichterphantasie bot der Frühling von jeher
nicht weniger Motive blütenreicher Gedanken als anderswo: Ein
Schüler, dessen Lehrer ein vortrefflicher Mann ist, wird vom Früh-
lingswinde umsäuselt. — Wer gutes tut, läßt überall Frühlingsspu-
ren zurück. — Eine gut besetzte Tafel nennt man Frühlingsmahlzeit
Spricht man von Frühlingswinden, so versteht man darunter freu-
dige Ereignisse. — Wer sich mit Heiratsgedanken abgibt, dem liegt
der Frühling im Magen. — Wer ein freundliches Gesicht macht,
setzt die Frühlingsmiene auf. — Jünglingsjahre werden als die Früh-
lingsjahre des Lebens bezeichnet, und will man wissen, wie alt ein
junger Mann sei, so fragt man nach der Zahl seiner Frühlinge.
Als Probe aber, wie der chinesische Poet den Frühling
beschreibt, mögen einige Zeilen aus „dem Liede vom Wunder-
knaben" (Schen-tung sehe) dienen.
„Aufgeweckt werden die Erdadern durch den milden Früh-
lingshauch; saftiges Grün erneuert die Gegend, soweit das Auge
reicht. Ein Aprikosenzweig bricht die Kälte des letzten Winter-
— 6 —
monates, das ganze Naturgebilde gestaltet sich zum neuen Frühling.
Des Weidenbaumes Farbenpracht strahlt aus dem Kleide grünlich
wieder; die Pfirsichblüte macht den Wein rötlich glänzen. In der
kaiserlichen Metropole gehen die Würdenträger lustwandeln und
berauschen sich täglich an Frühlingslüften. Reizend ist der Lenz
zur Zeit des «klaren Lichtes* (5. April), es deckt ihn ein arzur-
ner Himmel mit buntdurchwirkten F ranzen. Warum ergießen
sich Jahr für Jahr um diese Zeit Regenschauer in so mächtigen
Fluten?*
Unter bejahrten Leuten und Schwindsüchtigen räumt auch
hier zu Lande der Frühling auf. Das stärkere Geschlecht aber soll
eher daran glauben müssen als das schwache. Ein Sprichwort
besagt, daß Männer den Frühlingsanfang (5. Februar) fürchten, die
Frauen aberdas „Erwachen der Insekten" (5. März).
Chinesische Wetterregeln.
„Brüllt der Tiger in den Klüften
Saust der Sturmwind durch das Tal
Tanzt der Draeho in den Lüften
Rollt daher der Donnerschwall ! tt
(Dichter Jang-fang>.
der chinesische Bauer hat seine Wetterregeln und
^krittischen Tage", die im allgemeinen wohl nicht weniger
zutreffend sind, als wie sie der hundertjährige Kalender
rhersagt oder unser Wetterprophet Falb. Recht gewissen-
haft richtet man sich nach diesen Kegeln zumal bei der Aussaat
auf dem Felde oder zur Zeit der Ernte, und nicht minder wenn
man auf Reisen gehen will oder wenn es sich um eine Heirat
handelt.
Morgenrot ist ein Yorbote von Regen gerade wie daheim :
„Wenn sich der Morgen kleidet in Rot — Liegt am Abend
der Hanf im Kot."
Abendrot aber wird als Verkünder von gutem AVetter begrüßt :
„Wenn Feuerwolken am Abende ziehen — werden am näch-
sten Tage die Leute vor Hitze vergehen."
Eine andere Regel hat den nämlichen Sinn:
„Strahlt Abendrot, darfst du einen tausend Li langen Weg wagen
— Beim Morgendrot aber hloib zu Haine. u
— 7 —
Besondere Aufmerksamkeit schenkt man der Morgensonne und
beobachtet, was sie für ein Gesicht macht ; es wird daraus geschlossen,
wie der kommende Tag sich benimmt:
„Die Frühsonne mit einem Mondgesicht — Läßt den wilden
Nord frei toben. "
„In der Frühe habe Acht auf den Südost — Gegen Abend
nimm den Nordwest in Augenschein. "
„Erwacht die Sonne früh am Morgen, wäscht der Eegen dir
den Kopf. — Kommt sie aber erst später hervor, stirbt vor Hitze
der Kranich. "
„Wenn die Sonne mit einem Ohr emporsteigt, gibt es Wind.
— Hat sie aber zwei Ohren, steht Regen in Aussicht. "
„Später Regen setzt während der Nacht nicht aus ; — Beim
Morgendämmern hört er aber von selber auf."
„Ostwind in der Früh, zieht Regen herab."
„Der Südwind geht dem Regen entgegen, gleichwie die eigene
Mutter ihr Mädchen abholt."
„Wenn sich Abends der Westwind nach sieben noch nicht
legt — Bläst er die ganze Nacht hindurch."
„Geht der Südwind über den Mittag hinaus, — kommt er auch
am Abend nicht zur Ruhe."
„Zu Sommeranfang erstirbt der Wind ; bleibt er aber am Leben,
dann faucht er noch vierzig Tage lang."
„Bringt der Herbst keinen kalten Wind, zieht der Winter
ohne Schnee vorbei."
„Viel Frülingswind läßt auf einen nassen Herbst schließen".
„Dichter Frühlingsnebel macht den Sommer heiß."
„Hängt der Mond wie ein Bogen, gibts wenig Regen aber
viel Wind. — Sieht er aus wie ein Unterziegel auf dem Dach,
mach dich auf Regen gefaßt."
„Ist um den Mond ein geschlossener Kreis gelegt, gibt es
Nebel. Hat der Kreis aber eine Öffnung, ist Regen zu erwarten."
Als weitere Wetterpropheten gelten Wolken und Regenbogen :
„Gehen die Wolken zum Süden, gibts anhaltender Regen.
— Gehen sie nach Norden, kommt nur ein Schauer nieder. — Zie-
hen die Wolken gen Osten, ist ein Sturm im Gefolge. Ziehen sie
zum Westen, rieselt ständig feiner Nebel nieder" (wörtlich: "legen
die Schäfer ihren Blättermantel an zum Schutze gegen den Regen").
„Ein Regenbogen im Osten bedeutet Wind. Ein Bogen im We-
sten bringt Regen. Erscheint aber ein Regenbogen im Süden, steht
eine Teurung bevor" (wörtlich: „dann werden die Kinder verkauft").
- 8 —
„Ein Regenbogen im Osten gibt Gewitter; ein Bogen im Westen
bringt Nässe; der östliche Bogen deutet auf Messer hin und Soldaten;
der nördliche aber bringt Frieden ins Land."
„Ein halber Regenbogen am Abende läßt das AVetter sich
wechseln; ein halber Bogen in der Frühe bringt höchstens Wind
herbei; aber keinen Regen."
Auch der Reiher soll „anderes Wetter - in den Knochen fühlen
und aus der Zeit, wenn er sich hören läßt, schließt man, welcher
Witterungwechsel im Anzüge steht:
„Schreit der Reiher in der Frühe, gibt's bewölkter Himmel. —
Ruft er am Abend, ist der nächste Tag ein klarer. — Fängt er
nach Mitternacht zu schreien an gibt es Regen, bevor es noch Tag
geworden. "
Von den übrigen Tieren sind nur wenige als Wetterpropheten
bekannt, nämlich die Frösche, Ameisen und der Hund. „Quaken
die Frösche gibt es Regen, ebenso wenn die Ameisen sich einen
Turm bauen. Wenn ein Hund aber nießen muß, wird der nächste
Tag ein nebliger sein."
„Wenn die Flußschweine über den Himmelstrom setzen (££ j|f
JA fif) gibt es Regen" (d. h. wenn während der Nacht schwarze
Wolken, die das Aussehen von Schweinen haben, über die Milchstraße
ziehen).
Desgleichen, wenn der schwarze Drache am Himmelsstrome
einen Damm aufwirft (J| f| ff Jg) (wenn sich langgestreifte Wolken
in der Nähe der Milchstraße aufhalten).
Endlich zieht man im gewöhnlichen Leben die kritischen Tage
und Monate noch besonders zu Rate.
„Der Wanderer habe Acht zumal auf den 3. u. 9. Monat".
In diesen zwei Monaten schlägt die Witterung oft unerwartet
schnell um, und wer dann nicht auf der Hut ist, kann sich leicht
eine Erkältung zuziehen.
„Soll guter Weizen eingeheimst werden, muß es im dritten
Monate regnen und überdies noch im zweiten."
„Führt sich der Sommer (5. Mai) ein mit Wind, blüht nach
18 Tagen der Fischer Geschäft", (gibt es eine Überschwemmung).
„Wenn am Erntefeste (15. 8.) Wolken den Mond bedecken,
— wird das Laternenfest (15. 1.) im Schnee gefeiert."
„Trockenheit im 5. Monat ist mit Geld nicht zu bezahlen".
„Wenn im 6. Monate der Hummel stets bewölkt ist, gibt es
satt zu essen."
„Vom 9. im 9. hoffe bis zum 13.; wenns am 13. nicht regnet
gibts einen trockenen Winter. u
„Wenn am 1. im 10. Monate der Nord bläst — Fordern die
Pelzverkäufer hohe Preise u (wörtlich: dann spannen sie einen straf-
fen Bogen).
Auch dem 9. im 9. Monate schenken die Pelzverkäufer be-
sondere Aufmerksamkeit. Ist der Himmel an diesem Tage bewölkt,
dann machen sie gute Geschäfte. Zeigt das Wetter ein freundliches
Gesicht, ist das Krämervolk weniger rosig gelaunt ; denn nun ist
oin gelinder Winter zu erwarten in dem mancher auf ein Pelzkleid
verzichten wird.
„Herbstnebel hat kalten Wind im Gefolge ; Winternebel führt
Schnee herbei.
Frühlingsnebel gibt ständig Kegen; Sommernebel läßt die
Hitze entbrennen. u
Als ein schlimmes Zeichen gilt es, wenn in ein Jahr zwei
Frühlinge fallen.
„Gibt es in einem Jahre ein doppelter Frühling (im chinesischen
Kalender, der eine andere Zeitrechnung einhält als der unsrige, er-
eignet sich das zuweilen), — werden die Bohnen teurer wie Gold".
Der chinesische Bauer hält auch darauf, daß es zur rechten
Zeit sommert und wintert, d. h. daß Kälte und Hitze in gleichem
Maße abwechseln.
„Zur Zeit wenn es kalt sein soll und es wird nicht kalt, steht
ein schlechtes Jahr bevor, (oder die Menschen werden krank. u )
„Zur Zeit wo es heiß sein soll und die Hitze bleibt aus, setzt
das Getreide keine Ähren an."
Tugend und gute Sitten sollen auf die Witterung und somit
auf das Wohlergehen des Volkes einen sehr großen Einfluß haben.
Laster der Regenten aber sollen Unwetter und Elend über das Land
bringen. Im Schu-tjing IY. 4. ist darüber zu lesen:
„Anstand schenkt Regen zur rechten Zeit; gute Regierung
stimmt heiteres Wetter; kluge Verwaltung gibt die nötige Hitze
und wo ein Heiliger ist, fehlt es nicht am rechten" Winde."
„Wenn aber Laster herrscht, regnet es beständig; leichtfer-
tiges Betragen hat Dürre im Gefolge und allzugroßer Eifer erzeugt
ständige Kälte ; Selbstverblendung endlich, läßt den Wind nicht zur
Ruhe kommen."
— 10 —
Der Sommer.
„A.uf luftigen Terassen, nachdem das Abendrot
verglüht und die weiten Hallen geöffnet, genießt
man die frische Abendluft. Der glänzende Mond
versilbert Türen und Fenster. Woher denn dieser
Wohlgeruch — ausgehaucht von Wasserkastanien
und Seerosen ? a
(Schen-tung sehe).
Bg£ chinesische Sommer hält seinen Einzug zu Anfang unseres
Wonnemonats (5. Mai), wo der Frühling daheim erst so
iJBSBSÜ B rec h* beginnt Knospen zu öffnen und Blüten zu streuen.
&i&V&v ^ m diese Zeit sind hierzulande die zarten Frühlingskinder
längst von den Bäumen verjagt, bei dem Frühlingsobste hat die
Frucht sogar schon eine ziemliche Dicke erreicht. Nur der knorrige
Zisyphus läßt sich lange von der Sonne bescheinen, ehe er aufzu-
atmen beginnt. Erst ganz allmählich zeigen sich zarte Blütenspitzen;
wenn aber die unscheinbare Blüte ihr Aroma verbreitet, ist es fast
Mitte Sommer geworden. Der Baum hat das Eigentümliche, daß
die Früchte an eigenen Zweiglein sitzen, die jeden Herbst mitsamt
den Blättern abfallen.
Auch die Felder bekommen allmählich ein sommerliches Aus-
sehen. Weizen und Gerste recken die Ähren empor und der Mohn
spreizt grellfarbige, zum Himmel gekehrte Krinolinen. Die Herbst-
früchte werden bestellt, falls der Boden genug Feuchtigkeit hat,
sonst harrt man auf den Regen, und der läßt um diese Zeit nicht
selten lange auf sich warten. Wenn sich dann aber einmal die
Schleusen des Himmels geöffnet haben, sind in kurzer Zeit Tümpel
und Teiche angefüllt, die Bächlein verwandeln sich in Flüsse und
das Feld ist durch und durch getränkt. Dann beginnt die Zeit des
Schaffens und der Sorgen, wie auch die Natur emsig schafft, und
es muß für den Winter mitgearbeitet werden, falls man die Folgen
seiner Trägheit nicht zu spät bereuen will. Die Sommerzeit gilt
deshalb als die „Man sehe", die viel beschäftigte Zeit. „Die eine
Hälfte im Schweiße des Angesichtes, die andere auf der faulen
Haut",*) sagt ein Sprichwort, und teilt damit das Jahr in zwei
entsprechende Abschnitte, von denen der zweite am willkommensten
ist. Nichtsdestoweniger läßt man sich doch auch jetzt die Arbeit
nicht verdrießen.
*; Tschuang-tja-jen paen nien sin-k'u, paen nien chien.
— 11 —
Zu Neujahr kommen Bilder in den Handel, auf welchen zehn
Geschäfte der Männer und zehn Arbeiten der Frauen dargestellt
sind. Die Geschäfte des Mannes beziehen sich auf die Bestellung
seines Ackers und das Einheimsen der Früchte. Die Frau hat im
Sommer für die Winterkleidung zu sorgen, und deshalb sehen wir
sie auf dem Bilde spinnen, haspeln, weben, nähen u.s.w. Durch
diese Darstellungen soll das Volk zum fleißigen Arbeiten angespornt
werden. Zudem mahnt um diese Zeit noch eine Kuckucksart zu
unverdrossenem Schaffen, indem der Vogel von morgens früh bis
abends spät ruft: Kuan kuöl tuo tschu, kuan kuöl tuo tschu, „Hage-
stolz, fleißig an die Hacke". Vom guten Behacken der Saaten hängt
nämlich zum größten Teile der Ertrag ab. Das Korn wird mit
einer Maschine auf Reihen gesät; sobald es dann einen Fingerlang
herausgewachsen ist wird alles überflüssige fortgehackt; man läßt
nur die kräftigsten Sprossen stehen und lockert den Boden rund
um die Wurzel auf. Gewöhnlich wird jedes Stück zwei- bis drei-
mal mit der Hacke durchwühlt und ausgejätet. Um diese Zeit
sind dann die Arbeitslöhne recht hoch; Hagestolze und Bettler begeben
sich auf die Märkte und die Bauern holen sich von dort die nötigen
Arbeitskräfte.
Im Sommer herrscht nicht nur „ Hemdsärmelfreiheit ", sondern
jedermann darf sich en neglige erblicken lassen und über die Straße
gehen „wie ein Bettler", d. h. nur mit der Hose bekleidet. Sprich-
wörtlich drückt der Chinese das aus, indem er sagt: „Der Winter
wird verlacht, den Sommer verlacht niemand". Deshalb macht es
sich denn* auch die bezopfte Hautevolee überaus gemütlich und
findet absolut nichts darin, sich bei der Mahlzeit bis aufs Hemd aus-
zuziehen ; höchstens daß man den Gast animiert, ein gleiches zu tun.
Und erst die chinesische Jugend tut es den Fröschen gleich, indem
sie den Sommer teils zu Wasser teils zu Lande verlebt.
Die Amtskleider der hohen Herren aber, wenn sie in Gala zu
repräsentieren haben, sind überaus fadenscheinig. Da gibt es die
reinen Spinnengewebe in Seide und Hanf, welche jeden Luftzug
ungehindert durchlassen. Zudem werden eigene Schwitzjacken an-
gefertigt aus Bambusstäbchen, Perlen oder Knotengeflecht. Man
trägt dieselben auf der Haut und sie sollen verhindern, daß die an-
dern Kleider nicht zu nahe aufliegen und vom Schweiße durchnäßt
werden. Wenn in den Tribunalen die Sommeruniform zu wechseln
ist, wird alljährlich im Staatskalender bekannt gegeben und an
diesem Tage muß das Personal halt im sommerlichen Anzüge erschei-
nen, mag der Himmel auch ein winterliches Gesicht dazu machen.
— 12 —
Kleinverkäufer ziehen zur Zeit der „großen Wärme" in Städten
und sogar auf dem platten Lande umher und verkaufen „ gefro-
renes ", nicht in Gestalt von Limonade oder Zuckerwasser sondern
sie bieten Eis feil, so wie die Natur es geschaffen hat. Ein Stück
von der Größe einer Wallnuß kostet l j 2 Pfennig. Nicht selten ist ein
Hähnchen Gras oder ein loses Blättchen hineingefroren, weil das
Eis fast immer aus Teichen stammt ; aber trotzdem ist es gut kalt im
Munde und das ist die Hauptsache. Was nicht hineingehört, spuckt
man aus, das eisiche Wasser aber kühlt den Magen. Auch verkauft
der „Wintermann u da3 bereits geschmolzene Eis und zwar kostet
jeder „ Schluck u davon 7 4 Pfennig. Einen großen Schluck zu tun
ist nicht möglich, denn das kalte Wasser zieht den Mund zusammen.
Was vom Schluck in der Tasse übrig bleibt, wandert wieder in den
Kübel zu fernerem Gebrauch. Kleinlich wäre es in den Augen der
Chinesen sich an so etwas zu ekeln. In Peking hat das Ministerium
für öffentliche Arbeiten dafür zu sorgen, daß während der heißen
Zeit in den Haupttribunalen genügend Eis vorhanden ist. Ein
großer, mit Blech ausgeschlagener Kasten, der in Mitte der
Amtsgebäude steht, nimmt dasselbe auf, und jeder, dem es zu heiß
wird, kann sich daran „ erkälten u .
Ein tüchtiger aber stenger Minister wird, nebenbei, bemerkt,
mit der Sommersonne verglichen, die zwar brennt, aber auch reift.
In früheren Jahren, als noch eine Anzahl Elefanten zum kai-
serlichen Hofstaate in Peking gehörte, wurden die Tiere am 6. im
sechsten Monate im Stadtgraben gewaschen und gebadet und an
dieser Kühlung hatten sie genug für das ganze Jahr. Am nämlichen
Tage ist in manchen Pagoden „Bücherlüftung" (lian-tjing), was um
so notwendiger scheint, je weniger die Bonzen ihre Bücher im Laufe
der Jahres zur Hand nehmen.
Der Fächer ist die Hauptwaffe, mit der man dem glühenden
Sommer zu Leibe geht und deßhalb spaziert derselbe von der Rechten
in die Linke und muß Wind machen beim Teetrinken und Rauchen,
ja sogar während der Mahlzeit, einerlei, ob man schwitzt oder
nicht. Das Fächeln der heißen Luft auf die schweißlose Haut
bewirkt das Gefühl als ob uns eine mit Flaum besezte Hand sanft
streichele. Ist die Haut aber mit Schweiß bedeckt verursacht das
Fächern eine angenehme Kühlung. Mit dem Fächer in der Hand
legt sich der Hitzegeplagte zur Ruhe; der arme Windmacher aber
kommt erst zur Ruhe, wenn er der Hand des Entschlummerten
in unbewachtem Augenblicke entgleitet. Will man jemanden ein
— 13 —
Kombliment machen, so vergleicht man ihn mit einem Sommerfä-
cher: „Der Fächer im Sommer hat ein großes Gesicht. u Und als
ein besonderer Liebesdienst und ein Freundschaftszeichen wird es
betrachtet, wenn man im Sommer einem Gaste beim Bewillkommen
sogleich seinen Fächer anbietet. Sagt doch das Sprüchwort: „Im
sechsten Monat wird kein Fächer verliehen, u Ein anderer in der
Glühhitze des Sommers viel beanspruchter Freund ist die Teekanne.
Je heißer das goldene Naß hinuntergeschlürft wird, um so bekömm-
licher ist es ; dann wird die Hitze von außen neutralisiert, die Schweiß-
poren öffnen sich und „frische Luft umsäuselt das Haupt. u
Hoch im Sommer, wenn so ziemlich alle Sinne unter den
Beschwerden der Hundstagshitze zu leiden haben, bleiben auch die
Ohren nicht verschont. Die Zikaden sind es, welche Konzerte ver-
anstalten, die ein feinbenervtes Menschenkind rein aus der Haut
bringen könnten. Wer zum ersten Male in das Bereich dieser Ohren-
zerreißer gelangt, meint, in der Nähe müsse eine Fabrik sein,
worin hunderte von Instrumenten gewetzt oder eine Unzahl von
Töpfen mit scharfen Messerklingen ausgekratzt würden. Das Ge-
schrill wirkt geradezu betäubend und schneidend, und ich begreife
es sehr wohl, wie ein Europäer aus lauter Verzweiflung einstmals
zwischen die' Zweige eines Baumes schoß. Derselbe stand in der
Nähe seiner Wohnung, und im Laube desselben machten die sonnen-
frohen „ Götterlieblinge u ihre Musik. Wer an so etwas nicht gewöhnt
ist, kann unmöglich seine Gedanken zusammenhalten, und jede
Geistesarbeit ist da vergeblich. Gewiß haben die Zikaden an der
nervenstarken Erziehung der Chinesen auch ihren Anteil und deshalb
sind ihnen die Bezopften durchaus nicht abhold. Zumal stellt ihnen
die Jugend nach ; allerdings nicht des Gesanges halber als vielmehr,
weil sie für deren Gaumen ein Leckerbissen sind.
Zu der Hitzeplage am Tage kommen die Plagegeister während
der Nacht. Und da sind es zumal die Moskitos, welche dem Ruhe-
bedürftigen arg zusetzen. Wer es sich leisten kann, kauft sich ein
Mückennetz, aber die meisten können sich diesen „ Luxus u nicht
erlauben. Ist in der Nähe ein Tümpel dann machen noch die Frö-
sche ihr Konzert und vertreiben den Schlaf vollends von den müden
Augen. Solchen Plagen gegenüber halten nur chinesische Nerven
und eine Chinesenhaut stand. Freilich werden beide nicht ange-
boren, sondern im Laufe der Jahre hineingestählt und angedrillt.
Die Natur selber ist dabei die beste Lehrmeisterin. Wer ihren
Einflüssen nicht standhält, unterliegt einfach, d. h. er stirbt; die
lebenskräftige „ Rasse u aber hält sich oben. Sieht man wie die kleinen
— 14 —
Knirpse im Sommer von den heißen Sonnenstrahlen ohne irgend
welchen Schutz stundenlang durchgerbt worden, begreift man, wie sie
in späteren Jahren so widerstandsfähig sind. Wer übrigens in der Xacht
nicht gut geschlafen hat, sucht bei Tage das Versäumte nachzuholen.
Im Schatten der Bäume, einerlei ob an der Straße oder an öffentlichen
Plätzen sind zu jeder Stunde solche Tagesschläfer anzutreffen und
sie ruhen dort gerade so unbesorgt und friedlich, wie daheim im
Bette. Überhaupt bilden die „kühlen Plätze" (Liank'uä tifan) das
Stelldichein für Frauen und Kinder, und der Häupter des Dorfes,
welche dort ihre Zeit verträumen, verplaudern oder verschlafen.
Frauen nehmen meistens etwas Handarbeit mit oder führen eine
Henne mit Küchlein spazieren. Die kühlen Plätze sind gewöhnlich
etwas hoch gelegen und von einigen Bäumen umschattet. Wer einen
Obstgarten besitzt, macht es sich dort unter den Bäumen gemütlich
und bewacht zugleich die Früchte gegen die Gelüste der Buben.
Wer sein Feld mit Kürbis oder Melonen bepflanzt hat, errichtet
in der Mitte desselben eine Hütte, wo er mit Kind und Kegel
während des Sommers wohnt. Bei den alten Juden muß es früher
wohl ähnlich so gewesen sein; spricht ja schon der Prophet (1s. 1.
8) von einer Hütte im Kürbisacker und vergleicht damit die Toch-
ter Sion.
In den Städten, wo an den Hauptstraßen meistens für Bäume
kein Platz geblieben ist, werden auf Stangengerüsten Mattendächer
ausgebreitet, welche für das Innere der Häuser ungemein kühlend
wirken. Kein Sonnenstrahl findet dort Einlaß, weder auf die Straße
noch an die Wände der Häuser. Oberhaupt gilt es als Prinzip,
„nahe am Boden im Schatten, dort ist es am kühlsten' 4 . „Besteige
im sechsten Monat keinen Turm (mehrstöckiges Haus) sagt ein
Sprüchwort, noch wage dich auf ein Schiff." In den höheren Re-
gionen ist Glühluft; die Etagen zur platten Erde aber ziehen noch
Kühlung vom Boden. Das Reisen ist zu vermeiden; auf dem Meere
kann dich plötzlich eine Taifun überraschen, die Regenzeit aber
macht das Reisen zu Lande kaum möglich wegen Bodenlosigkeit
der Wege.
CNQJ^/O
— 15 —
Die Hundstage.
Die Hundstage im Keiche der Mitte beginnen mit dem 19.
Juli und finden am 19. August ihr Ende. Wie sich die Chinesen
über die „kalte Zone" durch neun mal neun Abschnitte hinwegzuhof-
fen wissen, so wird auch die Zeit des Schwitzens in drei verschie-
dene Perioden abgeteilt: in die Zeit der mäßigen Wärme (*J> J§
19. Juli — 29. Juli), wo es sich noch ertragen läßt, in jene der
großen Wärme (j$ H : 29. Juli — 9. [August), die zum Glück nur
zehn Tage dauert, und in jene der absteigenden Wärme (^Jc % :
9. August — 19. August), wo sie glücklich überstanden ist. In den
letzten Abschnitt fällt bereits Herbstanfang (jjfc ^ 17. August).
Die chinesischen Hundstage werden fu tien ({£ 5c) genannt.
Der Ausdruck soll uralt und von einem Herzog Tei aus der Tsin-
Dynastie (909 — 246) zuerst gebraucht worden sein. Fragt man aber
einen Gelehrten, was die Bezeichnung fu tien zu bedeuten hat, so
wird er höchst wahrscheinlich lächelnd sein weises Haupt schütteln
und tief bedauern, keine Aufklärung geben zu können. „Man sagt
halt so und tut es seit uralter Zeit." Aber trotzdem gibt es eine
Erklärung und zwar eine doppelte.
Die eine sagt, fu tien bedeute so viel als die Tage der Zu-
rückgezogenheit. Man soll sich während der heißen Zeit in die in-
neren Gemächer zurückziehen, nicht viel ausgehen und vor allem das
Reisen vermeiden. Mit dieser Erklärung deckt sich das chinesische
Sprüchwort: liu, la, pu tschu men: Im 6. und 12. Monat bleibe daheim.
Tiefsinniger ist eine andere Yersion. Die Chinesen kennen
fünf Elemente, von denen das Feuer (Jfc huo) den Sommer bezeich-
net, das Metall (^ tjin) aber den Herbst. Das Metall muß trotz
seiner Härte dem Feuer weichen, weil es sonst zum Schmelzen
gebracht wird. Deshalb kann der Herbst nicht die Herrschaft begin-
nen, es sei denn der Sommer trete sie freiwillig ab.
Übrigens ist das Zeichen fu zusammengesetzt aus Mensch und
Hund ({£ fu = \ Mensch, Ji Hund), und somit hat auch an den
chinesischen Hundstagen der Hund seinen Anteil.
Um uns die Hitze der Hundstage zu veranschaulichen sagt man
sprichwörtlich : „Der Ochs aus dem Reiche U schnauft beim Anblick
des Mondes.*) Bei Tage hat ihm die Sonne derart zugesetzt, daß
er auch während der Nacht, beim hellen Scheine des Mondes, daran
dachte und geängstigt zu schnaufen anfing.
*TÄ * « %
— 16 —
Der Ursprung der Hacke.
Dem Heiden ist es freilich unbekannt, daß die Erde verfluch!
wurde uin der Sünde willen. Aber daß sie ohne Bebauung nui
Disteln und Dornen trägt, weiß jeder Bauer, und es ist ihm auch
nicht verborgen, daß es einstmals besser gewesen. Im chinesischen
Yolksmunde läuft darüber folgende Legende um:
Vor vielen 1000 Jahren gebrauchte man weder Hacke nocli
Pflug; das Getreide wurde einfach aufs Land gesät und dann wuchs
es bald üppig empor. Aber ein Sprüchlein mußte jeder sagen,
damit die Saat schnell gut gedeihe und reichliche Ernte bringe.
Die Bauern gingen darum jeden Tag einmal über das Land und
sprachen :
i %i is i s §
Tao ssü, miao Amo, di fa chuen :
Es sterbe das Unkraut, es gedeihe die Saat, locker sei die Erde.
Allmählich aber wurde ihnen das Gehen etwas unbequem, zumal
wenn die Sonne heiß schien, und sie fanden, daß es gemütlichei
sei, im Schatten eines Baumes zu liegen. Das Sprüchlein wird seine
Wirkung auch schon tun, wenn wir es im Liegen sprechen, dach-
ten sie, weshalb sollen wir uns von der heißen Sonne bescheinen
lassen, da es im Schatten doch gar so kühl ist? Sie stellten also
sofort ihren Gang über den Acker ein und suchten dafür einen schat-
tigen Platz auf und sagten ihr Sprüchlein her, während sie auf dein
Rücken lagen. Allmählich aber stellte sich der Schlaf ein und beim
Schlafen ist bekanntlich der Wille nicht immer Herr der Zunge.
Da geschah es dann, daß sie die Worte der Zauberformel verkehrt
stellten und den Himmel baten:
m % m m n « *s
Miao ssii, t'sao huo, di fa kan :
Es sterbe die Saat, das Unkraut gedeihe, trocken sei die Erde.
Und siehe da ! Nur allzubald zeigten sich die Folgen der Trägheit.
Die Ähren ließen betrübt ihre Köpfe hängen, das Unkraut schoß
weit darüber empor und bedeckte bald die gute Saat; die Erde
aber war hart und trocken, wie eine Tenne. Da machten sich die
Bauern bald wieder auf die Beine und gingen über ihre Ackei,
wobei sie das gewohnte Sprüchlein in richtiger Reihenfolge dei
Worte und mit vieler Aufmerksamkeit hersagten. Aber es war zu
spät. Üppig wuchs das Unkraut weiter, und immer härter wurde
die Scholle ; alles Beten und Wünschen war umsonst. Da nahmer
— 17 —
die Bauern ihr Topfmesser 1 ) und begannen damit die Erde zu
lockern und das Unkraut auszujäten. Das aber kostete noch viel
mehr Schweiß, und man wurde zum Erbarmen müde. Verdrießlich
streckten sich einige in den Schatten einer Akazie nieder, die am
Wege stand. Das Messer, mit dem sie die Erde gelockert hatten,
legten sie neben sich. Der Schlaf kam jetzt noch schneller als früher,
weil sie sehr ermattet waren. Sie merkten es nicht einmal, daß
ein Wagen an ihnen vorbeifuhr und ein Rad gerade über das Messer
fortging. Dieses wurde dadurch an der Spitze umgebogen, und
es stellte sich heraus, daß es in dieser Form noch bequemer zu
handhaben sei. Da benützte man sofort nur noch umgebogene
Messer, die Hacke, um das Unkraut auszujäten und den Boden
des Ackers zu lokern.
Die Weizenernte.
jjännfcen die Chinesen ein Hurrah, 2 ) so ging es sicher mit
Hurnih in die Weizenernte. Kein Winzer zieht so wohl-
gemut in seinen Weinberg, wie der chinesische Bauer in
sein Ährenfeld. Freilich „von der Stirne heiß, rinnen muß
der Schweiß," soll der Weizen nicht ausfallen oder vom Felde geraubt
werden. Da heißt es denn sich sputen von morgens früh bis abends
spät und kaum wird die nötige Zeit zum Schlafen gefunden. Aber alle
die Mühe läßt man gerne über sich ergehen. Man kann sich ja jetzt
gütlich tun an Weißbrot und kalter Küche und selbst der Schnaps fehlt
bei manchem nicht. Auch verdient oder sammelt man sich etwas für
die Zukunft und bringt die Weizenernte einigermaßen Linderung
und Erlösung aus den Drangsalen und Hungerkuren des gestrengen
Winters. An der Weizenernte nimmt denn auch in der Regel jeder-
man teil, alt und jung, reich und arm. Die Schulen werden für
diese Zeit geschlossen, und auch der Freund der Wissenschaft ver-
läßt einstweilen seine Bücher, um sich auf dem Felde zu beschäftigen.
Wer keinen Weizen schneidet, geht Weizen sammeln, auch wenn
er dessen nicht bedarf. Sogar das Frauengeschlecht darf sich in der
Weizenernte aus den Häusern aufs freie Feld wagen. Selbst bejahrte
Matronen wollen frische Luft schöpfen und gehen mit ihren Töchtern
*) Das Topfmesser hat eine spartenartige Form und man entfernt damit
die Mahlreste, die sich im Topfe festgesetzt haben.
2 ) Und doch sollen wir besagten „Schlachtruf 4 von den Chinesen (Tataren)
gelernt haben. —
R. Pieper, „Neue Bündel* 4 . 2
— 18 —
Aliren sammeln; das ist eine gute Gelegenheit, Projekte zu machen
für zukünftige Verbindungen, und grade für den Heiratsvermittler
reift in diesen Tagen das beste Korn.
Arme Familien, die selbst keinen Weizen zu schneiden haben,
ziehen schon beizeiten mit den Kindern fort in eine Gegend, wo die
Ernteaussichten besonders günstig sind. Bei uns hier in Süd-Schan-
tung ist es vor allem das Überschwemmungsgebiet des gelben
Flusses, wo alljährlich der beste Weizen wächst und das zur Zeit
der Ernte überflutet wird von einem Menschenstrom. Selbst aus
weiter Ferne kommt man herangepilgert. Die Männer vermieten
sich als Schnitter, Weiber und Kinder aber gehen Ähren sammeln.
Begreiflicherweise kommt es da oft genug zu Reibereien, und nicht
selten wird dem Eigentümer aller Weizen fortgeraubt, weil er den
Sammlern zu wenig gegönnt hat. Ja, schon förmliche Schlachten
sind geliefert worden, weil man sich nicht einigen konnte über den
rechtmäßigen Besitz des Feldes, so daß die Sichel als Schwert
gebraucht wurde und der Mandarin mit seinen Soldaten gegen die
Kämpfer ins Feld ziehen mußte.
Der Weizen reift ungemein schnell, weshalb die ganze Ernte
innerhalb weniger Tage beendet sein muß. Um diese Zeit werden
sehr hohe Löhne gezahlt, und doch fehlt es noch bisweilen an
Schnittern. Wenn sich dann ein Sturm erhebt, werden die Halme
geknickt und das überreife Korn fällt aus den Ähren. Wenn aber
die Regenzeit gar zu früh einsetzt, oder ein starkes Gewitter nieder-
geht, werden die Felder oft überschwemmt; falls der Weizen noch
seine Aehren über Wasser hält, wird er dann ausgerupft.
Die Schnitter bedienen sich einer schmalen, langgestielten
Sichel, und die Arbeit würde jemanden, der nicht daran gewöhnt
ist, recht mühsam vorkommen. Nichtsdestoweniger kann ein tüchti-
ger Schnitter in einem Tage über vier chinesische Morgen zum Falle
bringen. Allerdings stehen die Reihen in der Regel ziemlich weit
auseinander und sind die Halme auch weniger fest und kräftig als
bei uns. Schon Jahrtausende säen die Chinesen ihren Weizen reihen-
förmig mit Maschinen ; das Abernten desselben aber geschieht noch
gerade so wie zur Zeit, als die gute Schwiegertochter Ruth ihre Ähren .
sammelte.
Die Garben werden mit Stricken aus Hirsenstroh gebunden,
oder man verladet das Getreide ungebunden auf die Wägen. Das
Feld muß sofort geräumt werden, und kaum ist die letzte Garbe
verladen, dann stürzen sich die Aehrensammler, welche dasselbe in
dichten Scharen umstehen, darüber her, und in wenigen Minuten ist
— 19 —
auch die letzte Aehre verschwunden. Selbst die Stoppeln bleiben
nicht verschont, sondern werden als Brennmaterial ausgehackt und
gerupft. Es ist nur ein weniges, was der Einzelne bekommt, und
man sucht deshalb auch dort zu rupfen und zu sammeln, wo es
nicht erlaubt ist. Jeder Weizenwagen, der nach Hause gefahren
wird, muß eskortiert werden, weil er sonst unterwegs schon abge-
laden würde. Und auch auf der Tenne ist das vielbegehrte Korn
noch nicht in Sicherheit. Wenn die Tenne nicht mit einer Mauer
umgeben ist, muß sie während der Nacht bewacht werden, denn
auch in der Dunkelheit wird Weizen gesammelt. Wer aber einen
Weizen sammler beleidigt hat, oder aus Geiz das Korn zu rein
geschnitten hat, darf sich darauf gefaßt halten, daß man ihm wäh-
rend der Nacht den roten Hahn in seine Haufen zu setzen sucht.
Jedermann ist deshalb bestrebt, die Tenne möglichst bald rein zu
dreschen; und erst wenn er das goldene Korn im Speicher oder
in den Getreidekörben gesichert weiß, darf er aufatmen und sich
etwas ruhiger zum Schlafe niederlegen. Eecht hart war die Zeit
für ihn; länger als einen Monat mußte er um seinen Weizen in Sorge
leben. Kaum hatte sich etwas Mehlmilch in den Ähren gesammelt,
mußte er ins Feld zur Wache ziehen; denn das arme Volk wartet
nicht mit dem Sammeln, bis der Weizen reif ist, sondern kann ihn
schon gebrauchen, wenn kaum die Blüte abgefallen ist. Die Ähren
werden ausgedrückt und der Saft wird zu Brei gekocht.
Das Dreschen des Weizens geschieht mit Steinwalzen, welche
über die ausgestreuten Halme von Tieren im Kreise gezogen wer-
den. Das Stroh wird infolge dessen sehr zerkleinert und ist nun
als Futter und Brennmaterial mehr tauglich. Will man die Halme
benutzen, müssen die Aehre n vorher abgeschnitten werden. In
einigen Gegenden, z. B. bei uns hier in Kuen-tsch'öng, gebraucht
man die ungedroschenen Weizenhalme besonders um Strohborden
daraus zu flechten. Diese Arbeit, welche hauptsächlich von Frauen
verrichtet wird, brachte früher den armen Leuten ein gutes Verdienst,
in den letzten Jahren ist der Wettbewerb aber bereits derart gewach-
sen, daß sie ihre Strohflechten nur mehr um den halben Preis
verkaufen können.
Das Korn wird von der Spreu gereinigt, indem man es gegen den
Wind wirft; die Spreu ist ein beliebtes Pferde- und Ochsenfutter.
Das zerkleinerte Stroh wird in Haufen gesetzt, die dann oben mit
Erde beschmiert werden, zum Schutze gegen Regen und Feuer. Ehe
der Weizen seinen endgültigen Platz bekommt, muß er noch öfter
an der Sonne gedörrt werden, weil ihn sonst der Kornkäfer frißt.
— 20 —
Gleich nach der Ernte fällt der Preis des Kornes meistern*
um die Hälfte. Jetzt heißt es alte Schulden tilgen, und wer Weizen
geerntet hat, wird von seinen Gläubigern so lange gedrängt, bis
entweder der Weizen alle verkauft oder die Schuld bezahlt ist.
Wer aber sein Geld bei Zeiten auf die hohe Kante gelegt hat,
benutzt diese Gelegenheit, einen guten Vorrat Getreide einzukaufen,
denn nach einigen Monaten hat dasselbe den doppelten Wert. Zu
Neujahr, bei Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeiten, muß ja jeder
„Weiß" essen, auch der Anne, selbst wenn er sich das Geld zum
Kaufen erborgen muß und jetzt den doppelten Preis dafür zu
zahlen hat gegenüber dem, zu welchem er ehemals seinen eigenen
Weizen verkaufte.
Der Reiche freut sich, wenn er sein Korn wohlverwahrt
daheim aufgespeichert und das Stroh in Haufen zusammengebracht
hat. Die Matronen führen wieder ihr Drohnenleben und bewachen
ihre heiratsfähigen Töchter im wohlummauerten Heim. Der Arme
aber, der zum Sammeln ausgegangen ist, zieht jetzt mit seinem
Karren wieder nach Hause. Er hat viel geschafft bei Tag und
Nacht und war nimmer müde, die goldkörnigen Halme zu lesen.
All die Seinen haben fleißig mitgeholfen, selbst die Kleinsten, die
noch nicht laufen konnten, sind auf den Ackern herumgekrochen
und haben Ähren gesucht. Behäbig sind die armen Leute bei
dieser aufreibenden Lebensweise nicht geworden, trotzdem sie besser
gegessen haben, als gewöhnlich, ja sich zu Zeiten sogar eine Knob-
lauchsknolle gegönnt haben. Noch sehen sie aus wie die sieben
teuren Zeiten, womöglich noch ungewaschener als ehedem. Doch
brauchen sie sich keine Sorge zu machen um den Unterhalt der
nächsten Zukunft, weil sie zwei volle Säcke mit nach Hause führen. Sie
haben jetzt genug zu essen bis zur Herbsternte. Der Herbst aber bringt
Sorgho, Bohnen, Hirse und Mais; dann wird von neuem gesammelt
und gestohlen, um das Nötige für den Winter zusammen zu hamstern.
Sommerfäden.
}|p«^r Herbst daheim hat den Altweibersommer im Gefolge. In
0£M f hina ist es gerade so, nur mit dem Unterschiede, daß die
ffi&WM ? s ommerfäden tien sä ^ $$ v Himmelsseide u genannt wer-
&H0\&1i <' en - Selbige sollen der Himmels-Großmutter (3* •# Jj& J&
wany mit tigern ngan) bei ihrer Arbeit entfallen sein. Den ganzen
— 21 —
Sommer hat sie fleißig gearbeitet, um wohlgerüstet in den Winter
zugehen. Jetzt da die Kleider alle bereitet sind, wird der Himmels-
saal ausgefegt und der Seidenabfall fliegt im Himmelsraum umher.
Eine andere Version besagt, die Sommerfäden seien nichts
anderes als die vermoderten Federn unzähliger Vögel, die am 7.
des 7. Monats dem „göttlichen Kuhhirten" (ßp J[[) niu lang) eine
Brücke über den „ Himmelsfluß u (Jiffi tien ho Milchstraße) geschla-
gen haben und dabei zu gründe gegangen sind. Bekanntlich feiert
an diesem Tage besagter Kuhhirt Wiedersehen mit seiner Frau
Gemahlin, der „webenden Maid" (fflLiK tsche nü). Kein Vöglein
soll dann auf dem Erdenrunde zu entdecken sein, mit Ausnahme
jener, die in Käfigen eingeschlossen sind.
Eine dritte Erklärung der Sommerfäden sagt, dieselben rühr-
ten von Vögeln her, die im Fluge nach oben der Sonne zu nahe
gekomnlen und dann verbrannt seien. Wenn sich nämlich ein
Vogel von der Erde zu weit in die Höhe wage, verlasse ihn die
Besinnung ; er vermöge nur mehr die Flügel auseinander zu breiten,
könne sie aber nicht mehr schwingen. Die Luft trage ihn
schließlich in die höchsten Regionen empor, wo er der Sonnenhitze
zum Opfer falle. Die versengten Federn schweben dann allmählich
als „Himmelsseide" zur Erde nieder. Mit dieser Erklärung wäre
ja der Wissenschaft ein Dienst erwiesen, die das Verbleiben der
Vogelleichen nicht recht zu deuten weiß.
Hat die Himinels-Großmutter wacker gesponnen, d. h. fliegen
die Sommerfäden sehr zahlreich umher, so bedeutet das nach chinesi-
scher Auslegung einen fruchtbringenden Herbst im nächsten Jahr.
Übrigens erinnert die Himmels- Großmutter auffallend an Holda, die
Göttin der alten Germanen, welche gleichfalls als sorgsame Mutter
der Natur betrachtet und verehrt wurde. Sie spann und webte
nicht nur den Teppich der Flur — auch die Fäden, welche das
Leben der Sterblichen verknüpft, glitten durch ihre Finger.
Wassermelonenfest in Puoly.
jprudelndcH Quellwasser ist bei uns in China fast ebenso rar
wie Bier und Wein; das Wasser aus dem Brunnen aber
ungekocht zu trinken, ist gefährlich, oder man muß ein
i^jftY^säi gutes Stück Knoblauch dazu essen. Es bleibt also nichts
übrig, als Tee zu trinken oder gekochtes Wasser. Doch um ehrlich
zu sein, muß ich dem Leser verraten, daß uns der gütige Schöpfer
22
auch noch ein anderes Labsal bereitet hat, und zwar gerade dann,
wenn die Natur desselben am meisten bedürftig ist. Das sind die
Wassermelonen, die in der Hitze vortrefflicher und weit bekömmlicher
sind als Bier, Wein, Quellwasser und dergleichen Dinge, wonach
sonst der durstigen Menschheit gelüstet.
Alljährlich führe ich unsere Waisenknaben einmal in ein Melo-
nenfeld, um dort nach Herzenslust zu kosten. Will der Leser im Geiste
den Genuli mitmachen, ist er freundlichst eingeladen. Wir wählen
einen Sonntagnachmittag. Wenn Katechese und Segen beendet
sind, ertönen füuf Schläge des Tamtam, ein Zeichen, daß Appell
ist. Die Knirpse stellen sich in zwei langen Reihen der Größe
nach geordnet auf. Die Altersstufe von 5 bis 15 Jahren ist vertre-
ten. Sobald sie da stehen, darf sich keiner mehr mucksen. Doch
sie wissen, daß diesmal weder revidiert noch inspiziert wird, und
darum strahlt es auf allen Gesichtern. Wie wenn es daheim in die
Waldbeeren geht oder zur Kirmes, ähnlich ist unsere Jugend erfreut,
wenn sie ins Melonenfeld geführt wird.
Wie sie da stehen, gehen sie auch in Reih und Glied, nicht
im Schritt, aber zu zweien und zweien, vorauf die Größeren. Jetzt
darf geplaudert werden; worüber sich das Thema verbreitet ist leicht
zu erraten, natürlich über die Sikua (Wassermelone). Sikua heißt
wörtlich: die westliche Melone oder Melone aus dem Westen. Dem-
entsprechend gibt es auch Tungkua : Melone aus dem Osten; selbst
Süd und Nord ist vertreten in Naeukua, Peikua. Überhaupt zählen
die Chinesen eine ganze Reihe verschiedener Arten von Melonen,
Gurken und Kürbissen auf. Der Sammelname dafür ist Kua. Fra-
gen wir die Jungen, wie viele Sorten von Kua sie kennen, werden
sie uns sicher einige Dutzend zu nennen wissen. Mehrere derselben
haben verschiedene Namen. Auch wissen uns die Kinder über die
Natur und das Aussehen der einzelnen Arten manches Interessante
mitzuteilen. Weshalb die Wassermelone aber Sikua, Melone aus
dem Westen genannt wird, ist auch dem begleitenden Lehrer, der
übrigens einen ' Gelehrtenknopf trägt, ein Rätsel. Er meint, diese
Melonenart entstamme wohl aus Sijan (Europa), da ja das Beste
immer von dort komme, die Sikua aber die Königin aller Kua sei.
Viel Rühmliches wissen die Buben auch über die Tienkua,
die süße Melone, zu berichten. Sie ist vor allem so recht eine
Kinderfrucht und tritt für die chinesischen Kleinen an Stelle der
Erdbeeren und Kirschen ; süß von Geschmack und lieblich duftend,
sagt sie dem jungen Volke vor allem zu. Eine Menge Kosenamen
rühmen ihre guten Eigenschaften : -Die stundenweit Duftende**
— 23 —
(sehe li chiang); „Die im Feuer Gebratene* (huo li siu), eine rote
Abart; „Die mit Kandiszucker Gefüllte" (pei fang kuen); „Ein
Widderhorn voll Honig" ((jang tjüo mi); „Glänzende Laterne"
(töng lou tsui). Das alles sind Bezeichnungen einer und derselben
Melonenart. Aber trotz der Menge wohlklingender Namen fallen
alljährlich viele Kinder ihrem Genüsse zum Opfer. Die Frucht
disponiert zur Malaria, und besonders wer nüchtern davon ißt, muß
es mit Krankheit büßen. Die Zeit der Melonenreife ist deshalb so
recht die Zeit der Ernte für unsere Täufer von Heidenkindern.
Die chinesischen Mütter sind unverzeihlich leichtsinnig in Behand-
lung ihrer Kinder, und täglich kann man sehen, wie junge Wesen,
die kaum ein Jahr alt sind, den ganzen lieben Tag an einem Stück
Süßmelone lutschen.
Nicht weniger gern werden Gurken gegessen, aber ihr Genuß
ist für Kinder auch nicht minder schädlich. Übrigens gedeihen die
Gurken (besonders eine Art Schlangengurken) zu wahren Pracht-
exemplaren. Dieselben ranken ähnlich wie Erbsen an Stangen
empor. Trotz sorgsamster Pflege in Mistbeeten und unter Glas
würde man in Europa wohl niemals derartige Gebilde züchten können,
wie sie hier im Freien wachsen. Ich sah schon Schlangengurken von
einem Meter Länge tief grün wie das Meer und glänzend wie Marmor.
Die Jungen wissen noch viele Vorzüge einer Tjinkua (Gold-
melone) zu rühmen. Ihren Namen verdankt sie dem goldenen
Aussehen, wodurch die reife Frucht in die Augen sticht. Im Som-
mer ernähren sich manche Familien fast ausschließlich von ihrem
Genuß. Gekocht wird dieselbe mehlig, hat einen angenehm süß-
lichen Geschmack, ähnlich wie die Süßkartoffeln. Auch wir bestellen
alljährlich viele Morgen mit dieser Melonenart, und die Kinder essen
sie lieber als Weizenbrot oder sonstiges Gemüse. Zudem ist der
Genuß vollständig unschädlich. Aehnlich wie die Goldmelone wird
die Wintermelone (Tungkua) gezogen; sie hält sich den Winter
hindurch und liefert in Fleischbrühe gekocht ein beliebtes Gericht,
das sogar auf dem Tische der Reichen geschätzt wird. Als Eigen-
tümlichkeit dieser Melone ist ein reifartiger grauer Niederschlag
zu nennen, welcher die Schale überzieht.
Der kleine Peter weiß eine Nudelmelone (Tjaokua) zu prei-
sen, die früher sein Vater gezogen, und er habe alljährlich viele
davon verkauft. Sobald die Frucht gesotten ist, fällt das Fleisch
nudelartig in langen Streifen auseinander. Kalt geworden und mit
Zutaten versehen, dient es dann als Nachtisch bei Reichen, bei Armen
aber, die sich satt daran essen, als Hauptgericht.
— 24 —
Doch wollten wir die kleinen Schwätzer alle zu Wort kommen
lassen, sie hätten noch stundenlang zu kramen; das Melonenfeld
ist aber sogleich erreicht. Es genüge zu bemerken, daß es außer
den genannten noch eine ganze Reihe Gurken, Melonen und Kür-
bisse gibt, die nicht genossen werden. Man zieht sie nur der Zierde
halber oder weil sie, reif geworden, allerhand Gerätschaften abge-
ben. Eine Art langstieliger Kalabassen braucht nur in der Mitte
geteilt zu werden, und die Hausfrau hat ihren Löffel zum Suppe-
schöpfen fertig; wer so einen Löffel voll Suppe bekommt, verlangt
nicht nach einem zweiten, denn das Ding hat gewaltige Dimensionen.
Andere, die stiellos sind, werden als Samenbehälter benutzt oder
dienen zum Wasserschöpfen. Eine Zwergart dieser Kalabassen ver-
ziert man mit allerhand Schnitzwerk, und sie werden dann als Unter-
schlupf für Grillen und Heuschrecken benutzt. Im Winter, wenn
die Natur erstorben, Zikaden, Grillen und Heuschrecken schon
längst ihr Gezirpe eingestellt und sich in die Erde verkrochen haben,
singt die Grille in ihrer Kalabassenwohnung vergnügt weiter. Sie
verspürt noch nichts vom Winter, denn in den Achselhöhlen oder
auf der Brust ihres liebevollen Beschützers ist es frühlings warm.
Recht drollig hört es sich an, wenn so ein Grillenliebhaber sich in
Gesellschaft befindet und das kleine Tierchen im Busen bei der
Unterhaltung das größte Wort führt. Nimmt aber ein Schüler seinen
Liebling (meistens eine Heuschrecke) mit in den Unterricht, ist er
bald verraten, und die beiden Freunde müssen sich trennen.
Mit Hurra geht es in den Wald hinein, in die Beeren ; doch
so eilig haben es unsere Jungen nicht. Überhaupt verfügt die
chinesische Jugend über viele Prozent weniger Lebhaftigkeit als die
Rangen anders wo, und es ist verhältnismäßig sehr leicht, sie in
Zucht zu halten. Zudem ist so ein Melonenfeld doch auch ganz
anders geartet als ein deutscher Wald. Eine Umfriedigung finden
wir nicht oder höchstens nur eine sehr dürftige, aus wenigen Sorgho-
stengeln oder Dornen bestehend. Aber eine Hütte steht gleich
am Wege, überschattet von einer Kürbisstaude. Das ist die provi-
sorische Behausung des Besitzers ; dort wohnt er bei Tag und Nacht,
sobald die Früchte zu reifen beginnen. Rufen ihn andere Geschäfte
nach Hause oder geht er auf den Markt Melonen verkaufen, so
lösen sich Weib und Kind im Bewachen ab. Als Gesellschaft hat
er sich eine Schar Küken großgezogen, die sich selber Nahrung
suchen und eine Xebeneinnahme bilden, wenn sie groß geworden.
»Jetzt aber mal Melonen herbeigeholt, gut ausgereifte, bringt
vorläufig zwanzig Stück. u Die Jungen kauern sich auf den Boden
— 25 —
nieder; alle sind durstig und der ersehnte Augenblick naht heran,
wo es Wasser zu trinken gibt. Aber das ist kein Wasser aus hartem
Felsen, sondern aus dem weichen Herzen einer Pflanzenfrucht.
Der Mund zarter Wurzeln hat es aufgesogen ; in den langen Gängen
der Ranken wurde es destilliert; im innern der Melone kochte
es die heiße Julisonne gar und mischte Zucker hinzu und Aroma.
Aus keiner Filter fließen so klare Tropfen, als die Melone sie birgt;
Limonade, Brausepulver und dergleichen Durstlöscher haben mit-
samt keinen so einfachnatürlichen Geschmack, wie diese Gottes-
gabe im Felde.
Nun wird nach Herzenslust gegessen und getrunken, denn
Wassermelone verzehren, ist sowohl ein Essen wie ein Trinken.
Ein Rausch stellt sich nicht ein ; auch sind sonst, im Gegensatz zu
der Süßmelone, keine üblen Folgen zu fürchten. Die Pflanze unter-
scheidet sich äußerlich von den anderen Melonenarten besonders
durch ihre grauen, zerzackten Blätter. Es gibt viele Sorten, die
von einander verschieden sind im Aeußern, im Innern und in der
Farbe der Kerne. Saenpei, die „Dreiweißigen", sind solche, die
weiße Haut, weißes Fleisch und weiße Kerne haben; diese Sorte
soll die beste sein, besonders wenn das Fleisch, ähnlich wie Kandis-
zucker, körnig geworden ist. Andere haben rotes Fleisch und
schwarze Kerne; dieselben haben ein vorzüglich appetitliches Aus-
sehen. Besonders durststillend ist die Frucht, wenn man sie vor
dem Gebrauche erst einige Stunden in kaltes Brunnenwasser legt.
Unsere Schantung-Melonen haben in ganz China einen guten Ruf,
weshalb sie als Kaisergabe alljährlich nach Peking gehen. Ganze
Schiffsladungen werden zum Süden befördert, um dort Durstige zu
erquicken und Marode zu erfrischen.
Auch Kerne und Schalen der Wassermelone werden benutzt.
Man hebt die Kerne auf, trocknet sie, und während der langen
Winterabende, oder wenn die Unterhaltung nicht fließen will, knab-
bert man die „(Güte 1 )" heraus, die den Nüssen nicht unähnlich
schmeckt. Die Schale wird als Schweinefutter benutzt, oder man
legt sie in Salz, und nach einigen Monaten ist sie als Salzgemüse
(Hien tsä) gebrauchsfähig. Das alles klingt recht appetitlich; wer
aber einmal die Chinesen hat Melonen essen sehen, wird bei Leibe
*j Das Zeichen für Güte, Milde (gin) ist das nämliche wie jedes, das Kern
bedeutet (gin). Die Erklärung im Lexikon von Kaiser Khanchi sagt darüber
folgendes: Die Güte gilt als Lebensprinzip; ähnlich wie das Herz Sitz der Milde
ist und deshalb auch Lebensprinzip im Menschen, gilt der Kern als Herz und
Lebensitz in der Schale. *
— 26 —
auf die Kerne verzichten, mögen sie auch noch so gut geröstet sein.
Ebensowenig wird er von dem vielgepriesenen Salzgemüse nehmen,
falls sich Melonenschalen darunter befinden. In Städten nämlich
und an Plätzen, wo viele Melonen gegessen werden, halten sich immer
Bettler auf, welche die ausgespuckten Kerne aufsammeln, desglei-
chen die beiseite geworfenen Schalen. Beim Verzehren gebraucht
man weder Messer noch Löffel, sondern die Stücke werden aus der
Hand gegessen, weshalb an der Schale ganze Reihen von Zähnen
abgebildet sind. Die Bettler verkaufen dann ihre Kerne und Schalen,
erstere an Konditoren, die letzteren an Salzgemüsehandlungen. Die
äußerste Haut der Schale soll zu Fleckenwasser verarbeitet werden
können; doch findet sie dafür wenig Verwendung, da die Chinesen
nicht viel auf Flecken geben.
Unser „Wirt", ein von der Sonne braun gebrannter Chinese,
weiß mancherlei zu erzählen über den Anbau der Melonen und ihre
Pflege. Jede Pflanze trägt höchstens drei Früchte ; alle Neben-
ranken werden abgebrochen, „damit die Hauptkraft sich in gerader
Linie entwickele". Als Dung werden Bohnenkuchen hochgeschätzt;
sie sollen besonders dazu beitragen, daß die Melonen süß werden.
Für den Anbau ist sandiger Boden besser geeignet als lehmiger.
Haupterfordernis für eine gute Melonenernte ist aber die warme Sonne;
je heißer ihre Strahlen auf die Frucht herniederbrennen, um so
vorzüglicher ist ihre Qualität. Als Spezialität gilt die sogenannte
Ta-kua, die große Melone. Sie wird hauptsächlich der Kerne halber
gezogen. Geht ein Wanderer am Melonenfelde vorbei, wird er zum
Essen eingeladen; er kann nehmen, so viel er nur will. Aber er
erhält „große Melonen" vorgesetzt und bekommt davon wenig in den
Magen ; dem Verkäufer ist es nur um Reinigung der Kerne zu tun.
Um zu erfahren, ob eine Melone reif ist, wird sie durch Anschla-
gen mit der flachen Hand geprüft. Es gehört Übung dazu, um recht
zu hören und gut zu fühlen ; unser Gewährsmann aber hat in der
Sache ziemlich viel Sicherheit und geht selten fehl. Eine ausge-
wachsene Melone kann 40 bis 50 Pfund schwer werden. Gut aus-
gereift halten sie sich noch wochenlang. Ln Eiskeller gelegt
bewahrt man sie für Kranke und Gourmands, die auch im Winter
bisweilen gerne ein Labsal des Sommers verkosten. Kranke,
die an Dysenterie leiden, sind oft durch einige Schnittchen Wasser-
melonen wieder hergestellt.
Wenn jemand einem Melonenbauer schaden will, wickelt er
etwas Moschus in seinen Gürtel und geht (juer über dessen Feld.
Der Mosch iisgeruch ist (wie die Chinesen behaupten) ein großer
— 27 —
Feind der Melonen und sie sollen allsogleich absterben, wenn er
in ihre Nähe kommt.
Heute war ein Glückstag für unsern Verkäufer; so gute
Geschäfte hat er an einem Tage lange nicht mehr gemacht. Sonst
muß er meistens stundenlang schreien, ehe er eine Melone an den
Mann bringt, denn für gewöhnlich geht sie nur stückweise ab. Ein
gutes Exemplar kann in 20 bis 30 Stücke geschnitten werden, von
denen jedes einen Käsch kostet. Die Stücke sind gerade nicht groß,
aber Sache des Verkäufers ist es, sie anzupreisen. „Leute kauft!
Stücke so groß wie ein Schiff! Zucker ist bitter im Vergleich zu
meinen Melonen \ u — Derartige Lügen schreit er unzählige an einem
Tage in die Welt hinaus.
Der Herbst.
„Bund sind schon die Wälder,
Gelb die Stoppelfelder,
Kühler weht der Wind."
^B|yÄci unserm Schantungsherbst gilt allerdings nur die letzte
|Ksj| Zeile: „Kühler weh( der Wind". Von bunten Wäldern
^WtS~M kann keine Rede sein, weil es hier zu Lande nichts gibt,
i^MWSp^i ** as einem Walde ähnlich sieht. Und mit den Früchten
verschwinden auch die Stoppeln von den Feldern, freilich einige
Tage später. Gewöhnlich überläßt man es den Armen, dieselben
auszurupfen, die sie dann verkaufen oder selbst als Brennmaterial
benutzen.
Gestern hat es fast den ganzen Tag geregnet, heute abcu*
vertreibt der Nordwest die noch hängenden Wolken und spendet
Kühlung und klaren Himmel. „Glücklich überstanden", spricht mit
sonnigem Speckgesichte ein Epikureerfreund mit gewaltiger „Weis-
heitstonne" (d. h. mit großem Leibesumfänge), der sich eben im
Schatten eines Baumes in seinen Sorgenstuhl niederläßt. Die
Sommerhitze hat ihn in eine Entfettungskur genommen, und er ist
sichtlich um einige Pfund leichter geworden. Er hat sich auf alle
nur mögliche Weise gegen die sengenden Sonnenstrahlen zu schützen
gesucht, aber die schmorige Wärme driügt allmählich überall hin,
und der Sommer läßt sich nicht so leicht aus dem Felde schlagen
wie der Winter. Darum ist letzterer denn auch zumeist von armen
Leuten gehaßt, während die Reichen dem Sommer mehr abhold sind.
— 28 —
Ein von Beiden gern gesehener Gast ist dagegen der Herbst.
Dem Reichen füllt er Tennen und Scheuern; der Arme aber hat
von dem zu leben, was er sich öffentlich und im Geheimen sammelt.
Auch in China gilt der Herbst vor Allem als die Zeit der
Ernte. Das Schriftzeichen, das Herbst bedeutet, ist aus fc Feuer
huo und 5|c Frucht huo zusammengesetzt. Damit ist angedeutet,
daß die Hitze des Sommers jetzt Früchte und Getreide gar gesotten
hat und das Einheimsen beginnen kann. Die Weizeneinte fällt aller-
dings in den Sommer; weshalb auch der vierte Monat Mei-tsiu
„Weizenherbst" genannt wird. Als den „Bambusherbst" bezeichnet
man den dritten Monat, weil um diese Zeit der vorjährige Bambus
abgeholzt wird. Der siebente Monat endlich gilt als der „Orchideen-
herbst". Damit die Bauern auf den Feldern nicht von bösen Geistern
und Kobolden behelligt werden, werden diese am fünfzehnten Tage
des siebten Monats eingefangen und dem Stadtgott (Tsch'önghuan) in
Verwahrung gegeben, der sie für die Zeit der Ernte beaufsichtigen soll.
Am fünfzehnten Tage des achten Monats ist dann das Erntefest,
das nächst dem Neujahr als eine der größten Feiertage des Jahres
gilt. Mit Essen und Trinken tut man sich gütlich ; Trauben und
andere Früchte und vor allem die „Mondkuchen" (Jüo-ping), ein
Spezialgebäck für das Erntefest, werden an Freunde und Bekannte
geschickt. Mit Bezug hierauf heißt es „Herbstwind machen", wenn
man sich die Gunst eines andern mit Geschenken verschaffen will.
Gedenkt aber ein Gelehrter seine Lizenziatsprüfung zu bestehen,
so muß er sich „in die Herbsthecke verschließen lassen". Ehemals
wurden nämlich die Prüfungshallen mit scharfem Dorngehege um-
zäunt, um jede Verbindung mit der Außenwelt fern zu halten.
„Herbstreif" bezeichnet die Tugend einer ehrsamen Witwe, die ihren
ersten Gatten betrauert und in Enthaltsamkeit lebt. Eine „Gurke, die
spät im Herbste am Stecken emporrankt", ist das Bild einer alten
Jungfer, die erst in bejahrten Tagen unter die Haube gekommen ist.
Der Hase ist bekannt unter dem poetischen Namen „Herbst-
jubel" (Tsiu-li-chuan). Und in der Tat hat Meister Lampe allen
Grund, sich gerade um diese Zeit zu freuen. Seine Nachkommen-
schaft ist herangewachsen und kann sich selbst helfen; das Feld
liefert Futter in Fülle, zumal die leckeren Bohnen, sein Leibgericht.
Gefahr aber hat er nicht zu fürchten, da die Bauern sonst vollauf
zu tun haben und den „Herbst ruhig jubeln" lassen. Sobald aber
die Felder abgeerntet sind, muß er einige Zeit warten, bis die
Weizensprossen neues Futter bieten. Auch ist es nicht mehr leicht,
sich auf dem kahlen Felde zu verstecken; was ihm dann beim
— 29 —
Herannahen der Gefahr rettet, sind seine flinken Beine. Vielleicht
hat der Hase auch dem Umstände seinen Namen zu verdanken,
weil sich die ganze Welt auf das Erntefest freut und dabei seiner
besonders gedacht wird. In die Mondkuchen ist vielfach sein Bild
geprägt, im Monde aber soll ein leibhaftiger Hase am Erntefeste sein
Spiel treiben. Wer sich hinter einen Pfirsichbaum versteckt und gut
Obacht gibt, kann sich selbst davon überzeugen, sagen die Chinesen.
Mit Bezug auf das Erntefest singt der Dichter im Schi-king:
„Im sechsten Monat (gemäß der Jahreseinteilung zur Zeit der
Tschou- Dynastie), ißt man Pflaumen und Trauben, im siebten Monat
erntet man den Reis und macht daraus für den nächsten Frühjahr
Wein, die Augenbrauen der Greise aufzufrischen. Im siebten Monat
ißt man Melonen. Im achten Monat bricht man Flaschenkürbisse.
Im neunten liest man Samen von Sesam, pflückt Gänsedistel und
sucht Ailantenholz und bereitet den Ackerleuten Speisen. "
Auch der Chinese betrachtet den Herbst als die Zeit, wo die
fertige Natur zu trauern beginnt. „Im Herbst sind die Tage kalt,
und alles Grün wird welk und alt." Er will damit den trostlosen
Zustand des Reiches besingen, wo Parteiungen und Zwistigkeiten
dem Einzelnen das Leben verbittern und den Staatskörper an den
Rand des Grabes führen (Schi-king II. 5. 10). Ferner spricht er
von „fallenden Blättern, die das Herz betrüben". In dem vom
Winde fortgetriebenen Laube erblickt er das Bild des Wanderers,
der fern von der Heimat weilt und dem es öde und einsam ums
Herz wird. Der klare Herbsthimmel erinnert ihn an die frisch
sprudelnde Quelle, die sein eigenes Bild wiederspiegelt. Flüsse
und Ströme mahnen ihn an das abgeklärte Greisenalter; sie haben
es nicht mehr halb so eilig wie zur Zeit der Überschwemmungen,
auch' ist ihre Kraft gebrochen; „das Wasser ist klar, weil es nichts
mehr tragen kann und daher ist auch sein Rauschen verstummt".
Im „Liede vom Wunderknaben" (Schi-tung-schi) schreibt der
Dichter über den Herbst: „Schon beginnen sich die Regenschauer
zu mäßigen, und der Himmel schüttelt vollends die Wolken ab.
Ein goldener Wind (Westwind, in China gilt der Westen als die
Goldecke) führt reichliche Kühlung herbei. Die Studierhallen erstrah-
len im Freudenglanze (im Herbst ist gut studieren) und beim Lichte
der Lampe erscheinen die Nächte verlängert".
Nach chinesischer Anschauung giebt es im menschlichen
Handeln auch einen Herbst, den Herbst der Vergeltung. Mit Bezug
hierauf wird das Straftribunal Tsiu-tsan genannt, „Herbsforum", und
sein erster Beamte heißt Tsiu-kuan, „Herbstmandarin". Wenn die
— m —
Untaten der Verbrecher zur Reife gelangt sind, wird die strafende
Nemesis sie erreichen, sie mögen wollen oder nicht.
Auch für uns Europäer ist in China der Herbst von allen
Jahreszeiten die willkommenste. Man lebt ordentlich wieder auf,
wenn nach überstandener Sommerhitze die Sonne ihre freundlichen
Strahlen vom kristallklaren Himmel sendet, ohne uns mehr zu
brennen. Cnd setzt auch einmal ein Wind ein, so belästigt uns
nicht mehr der leidige Staub, der die Wonnen des Frühlings vollends
verdirbt. Dem europäischen (feinüse geht es aber ähnlich wie den
Menschen. Kohl und Kappus vor allem haben im Sommer nur ein
kümmerliches Dasein gefristet, ohne zu wachsen ; jetzt aber holen
sie das Versäumte nach, und wenn der Herbst nur einigermaßen
trocken ist, gibt es im Winter auch Sauerkraut, Blumenkohl und
die „Jungfer im Grünen* (Mettwurst im Kohl) vorausgesetzt natür-
lich, daß europäische Küche und Keller vertreten sind. Möhren
und Kuben werden von den Chinesen erst im Spätsommer gesät,
ebenso der bekannte Schantunger Kohl (Pci-tsä). Überhaupt gewährt
es im Herbste besonderes Vergnügen, einen gut bestellten Blumen- oder
Gemüsegarten zu durchwandeln. Namentlich sind es Herbstastern
und Chrysanthemum, die jetzt ihre Pracht entfalten und, in Töpfe
verpflanzt, verkauft und verschenkt werden ; viele blühen bis spät
in den Winter.
Aber auch die Herbstfluren machen in China bei Weitem nicht
den öden Eindruck wie drüben in Europa. Als zweite Ernte» werden
auf die Weizenfelder Bohnen gesät, vielfach auch Späthirse, Buch-
weizen und Mais. Die Bohnen in ihrem grünen Blätterkleide, das
sich zur Zeit der Keife golden färbt, machen einen schmucken
Eindruck. Die süße Kartoffel hat ganze Felder mit ihren dunkel-
grünen Kanken überwuchert, die erst bei Nachtfrösten absterben.
Überdies werden Felder und Gärten durch das traute Zirpen großer
Grillen lieblich belebt, die besonders gegen Abend und während der
Nacht ihr Konzert zum Besten geben. Das ist eine ganz andere
Musik als wie sie im heißen Sommer bei Tage die Zikaden in den
Bäumen und während der Nacht die Frösche in den Tümpeln
machen. Überhaupt wirkt die herbstliche Natur beruhigend auf die
von den Plagen der heißen Zeit erregten Nerven. Die Kinder
bekommen mit der Zeit wieder ein blühendes Aussehen, und den
Alten schmeckt das Essen besser als zuvor.
Was dem Herbste daheim besonders den Charakter der Schwer-
mut und des Trübsinns aufdrückt, fehlt in China fast gänzlich.
Feucht nasse Nebel läßt die Sonne nicht aufkommen. Ihr Licht
— 31 —
durchflutet wochenlang mit wohliger Wärme die Natur und lockt
noch im November die Mücken zum fröhlichen Reigen hervor.
Fällt es aber gar einem langlebigen Moskito noch ein zu stechen,
so tut das allerdings besonders weh: „Am fünfzehnten Tage im
siebten Monat sticht die Schnake mit stählernem Stachel", sagt ein
chinesisches Sprichwort. So lange kein Nachtfrost einsetzt, behalten
die Bäume ihr Laub, ohne es zuvor rot oder gelb abzutönen.
Meistens setzt eines guten Tages plötzlich der scharfe Nordwind
ein; wenn dann am anderen Tage die gute Sonne wiederum ihre
milden Strahlen sendet, rieseln die Blätter von den Bäumen herunter;
der Nachtfrost hat es ihnen angetan. Und auch die Blumen lassen
ihre Köpfe hängen, und das Laub färbt sich schwarz. Jetzt ist es
Zeit, Möhren, Rüben, Kohl, süße Kartoffeln und Erdnüsse ein-
zuheimsen. Dann allerdings bewahrheitet sich nach wenigen Tagen
des Dichters Wort: „Herbstlich alle Fluren rings verwildern, und
unkenntlich wird die Welt". Aber dann hat auch nach chinesischer
Zeitrechnung schon längst der Winter sein Regiment angetreten.
Wachteln in China.
Um 6. Januar d. J. wurde in Tsinanfu „eine Himmelslaterne
angezündet" (tien t'ien töng). Zwar war es heller Tag,
aber es galt ja auch nicht das Dunkel der Nacht zu ver-
X3SS 1re ib en ? a ls vielmehr Schrecken und Abscheu zu erregen *
in der Menge, die sich zu Tausenden eingefunden hatte. Ei n grau-
siges Schauspiel fürwahr, denn die „Laterne" war nichts anderes als
ein lebender Mensch, der in Tuch eingewickelt, mit Ol übergössen
und dann, an einen hohen Pfahl gebunden, angezündet wurde. Ein
Unmensch war es allerdings, ein Muttermörder, der sich nicht nur
an ihrem Leben vergriffen, sondern sogar von ihrem Fleische —
gefressen hatte. Und die ganze Veranlassung war nichts weiteres,
als ein armseliger Vogel, eine Wachtel. Während sich der Sohn
darin verliebt hatte, war das Tier der Mutter ein Dorn im Auge,
und eines guten Tages, als der Sprosse nicht daheim war, wurde
der Vogel kurzerhand erdrosselt, gebraten und dem kleinen Enkel
gegeben, der sich ihn gut schmecken ließ. Heimgekehrt fand der
Sohn seinen Liebling nicht mehr, und als er erfahren, was damit
geschehen sei, geriet er dermaßen in Zorn, daß er tat, was wir
bereits wissen.
— 32 —
Solche Verbrochen ahnt das chinesische Gesetzbuch hart, und
wir finden es kaum erklärlich, wie sie unter einem Volke, wo die
Liebe zu den Eltern dermaßen ausgeprägt ist, überhaupt möglich
sind. Doch hat eine Wachtel in China schon manchem das Leben
gekostet, wenn auch nicht in dem Maße, wie den alten Juden, die
sich zu Tode daran aßen. Die Wachtel ist für unzählige Chinesen
ein Spielzeug, an dem sie mit ganzer Seele und leidenschaftlicher
Liebe hängen, das ihnen lieber ist als Hab und Gut, lieber als
Eltern und Verwandte. Noch dieser Tage starb hier in der Nähe
ein Wachtelliebhaber aus Gram darüber, daß ihm die Katze in
einer Nacht ein Dutzend dieser Tiere verzehrt hatte. Es war zeit-
lebens seine Hanptbeschäftigung gewesen, jeden Herbst wochenlang
mit dem Wachtelfang sich abzugeben. Jetzt zählte er bereits 70
Jahre, aber noch immer konnte er sein „Lieblingsvergnügen" nicht
aufgeben. Mit vieler Mühe hatte er eine Anzahl Vögel zusammen-
gebracht, und nun räumte die mörderische Katze in einer Nacht
damit auf. Dem Alten schmeckte von der Zeit kein Essen mehr;
seine Lebensfreude war dahin ; es dauerte nicht lange, da starb auch er.
Der Wachtelfang hat für den Chinesen etwas Verführerisches,
wie anders wo das Wilddieben. Wachtelfänger und Wilddiebe betrei-
ben ihr Geschäft in der Finsternis und scheuen weder die Dunkel-
heit der Nacht, noch das Ungemach der Witterung. Aber während
der Wilddieb seinen Weg nimmt in das Dickicht der Wälder, zieht
der andere auf das flache Land, wo er sich mit Hirsenstroh ein
künstliches Saatfeld eingerichtet hat. In einem Versteck hockt er
dort stundenlang, ohne sich auch nur zu rühren. Unverdrossen aber
läßt er vermittelst einer kleinen Bambusflöte seinen Lockruf erschal-
len, der dem Rufe der Vögel ähnlich klingt. An einer Stange hat er
einen Käfig befestigt, in dem sich ein oder mehrere Wachtelhähn-
chen befinden, die auf den Hennenruf des Fängers jedesmal ant-
worten. Sind nun Wachteln in der Nähe, so lassen sie sich her-
beilocken und verbergen sich in dem Hirsenstroh. Darüber ist ein
Netz ausgebreitet, welches nur an der Seite offen gelassen ist, wo
der Fänger sich versteckt hat. Sobald die Morgensonne den Himmel
zu röten beginnt, kann er sich hineinwagen; es ist eine Eigentüm-
lichkeit der Tiere, daß sie dann nicht mehr so leicht davonfliegen.
Mit einem langen Stecken werden sie in eine Ecke des Netzes
zusammengetrieben und gefangen. Nicht selten hat der Wachtel-
freund eine halbe Nacht umsonst gelockt und gewartet und sich
müde gekauert; am Morgen kann er unverrichteter Sache wieder
nach Hause zurückkehren. Er verschläft dann den Aerger, um
— 33 —
gegen Mitternacht mit neuem Mute auf die Jagd zu gehen. So
treibt er's fort, bis die Wachtelzüge aufhören; diese dauern meistens
einen bis zwei Monate.
Hat ihm das Glück Wachteln in das Netz getrieben, freut er
sich königlich, zumal wenn recht viele Männchen darunter sind. Die
Weibchen wandern in die Bratpfanne, die Männchen aber werden
zu Kämpfen abgerichtet. Gute Freunde erhalten das eine oder
andere Tier zum Geschenk, mit den andern zieht man zum Markte.
Die Preise sind sehr verschieden. Für gewöhnlich wird ein eben
gefangenes Männchen mit 100 Käsch bezahlt, während gut dressierte
überhaupt „unbezahlbar" (mu ju tja) sind. Es ist schon vorge-
kommen, daß reiche Käuze für ein Exemplar mehrere 100 Lot
Silber, also ein kleines Vermögen zahlten.
Eine gute Wachtel kaufen bedeutet für den Chinesen ein
Geschäft von großer Wichtigkeit. Es gibt verschiedene Bücher
(z. B. Ngan-tschuin luin), in denen des langen und breiten über
die Wachteln gehandelt wird. In denselben befindet sich eine
genaue Beschreibung der zum Kämpfen geeigneten Elemente. Da
kommt alles in Betracht: Größe, Kopf, Schnabel, Nase, Gesicht,
Füße, Brust, Schwanz, Farbe usw. Unsere Rekruten werden bei
der Aushebung keiner so genauen Besichtigung unterworfen, als ein
echter Wachtelkenner allseitig sein Kaufobjekt betrachtet, um ja
einen tüchtigen Kämpen zu erstehen. Aber trotz allem sind auch
hier Lug und List an der Tagesordnung.
So verstand sich ein alter Wachtelfänger darauf, seine Tiere
in der Weise abzurichten, daß sie nur einem bestimmten Gegner
gegenüber (den er immer bei sich führte) wahren Heldenmut an
den Tag legten, vor unbekannten Feinden aber in der Regel Reiß-
aus nahmen. Einst ließ er sich im Mandarinat ein Wachtelhähn-
chen gegen hohen Preis abhandeln und wollte sich eben mit dem
Gelde davonmachen. Doch die Häscher kamen ihm zuvor und
schleppten ihn vors Tribunal ; dort sollte er büßen für seine Betrüge-
reien. Abends besuchte ihn sein Freund. Diesem flüsterte er leise
ins Ohr, doch so, daß die Wächter abseits es hören konnten : „ Aber
nimm ja meinen Wachtelkönig gut in acht ; käme der mir abhan-
den, wäre ich ein ruinierter Mann." Dem Mandarine wurde nun
hinterbracht, er habe eine sehr kostbare Wachtel. Sofort ließ
er den Gefangenen vor sich kommen und versprach ihm 50 Lot
Silber, falls er die Wachtel abtreten wolle. Der Häftling tat,
als gelte es ein großes Opfer zu bringen, aber schließlich verstand
er sich doch zu dem Verkaufe. Frei auf den Füßen und auch
K. Pieper, „Neue Bündel 14 . 3
— 34 —
schon das Geld in der Tasche machte er sich dann eilends aus dein
Staube; die List war das zweite Mal gelungen, denn der „König*
war um kein Haar besser, als sein Vorgänger.
Nicht minder mühevoll und beschwerlich als das Fangen der
Vögel ist auch das Dressieren derselben. Für die arme kleine
Kreatur beginnt ein wahres Martyre rieben. Zunächst muß sie in
den Käfig wandern; aber das ist kein geräumiger Bauer, sondern
ein Ding wie ein Tabaksbeutel mit dem Unterschiede, daß es einen
hölzernen Boden hat. Darin ist es arg dunkel, und das holde
Tageslicht bekommt der arme Gefangene nur zu sehen, wenn er
die Körperrecktur (pa ngan tsch'uin) mit durchmachen muß. Die-
selbe besteht darin, daß der Dresseur den Vogel in die linke Hand
nimmt und den Kopf zwischen Mittel- und Zeigefinger haltend, die
Füße stramm nach unten biegt. In dieser Stellung muß der
Vogel wenigstens drei bis vier Stunden verharren. Dadurch sollen
die Beinmuskeln kräftig werden, was für ihn beim Gefechte von
großem Vorteil ist.
Das Füttern geschieht während der Nacht beim Lampenlicht.
Die Wachtel wird aus dem Beutel hervorgeholt; auf einem Tische
ist Hirsekorn in bestimmter Menge ausgestreut. Dasselbe wird zu-
vor mit Teewasser angefeuchtet und ist auch zeitweilig mit Gurken-
stückchen untermischt. Das geschieht zum Zwecke der Entfettung.
Damit das Tier „ seine Gedanken" nicht zu sehr auf das Fressen
richte, wird es bisweilen gereizt.
Ungefähr alle fünf Tage muß der Rekrut eine Waschkur
durchmachen. Auch hierzu wird Teewasser genommen und zwar
recht warmes. Der ganze Körper wird damit so lange gewaschen,
bis er trieft. Dann werden dem Tiere sechs Stückchen Kohl in den
Schnabel gezwängt, und nachdem es abgetrocknet ist, werden ihm
die Windeln angelegt. In solchem Zustand wird es in den Busen
gesteckt und bleibt solange darin, bis die Federn trocken sind. Zur
Vorbereitung auf die Waschkur ist ein halber Fasttag erforderlich,
und nach der Waschung muß wiederum ein halber Tag gefastet wer-
den. Das überflüssige Fett bleibt an den Kohlstückchen hängen, und
erst wenn der Magen rein ist, bekommt der Geplagte seine Portion.
Ferner wird nach jedem Kampfe ein Teebad verabreicht; da-
durch sollen die wunden Stellen schnell wieder geheilt und die
Haut abgehärtet werden. Ist der Vogel so lange gedrillt, daß man
glaubt, er könne den Kampf mit einem Gegner aufnehmen, wird
er zuvor „taub geschrien". Aber auch darauf muß er sich durch
eintägiges Fasten vorbereiten, denn bei einem vollen Magen sollen
— 35 —
die Ohren gegen Geräusch weniger emfindlich sein. Die Prozedur
wird mit einem Bade eingeleitet, wobei dem Tiere zuvor die Ohren
ausgewaschen werden. Nachdem die kleinen Federchen sorgsam
von den Ohrenöffnungen fortgestrichen sind, nimmt der Dresseur
den Kopf des Patienten in den Mund und stößt ein wahres Indianer-
geheul aus. Das kleine Ding erzittert am ganzen Leibe, aber
nun ist es auch ein für allemal gegen jedes Geräusch gefeit. Mag
man ihm später beim Kampfe auch noch so sehr Beifall klatschen,
es hört nichts davon und bleibt deshalb schön bei der Sache.
Jetzt ist unser Rekrut Soldat geworden; begleiten wir ihn
auf den Kampfplatz. Bevor er sich aber ins eigentliche Treffen
wagen darf, muß er einige Tüchtigkeitsproben ablegen. Man stellt
ihn einem schwächeren Feinde gegenüber, den er voraussichtlich mit
wenigen Hieben in die Flucht jagt. Ist der Ausgang des Kampfes
aber zweifelhaft, werden die Tiere von einander getrennt, ehe es
zur Entscheidung kommt. Auf diese Weise wird der Mut belebt
und die Stärke erprobt.
Der glückliche Besitzer geht dann auf Gegnersuche; alle
Türen stehen ihm offen. Mag er selber ein armer Schlucker von
der Straße sein mit zerlumpten Kleidern und schäbigem Hute : selbst
bei Mandarinen und Leuten von Rang darf er vorsprechen, falls
die Herren eine tüchtige Wachtel haben. Geht es zur Probe, ver-
sammelt sich alsogleich eine Anzahl Neugieriger, die dem Schauspiel
beiwohnen wollen. Viele machen Wetten und bezeichnen zum
voraus den Sieger. Als „Arena" dient der Reif eines Siebes.
Darin wird ein Häufchen, Hirse gestreut; nachdem eine Wachtel
hineingelassen ist und sich über das Futter hergemacht hat, wird
auch die zweite hineingesetzt. Sofort beginnt der Kampf. Jetzt
kommt es darauf an, welche am geschicktesten Hiebe zu versetzen
und dem Gegner auszuweichen versteht. Während der Schnabel
zum Angriff dient, werden die Füße zur Verteidigung benutzt; sie
müssen die Hiebe des Gegners parieren. Als Helden gelten jene
Tiere, die schon nach drei Hieben dem Gegner eine Wunde bei-
bringen. „Nach dem dritten Schlage den Feind mit Blut bedecken
ist besser als unbesiegbar in hundert Schlachten" gilt als Wahl-
spruch bei den Wachtelkämpfen.
Der Sieg ist in kurzer Zeit entschieden. Es ist eine Eigen-
tümlichkeit der Wachteln, daß die Besiegte es mit dem Gegner
nie mehr ein zweites Mal aufnimmt. Und auch anderen Gegnern
gegenüber zeigt sie sich in der ersten Zeit sehr furchtsam. Man
muß einige Wochen warten, bis eine neue Kampfesprobe versucht
a*
— 36 —
werden kann. Im Gefechte kommt es hauptsächlich auf die Zahl
der Schnäbelhiebe an; je zahlreicher und schneller dieselben aus-
geteilt werden, um so sicherer ist der Sieg. „Eine Wachtel, die
hundert Hiebe nacheinander versetzt, ohne mit der Wimper zu
zucken, braucht keinen Feind mehr zu fürchten."
Es gibt, wie bereits erwähnt wurde, eine eigene „Wachtel-
Literatur". Dieselbe enthält genaue Beschreibung der Tiere, des-
gleichen wird darin gehandelt über ihre Pflege, Dressur und dergl.
Dort marschieren die Tiere unter zwtmzig verschiedenen Namen
auf, die meistens Bezug nehmen auf das verschiedene Aussehen
derselben. Öchslein von Stahl, wilder Bär, edler Phönix, Panzer-
träger, Feldherr ohne Feind (er hat alle Gegner besiegt) sind Bezeich-
nungen für Wachteln der besten Gattung. Weiter werden Beleh-
rungen gegeben über die Krankheiten der Tiere und deren Heilung,
Ermahnungen zum Mitleid, wenn dieselben schwach oder alt gewor-
den, Warnungen vor Feinden, die dem Sieger hinterlistig schaden
möchten. Man wird deshalb auch nie seine Wachtel von jenen
berühren lassen, dessen eigene Wachtel besiegt wurde. Durch Nadel-
spitzen, die unter den langen Fingernägeln verborgen sind, oder auf
sonst eine Weise sucht der in seiner Wachtel Besiegte seinen Groll an
dem siegreichen Vogel auszulassen, indem er ihm Wunden beibringt
oder sonst schadet. Wir erfahren darin auch, daß die ersten Kampf-
wachteln zur Zeit der Tang-Dynastie von Kaufleuten aus Liliangtjü (?)
zur Landeshauptstadt gebracht worden sind. Dieselben waren so
abgerichtet, daß sie nach den Schlägen einer kleinen goldenen
Trommel den Kampf gleich wie im Takt betrieben. Der Kaiser
war von dem Anblicke derart entzückt, daß er Befehl gab, vortan
die Zucht und Pflege der Wachteln im Lande zu betreiben, da der
Anblick der kämpfenden Vögel geeignet sei, den Mut und die
Tapferkeit der Untertanen zu beleben. Freilich, wenn sich die
Chinesen bisheran von den Wachteln ihren Kriegsmut und die
Todesverachtung geholt haben, ist nicht zu verwundern, daß sie in
den Schlachten so gern Reißaus nehmen. Wie gesagt, nimmt es die
besiegte Wachtel nie mehr mit dem Gegner ein anderes Mal wieder auf.
Wachteldresseure sind meistens Leute ohne ernste Lebens-
beschäftigung. Woher sollten sie sonst auch die viele Zeit her-
nehmen, die zum Fangen und Abrichten erforderlich ist. Es gilt
sprüchwörtlich: „Wer zum Bettelstabe greifen will, braucht sich
nur mit Vögeln und Pferden abzugeben." Jao schou tj'ung, uen
mao tschung huo lung (Pferde- oder Maultierliebhaber geben oft
ihr ganzes Vermögen daran, um in den Besitz eines guten Tieres
- 37 —
zu gelangen). Darum trägt der Besitzer auch nicht selten seinen
ganzen Reichtum im Beutel bei sich. Sorgsam ist derselbe am
Gurte befestigt und gerne leidet der Beutelträger selber Hunger,
wenn der Liebling nur nicht zu darben braucht. Nur ungern ver-
steht er sich zum Verkaufe. Erst noch kürzlich wurde einem Bettler
ein ganzer Wagen voll Hirse zum Tausche angeboten für seine
Wachtel. Aber er verzichtete auf das Getreide und wollte lieber
für sich und den Vogel weiter betteln.
Die Wachtel selber ist ohne Anhänglichkeit und Zuneigung
gegen ihren Herrn. Mag sich derselbe jahrelang mit ihr geplagt
haben, wird sie dennoch die erste Gelegenheit ergreifen, um auf
und davon zu fliegen. „Theaterspieler, Wachteln und Affen sind
niemals zahm zu füttern" 1 ) sagt das Sprichwort.
Hasentreibjagd.
Ijasontreibjagd — das Wort hat auch in China seine volle
jj Kxi i nzberechtigung, obschon es den Leser auf eine falsche
Fährte führt. Denkt er sich nämlich eine Treibjagd, wie
8ig in der Heimat auf Meister Lampe veranstaltet wird,
schießt er weit vom Ziele. Unsere Chinesen machen sich nur einmal
im Jahre dieses Vergnügen und zwar an einem bestimmten Tage.
Es geschieht am Feste der „Wintersuppe u (Lapatschou), welche
am achten im letzten Monate bereitet und getrunken wird. (cf. U.
S. 262.) Eine solche Suppe bildet eine solide Unterlage für die
Anstrengungen des Tages. Es tun sich immer einige Dörfer zu-
sammen, und die Zahl der Hasentreiber zählt oft nach Tausenden.
Jedermann bewaffnet sich mit einem Knüppel, den er dem aufge-
scheuchten Tiere zwischen die Beine wirft. Feuerwaffen werden
nicht gebraucht, und deshalb ist auch keine Gefahr vorhanden, statt
eines Hasen falsches Wild zu treffen. Auch kommt es vor allem
darauf an, die Hasen lebendig zu ergreifen. Gilt es ja nicht,
einen Pfeffer daraus zu bereiten als vielmehr ein „Wundermittel"
von unfehlbarer Wirkung. Es kommen dafür Gehirn, Herz und
Blut in Anwendung. Die Hauptfiguren bei besagter Treibjagd sind
deshalb einige berühmte Schüler Äskulaps; zu diesen wird das
gefangene Tier im Laufschritte gebracht. Sofort breitet man ein
großes Tuch zeltartig über die Medizinfabrikanten aus. „Weder
{ ) Ui pu schu-ti, chi-tze, ngan-tsch'uin.
-- :w --
Luft noch Licht darf von außen hineindringen." Während nun
einer den Kopf des Hasen spaltet und das Gehirn herausnimmt,
muß ein zweiter dem Tiere das Herz aus dorn Leihe reißen und
sorgfältig das Blut auffangen. Alle drei Dinge» werden mit anderen
Geheimmitteln untermischt und zu Pillen geknetet. Die Arbeit
muß dermaßen schnell vonstatten gehen, daß die fertigen Pillen noch
die Blutwärme des erlegten Hasen haben.
•Fertig!" schreit dann einer unter dem Zelttuche hervor, und
sofort werden die Enden desselben, welche am Boden festgehalten
werden mußten, losgelassen. «Fertig!- wiederholen die Treiber;
„ jetzt einen zweiten Hasen gefangen - . Ist es aber unterdessen
Mittag geworden, so wird zuvor ein kalter Imbiß genommen. Mehrere
Säcke Dampfbrotehen werden mit aufs Feld getragen nebst einigen
Salzrüben. Jeder bekommt seine Portion, denn jeder hat etwas
beisteuern müssen, die Sachen zu kaufen. Nachdem man sich
gestärkt, wird noch ein zweiter und dritter Hase gefangen, bis ea
Abend geworden. Nach jedem Fange werden schleunigst die Pillen
gemacht, die am Abende in den Besitz eines Dorfältesten wandern.
Dieser muß sie sorgsam aufheben. Die Wundermedizin wird dann
an Kranke verkauft und zwar für schweres Geld. Zum mindesten
kostet die Pille einen Dio (1 M.) Im Falle sich viele Liebhaber
darum bewerben, werden sie noch teurer bezahlt. Nur in bestimmten
Krankheitsfällen kommen sie zur Anwendung, dann sollen sie aber
unfehlbar helfen. Der Erlös für die verkauften Pillen wird teils
als Honorar unter die r Doktoren" verteilt, teils dient er mit zur
Deckung der Kosten, welche so eine Treibjagd verursacht. Fleisch
und Fell der Hasen bleibt Eigentum jener, die ihn zuerst gefangen.
Droht man in Peking jemanden, man wolle ihn mit einer kleinen
Peitsche verhauen (na sio pien tse ta ni), so fühlt er sich stark
beleidigt. Nicht so sehr mit Rücksicht auf die Peitsche als auf den
moralischen Beigeschmack, den solche Prügel verursachen. Mit
einer Peitsche werden nämlich in Peking am Wintersuppenfeste
einige Hasen herumgehetzt, die man eigens für diesen Zweck gezüchtet
hat. Da eine Treibjagd auf dem Felde mit zu vielen Umständen ver-
bunden wäre, stellen Wunderpillenfabrikanten sie innerhalb der vier
Wände ihres Hofes an. Wenn das Tier ungefähr zu Tode gehetzt
ist, wird auch ihm der Garaus gemacht in oben beschriebener Weise.
Die Hetzjagd auf Hasen erinnert mich an eine andere Tier-
hetze, welche gleichfalls zum Zwecke der Heilung von Krankheiten
unternommen wird. Das gehetzte Tier ist ein Huhn. Es wird
demselben eine bestimmte Medizin eingegeben, die sonst der Kranke
— 39 —
nehmen müßte. Hat es dieselbe glücklich hinuntergeschluckt, geht
das Hetzen los und dauert so lange, bis das Tier ganz in Schweiß
gebadet ist und nicht mehr laufen kann. So wie es da ist, „mit
Haut und Haaren u und Eingeweiden, geht's dann mit ihm in einen
Topf voll brodelnden Wassers; darin wird es eine Stunde lang gekocht.
„Steh auf und iß", wird dann der Kranke kommandiert. Zuerst
muß er die Suppe trinken und schließlich das Fleisch verzehren.
Erwähnt sei noch, daß weder Salz noch sonstige Würzmittel in den
Topf dürfen, denn der Kranke ist ein Wassersüchtiger, dem der
Gebrauch solcher Reizmittel (an erster Stelle des Salzes) strengstens
verboten ist. Der Kranke, um den es sich diesmal handelte, war
niemand anders als unser hochw. P. Provikar Freinademetz. Er
hatte die Wassersucht in solch hohem Grade, daß ein dieserhalb
konsultierter europäischer Arzt nur wenig Hoffnung hatte auf Erhal-
tung seines Lebens. Mancherlei Arzneimittel, europäische sowohl
als chinesische, waren ohne Erfolg gewesen. Zwei Medizinhühner
aber, die ihm ein berühmter Chinesen-Doktor verordnete, haben ihn
innerhalb weniger Tage glücklich durchgebracht. Das war vor acht
Jahren; der Kranke ist aber seitdem nie mehr rückfällig geworden.
a oceoeeec *»" -
Der Winter.
„Dem Schweine friert zunächst der Bauch,
Dem Hunde seine Schnauze;
Beim Menschen beginnt die Kälte bei den
[Füßen. tt
(Chines. Sprüchwort.)
Tschu long tu p'i,
Kou long zui;
Yin long, sit'ii ts'ung tjüo chia tj'i.
S?|^IPSm ! t Winter m it seinem Schrecken steht vor der Tür. Anzu-
^Ij'^SB klopfen braucht er nicht lange, denn die meisten Türen
^ÄSsi^S °^ nen 8 * cn mm von 8e lber. Nur ein leiser Windhauch
&IÖV& 11 genügt, und sie fliegen offen, da Schloß und Klinke fehlt.
Und selbst wenn ein Riegel von innen vorgeschoben wird, gibt es
spannenweite Fugen und handbreite Fensterlöcher, durch die der
kalte Nord nach Herzenslust hineinbläst. Kein Zimmerofen schlägt
ihn aus dem Felde; unbehindert dringt er ein, in die Hütten der
Armen sowohl, als auch in die Wohnungen der Reichen. Machen
letztere auch mal ein Feuerchen an im Kohlenbecken, so sind doch
— 40 —
meistens an Fenstern und Türen Spalten genug, aus denen die
Wärme bald wieder entweicht. Das ist auch ein Glück, denn sonst
würden die giftigen Kohlenoxyde sicherlich mehr Opfer fordern.
Den besten Ofen trägt der Chinese am eigenen Leib, sein
Fellkleid nämlich, das ihn von der Außenwelt fast hermetisch ab-
schließt. Darin fühlt er sich denn auch sicher wie in einer Burg,
und läßt Wind und Wetter in gedeckter Stellung an sich vorüber-
ziehen. Für Gesicht und Hände aber steht das Feuerbecken in
Bereitschaft, das er gar auf Ausgängen mit sich führt, wie daheim
die Fauen ihren Muff. Feuerbecken dieser Art haben die Form
eines Körbchens und sind mit einem durchlöcherten Deckel geschützt.
Selbst auf Reisen werden in Sänften und Karren solche Dinge mit-
geführt, und raffinierte Verzärtelungskunst verbirgt sie in Ärmel
und Busen. Wenn dann ein Heimchen im Versteck (in der Achsel-
höhle) nebenan traulich zirpt, läßt man sich's wohl sein und genießt
Sommerfreuden im kalten Winter. Ebenso wie die Häuser von
einander verschieden sind, sind es auch die Felle. Während sich die
Reichen in Häute hüllen, die kaum gegen Silber aufzuwiegen sind,
und von denen ein einziges Kleidungsstück oft ein ganzes Kapital
kostet, nimmt der Arme mit einem schäbigen Hundefelle vorlieb,
das er sich um die Schultern schlägt. In Schafs- und Ziegenfelle
aber kleidet sich der Herdenmensch, der Mittelstand, falls er sich
nicht mit wattierten Kleidern allein schon begnügt. Und schließlich
sind gut wattierte Hosen mit einer Jacke ganz vorzügliche Kältepan-
zer. Wenn die Füße dann noch in wattierten Strümpfen stecken und
diese in Schuhen von Bast oder Binsen und der Kopf bedeckt ist mit
einer Pelzmütze, kann der Kampf mit den Elementen gewagt werden.
Hat der Chinese seine Leibesbehausung hergerichtet, was für
manchen jedes Jahr eine wahre Lebensfrage bedeutet, gibt er sich
daran, auch seine Familienwohnung zum Einzüge des gestrengen
Herrn Winters zuzurüsten. Es scheint das schon Jahrtausend alter
Brauch zu sein. Schon im Buche der Lieder singt der Dichter:
Im zehnten Monat geht das Heimchen unter minor Bett.
Man stopft die Hitzen, räuchert nus die Mäuse,
Verschließt die Fenster, übertüncht die Türen.
Voll Mitleid spreche ich zu Frau und Kind :
Angekommen ist ein neuer Wind :
In diesem Heim da wollen wir wohnen.
(Pin, 15. 1. 1114 v. ehr.)
Die Mäuse haben es sich während des Sommers unter dem
Familienbett (Khang) gut sein lassen. Jetzt wird Feuer darunter
angemacht, und sie müssen Reißaus nehmen. Ritzen und Locher
— 41 —
aber werden mit Lehm zugeschniiert, desgleichen die Türe aus
Röhricht oder Sorghostengel, wie sie auch heutzutage noch vielfach
Brauch ist bei armen Bauten. Vor die Fensterlöcher wird ein Stück
alte Matte gehängt, oder man verklebt sie mit Papier. Das gibt
von Innen der Wohnung ein ungemein frostiges Aussehen; dem
chinesischen Winter aber ist es versagt, Blumen auf die Scheiben
zu malen. Doch für solche Poesie haben unsere Bezopften wenig
Sinn. Die größte Anziehungskraft für sie hat das oben genannte
Familienbett. Was für unsere Vorfahren daheim früher der Herd
bedeutete, das ist für den Chinesen annoch der Khang. Das gewal-
tige „Möbel" aus Luftziegeln gebaut und meistens ein Viertel der
ganzen Stube einnehmend, hat für chinesische Verhältnisse viele
Vorzüge und entbehrt auch des Reizes nicht. Bei uns im West-
falenlande benutzte früher das Bauernvolk vielfach so ein Mittelding,
das halb Herd halb Ofen sein sollte, und das in Mitte der Wand
gesetzt zur Küche hin die Kochtöpfe aufnehmen, auf der andern
Seite aber die „beste Stube" heizen mußte. Der Chinesische Khang
versieht gleichfalls ein Doppelgeschäft. Mit seinem Kopfende ist er
Kochmaschine, die Verlängerung davon aber wird als Familienbett
benutzt und dient als „Plauderstübchen", so lange man nicht darauf
schläft. Dann sitzt alt und jung in trautem Kreise versammelt, und
wir finden dort ein Stück Familienfrieden und Feierabend nach
chinesischem Begriffe.
So ein Kommunistenbett ist auch nicht selten mit einer General-
decke versehen, unter die sich alt und jung während der Nacht ver-
kriechen. Es dauert meistens eine Weile, bis unter allen Zipfeln
Ruhe herrscht, denn jeder zieht und zupft, um ein recht großes
Stück zu ergattern ; darüber gerät er bisweilen mit seinem Nachbar
in Kontakt und Konflikt, bis schließlich der Gescheidteste nachgibt
und das ganze Nest in Morpheus Armen friedlich schnarcht.
Kürzlich erzählte mir ein Pfiffikus, wie er es einmal im Wirts-
haus gemacht, als die Decke gar so klein, der Genossen aber so
viele gewesen. Er habe sich anfange ganz ruhig verhalten, bis
man ihn schließlich auf die Seite gedrängt. Dann habe er angefan-
gen sich zu kratzen aus Leibeskräften. Dem Nachbar sei das
verdächtig vorgekommen, und dieser habe ihn gefragt, ob er denn
bei der kalten Jahreszeit noch voll Ungeziefer stecke. Das nicht,
lispelte unser Pfiffikus, aber, fügte er leiser hinzu — ich habe so
arg die Krätze. Der Nachbar habe sich dann schnell auf die Seite
gedrückt und ihm Bewegungsfreiheit gelassen nach Belieben. In
„besseren" Wirtshäusern worden die Decken für eine Nacht an
— 42 —
Gäste vermietet, meistens zu 10 — 20 Käsch für eine Nacht. Die
am meisten beschmutzten und von Fett glänzenden gebraucht man
als Unterbett, in die anderen hüllt man sich ein.
Spät in der Nacht klopft da neulich ein Wirt an die Türe
unseres Nachbars. Er möchte gern eine Decke leihen, denn eben
ist noch ein Gast gekommen, der gern 20 Käsch dafür zahlen will.
Kaum hört der Nachbar die 20 Käsch nennen, springt er hurtig
aus seiner Decke, rollt sie auf und überläßt sie dem Wirte; für 20
Käsch will er sich gern eine Nacht behelfen und frieren.
Unter den Bergbewohnern gibt es übrigens Unzählige, die
selbst bei der größten Kälte keine Decken gebrauchen. Statt der-
selben ziehen sie ihre Kleider aus und decken sich damit zu. Wenn
es dann während der Nacht nicht mehr will und die Kälte sie nicht
schlafen läßt, stehen sie auf, hängen sich die Kleider lose um die
Schultern und machen von dürrem Bergstroh ein Feuerchen an.
Daran wärmen sie sich nach Herzenslust; schließlich hält man die
Kleider über das Feuer, wodurch das Ungeziefer hinaus geräuchert
werden soll, und begibt sich wieder zur Ruhe. Wenn es recht kalt
ist, werden derartige Erwärmungskuren während der Nacht mehrere
Male vorgenommen.
Kommt bei Tage ein Gast, so ist die erste Frage, ob es ihm
kalt sei. Er behauptet natürlich das Gegenteil, aber trotzdem wird
sofort in der Mitte des Zimmers ein Feuer angezündet. Um das-
selbe hockt man sich im Kreise ; wenn der Rauch zu sehr die Augen
zerbeißt, tritt man eben hinaus und trocknet sich die Tränen. Die
Hauptbeschäftigung vieler Bergbewohner besteht im Winter darin,
daß sie während des Tages Brennmaterial suchen, wenigstens soviel,
um sich glücklich durch die nächste Nacht zu wärmen. Kleider
und Leute bekommen durch das beständige K'ao chuo (sich am
Feuer erwärmen) allmählich das Aussehen rußiger Schornsteinfeger
aus alter Zeit (neueren Datums sind ja nicht mehr so schwarz).
Zudem sind die Chinesen keine sonderlichen Freunde von Wasser,
zumal nicht von kaltem. Das Waschen wird deshalb auf wärmere
Zeit verschoben, oder man überläßt es dem Barbier, wenn er das
Haupt rasiert. Und riechen tun unsere Bergbewohner wie geräucherte
Bückinge, will sagen wie der Rauchfang bei regnerischem Wetter.
An einer Brücke in Luzern ist zu lesen:
Was trachtest du nach hohem Gcbäu —
Du wirst nicht machen alles neu.
Grab eine Elle die Erde au»
Dann hast du schon ein gemauert Haus.
— 43 —
Nach diesem Rezepte bauen im Winter viele Chinesen, beson-
ders solche, die mit Kleidung und Wohnung schlecht bestellt sind.
Diese Erdwohnungen, Ti-jin-tse genannt, stellen oft einen beträchtlichen
Raum dar, in dem sich mehrere Dutzend Personen bequem aufhalten
können. Die Höhe ist für Leute mittleren Schlages berechnet; wem
der Kopf zu hoch gewachsen ist, stößt ihu sich an den Balken in
der Mitte des Zimmers. Über dem Balken liegen dünnere Quer-
hölzer; diese tragen Sorghostengel. Das Ganze ist dann mit einer
dicken Schicht Erde überdeckt. Am südlichen Ende wird ein Loch
gelassen; durch dasselbe steigt man vermittelst einer Leiter hinab.
Diese Erdwohnungen finden im Winter eine ausgiebige Verwendung.
Arme Leute wohnen darin mit Kind und Kegel ; der Gärtner bewahrt
darin sein Gemüse auf, sowie Blumen, welche die Kälte nicht ver-
tragen können. Wer im Winter etwas verdienen will, steigt in die
Ti-jin-tse hinab, um Matten zu flechten oder Feuerwerk herzustellen
für Neujahr. Töpfer arbeiten an ihrer Drehscheibe ; Frauen spinnen
und weben oft bis tief in die Nacht hinein. Zweifelhafte Elemente
aber, die ihren Beruf darin suchen, Zeit und Geld zu vergeuden,
finden in der Ti-jin-tse einen beliebten Schlupfwinkel, um verbotenen
Spielen obzuliegen.
Die Chinesen teilen den Winter in eine Kälteperiode von
neun mal neun Tagen ein, welche mit dem 22. Dezember beginnt.
Jede Neun hat ihren eigenen Charakter, und wenn das eine über-
standen ist, hofft man auf das folgende, bis schließlich mit dem
letzten Neun „Weiden und Pappeln die Nase zu fließen beginnt".
(Anspielung auf die baumelnden Kätzchen.) Das Ganze ist so eine
Art „Reserve-Kalender" und soll mithelfen, sich durch das strenge
Regiment des Winters hindurchzuhoffen :
Erste und zweite Neun, hält die Hände im Ärmel ;
Dritte und vierte Neun, führt aufs Eis;
Die Hälfte der fünften Neun reißt die Eisdecke auseinander;
Am Ende der sechsten Neun ist Frühlingsanfang;
Das Ende der letzten Neun läßt die Pappeln erblühn.
Am kältesten ist es in der dritten Neun, wie es am heißesten ist in der
Mitte der Hunds tage.
In seiner äußeren Gestalt betrachtet, hat der chinesische Winter
ein viel prosaischeres Gesicht als unser Winter daheim. Nur äußerst
selten trägt er um seinen Schultern den Hermelin des Schnees, so
sehr auch die Bauern für ihren Weizen darnach verlangen. Sein
Bart ist wegen der trockenen Kälte nur höchst selten mit wenigen
Eiszapfen geziert und im Rucksacke finden sich weder Apfel noch
— 44 —
Nüsse. Die chinesische Jugend kennt nichts von Schneeballworfen,
und Schlittschuhlaufen ist ihr gleichfalls ein unbekanntes Vergnügen.
Ist gut Vorrat eingesammelt, dann läßt's sich noch leidlich leben;
geht es aber in den Winter mit leeren Kornkörben, dann muß man
sich anstrengen, möglichst wenige Kräfte zu verbrauchen, und man
nimmt zum Schlafe seine Zuflucht. Mancher begnügt sich mit ein-
maliger Mahlzeit im Tage, die er gegen Mittag verzehrt. Wenig
arbeiten, denken und träumen hält die Kräfte zusammen, läßt den
Hunger vergessen und führt unvermerkt in bessere Zeiten. Somit
ist mancher Hungerkünstler, nicht aus Liebhaberei, oder Geld damit
zu verdienen, sondern um Kräfte und Brot zu sparen.
Besonders hart aber packt der rauhe Winter die armen Bettler
an auf offener Straße und die Eingekerkerten in ihren Gefängnissen.
Notdürftig nur mit einem Stück Sackleinen oder einem haarlosen
Hundefelle um die Lenden bekleidet, eilen die Jammergestalten vom
kalten Nord gepeitscht durch die Straßen. Wer sie einmal gesehen,
wird ihren Anblick so leicht nicht mehr los. Bei Tage suchen und
stehlen sie sich etwas Brennmaterial zusammen; am Abende ver-
sammeln sie sich dann meistens in einer Pagode, machen in einem
Winkel derselben ein Feuerchen an und kochen sich etwas Wasser,
worin sie die erbettelten Brotstückclien tunken ; in die warme Asche
aber kauern sie sich während der Nacht zusammen. Ungewaschen
und ungekämmt stehen sie dann am Morgen auf, das Jammerleben
beginnt von neuem. Wohl niemand harrt dem Frühlinge sehnsuchts-
voller entgegen, wie diese Armen. Und wenn sie dann einmal
gründlich gewaschen und rasiert werden und die warme Sonne scheint
auf den glatt polierten Schädel, fühlen sie sich wie neugeboren,
und alles Winterelend ist vergessen.
Was die Gefangenen betrifft, so werden gegen Ende des
Herbstes die Listen von solchen, die ihr Leben verwirkt haben, an
den Kaiser geschickt. Dieser bezeichnet eine Anzahl derjenigen,
welche enthauptet werden sollen. Es geschieht das zur Zeit des
„großen Schnees" (am 7. Dezember). Die anderen bekommen wär-
mere Kleider für den Winter und müssen im Gefängnisse verbleiben*
Wenn sie während mehrerer Jahre der kaiserliche Befehl verschont
hat, avancieren sie mit der Zeit zu Gefängniswärtern empor, oder
man schickt sie in die Verbannung.
Den Glanzpunkt für uns Christen im Winterzenith bedeutet
das h. Weihnachtsfest mit seinem Himmelsfrieden und seinen Kinder-
freuden. Chinas Millionen wissen nur zum kleinsten Teil von den
Segnungen der h. Weihnacht, und die meisten schmachten noch in
— 45 —
den Finsternissen des Heidentums. Für sie ist der ]N*eujahrstag das
Nationalfest, an dem sich Freund und Feind neuen Frühling, neue
Freunde wünscht.
£c « m w
Uen-pa-chi-ti.
Jnser abgelegenes Dorf Puoly wird zu Beginn der kalten
Jahreszeit alljährlich von einigen Theatergesellschaften
.^besucht, die, aus der Provinz Chili kommend, auf dem
^/(©LföV® Woge zum wärmeren Süden gerne hier vorsprechen.
Gewöhnliches Landvolk ist es, das in den Sommermonaten auf dem
Felde seine Arbeit tut, während des Winters aber Akrobaten- und
Kasperlekünste zum Besten gibt. Man nennt sie Uen-pa-chi-ti
„Faust-Theaterspieler", weil ihre Künste hauptsächlich durch die
Geschicklichkeit der Hände verrichtet werden. Die Arbeit hat natür-
lich die Leute etwas ungelenkig gemacht und deshalb fallen Anfangs
die Aufführungen nicht immer, zum Besten aus.
Kommt da vor einigen Tagen wiederum eine fünf Köpfe starke
Bande und meldet mit lauten Tamtamschlägen ihre Ankunft an.
Die Hauptmitglieder gehören wie gewöhnlich dem jungen Volke an.
Elternlose Kinder sind es meistens, von der Strasse aufgelesen oder
von Verwandten an Theaterspieler um ein Geringes verkauft. Auch
soll es vorkommen, daß kleine; Knaben von Akrobatenkünstlern
aufgeschnappt und gestohlen werden.
Es ist ein saures Brod, das die Leute sich verdienen, obschon
sie immer guten Humor erheucheln müssen und die Zuschauer ins
lustige Lachen bringen. Die Gliederverrenkungen, die die Knaben
machen, können nur durch langjährige Übungen erlernt werden,
und sie müssen damit beginnen, wenn die Glieder noch zart und
geschmeidig sind. Radschlagen von vorne herüber und hinten
hinüber; Radschlagen ohne jeden Anlauf; auf einem Beine stehen,
während das andere senkrecht in die Höhe gestreckt wird; sich
beim Gehen mit der Fußspitze vor die Stirne schlagen; auf Stelz-
füßen tanzen und sich wie ein Kreisel herumdrehen: das sind so
die gewöhnlichen Übungen. Besonders aufregend sieht es aus, wenn
ein kleiner Knirps von höchstens zehn Jahren sich rücklings hin-
überbiegt, daß er mit Händen und Füßen die Erde berührt, der
Leib aber eine Brücke bildet. Auf diese stellt sich dann ein erwach-
— 46 —
sener Mann, ohne sich sonst irgendwo anzurühren. Einem andern
Knahen legt man eine Stange über den Rücken ; auf diese werden
die Hacken des Jungen gebogen, so daß er gleichsam seine eige-
nen Füße auf den Schultern trägt.
Recht geschickt ist unsere Gesellschaft auch in Aufführung
von Taschenspielerkünsten. Da werden Mäuse, Fische, Hühner und
dergleichen „aus der Luft" hervorgezaubert und zwar mit einer
Schnelligkeit und Gewandtheit, daß der Zuschauer rein nichts von
den gemachten Kunstgriffen merkt.
In einen Rahmen werden Messer gesteckt, die eine runde
Öffnung scharf abgrenzen. Ein Akrobat wirft sein Oberkleid ab,
schnürt die wattierte Hose fest um die Hüfte, nimmt einen Anlauf
und futsch — ist er durch den Messerkreis gesprungen, ohne sich
auch nur geritzt zu haben. Im vorigen Jahre aber blieb einer bei
dem Sprunge hängen, fiel mit dem Messerrahmen um und verletzte
sich dabei nicht wenig.
Grausig ist es anzusehen, wenn einer der Künstler in einen
Beutel greift, in dem sich ein Nest Schlangen zu einem Knäuel
verwickelt. Er zieht ein meterlanges Exemplar daraus hervor,
nimmt dessen Kopf und zwängt ihn durch eines seiner Nasenlöcher.
Das Tier kriecht in der Nase empor, findet im Munde einen Aus-
weg; der Bändiger aber ergreift den Schwanz des Reptils und
bindet ihn mit seinem Zopfe zusammen. Die Schlange krümmt
sich im Gesichte herum, züngelt gegen die Zuschauer; aus dem
Munde des Akrobaten aber läuft der Speichel herunter.
Schuldenmachen und Schuldeneintreiben.
|& HR- Afl 3< Wfc Borgen ist soviel als verlieren.
(Sprüchwort)
I
Jchuldenmachen und Schuldeneintreiben — das ist ein lang-
beiniges Wort; die Chinesen wissen sich kürzer zu fassen,
^ inrioni sie ;#£ gg, |g fjg la tschan, yao tschan sagen. Das
#/iftV^i l* 1 tschan (Schuldenmachen) tut man im Laufe des Jahres,
das yao tschan (Schuldeneintreiben) aber beginnt im flfifcü la yüo,
im letzten Monate des Jahres, und so kurz das Wort auch ist, so
ließe sich doch eine ganze Jeremiade darüber schreiben. Schulden-
eintreiben ist ja auf der ganzen Welt kein angenehmes Geschäft;
in China aber, wo das Herz mit dem Gelde verwachsen zu sein
— 47 —
scheint, macht es noch viel mehr Schwierigkeiten zu seinem Eechte
zu kommen als anderswo. Es gehört dazu des Chinesen ganze
Beredsamkeit und zähe Ausdauer, und wenn es ihm an dem einen
oder andern fehlt, kann er jahrelang die nähmlichen Forderungen
stellen, ohne jemals etwas zu bekommen, und obendrein bleibt er
der Geprellte. Wollte er seinen Schuldner verklagen, so käme er
nur vom Regen in die Traufe, und die vielen Auslagen, welche der
Prozeß ihm verursachte, würden sich wo möglich noch höher belaufen
als seine Forderung. Gründe zum Nichtzahlen hält der Schuldner
feil wie Brombeeren, und wenn auch kein einziger stichhaltig ist,
so sind sie doch geeignet die Geduld des Fordernden auf harte
Proben zu stellen und seine Redekunst zu prüfen. Fragen wir einen
Bedauernswerten, welcher das Schuldeneintreiben besorgt: $J ^ #J
hao pu hau (wie geht's), so zeigt er stumm (er ist schon heiser
geworden von all den guten und bösen Worten, die er bei seinem
Geschäft hat an den Mann bringen müssen) auf seine verschlissenen
Schuhe und versichert, demnächst lieber mit Betteln sein Brot ver-
dienen zu wollen, als sich von einem hartnäckigen Schuldner nas-
führen zu lassen. Doch folgen wir ihm auf seinem stillen Gange;
Schuldeneintreiben ist auch eine Kunst — am Ende können wir da
von den Chinesen noch etwas lernen.
Frühmorgens macht er sich auf den Weg; er ist noch nüch-
tern, nur ein Pfeifchen Taback hat ihn etwas belebt und kregel
gemacht. Er hofft bei seinen Schuldnern zu speisen und in diesem
Vertrauen hat er auch keinen einzigen Käsch in seinen Ranzen
(!£ iF ta-tse) gesteckt, der schlapp wie ein Schmachtlappen über
seinen Schultern hängt. Rüstig schreitet er fürbaß, denn die rauhe
Luft bläst ihm recht unsanft um die Nase, die dünnen Beinkleider
aber bieten der Kälte nur wenig Widerstand. Zu Hause hat er
wohl eine wattierte Hose, doch darin läßt sich's schlecht marschie-
ren, auch ist es nicht empfehlenswert schöne Kleider anzulegen,
wenn man von den Leuten Geld einfordern will. Da muß das
ärmliche Äußere mitsprechen und falls es ein wenig zerlumpt ist,
kann das auf keinen Fall schaden; dann merkt der Schuldner ja
sogleich, daß es die Not ist, welche den lästigen Besucher so ein-
dringlich reden macht, so unbarmherzig fordern läßt.
Unser Besucher hat seinen Mann getroffen; der ist eben aus den
Schlafdecken gekrochen, das Haus ist voll Rauch, man hat Feuer ange-
macht die Morgensuppe zu kochen. Was die beiden da zusammen
reden, entnehme ich einem chinesischen Geschichtenbuche, worin ein
Stückchen steht mit der Überschrift „ein hartnäckiger Schuldner u .
— 48 —
„Ach, endlich einmal" — redet X den Y an — „treffe ich dich!
Zu Hause warst du nimmer zu finden und draußen scheinst du mir
geflissentlich aus dem Wege zu gehen. Bezahle doch endlich deine
Schulden, denn es ist schon der letzte Monat im Jahre und ich
brauche das Geld notwendig." — „Ganz recht" — erwidert Y —
„schon längst hätte ich meine Schlden abtragen sollen. Aber denke
dir einmal, hätte ich dich vor Jahren ausgezahlt, dann würdest du
fetzt keinen Käsch mehr zu fordern haben, geschweige denn die
Zinsen, auf welche du alle Jahre Anspruch machst." „Unsinn" —
entgegnet X — „ich würde das Geld längst anderswo verliehen
haben und ich hätte mehr Zinsen bekommen als bei dir." „Aber
denke dir" — antwortet Y — „ich sei ins Ausland gereist, würdest
du mir dann folgen und dein Geld von mir fordern?" „Nein, dann
würde ich halt warten, bis du heimkehrtest." „Aber wenn ich
niemals zurückkehrte, dann müßtest du doch auf deine Forderung
verzichten!" „Rede keinen Unsinn mehr" — entgegnet X — „wie
kannst du mir ins Gesicht sagen, ich müßte auf meine Forderung
verzichten!" — Y aber läßt sich nicht aus der Fassung bringen und
mit einer Abrahain'schen Beharrlichkeit beginnt er von neuem:
„Nun denke dir aber einmal, ich sei vollends außer Stande deine
Forderung zu begleichen, und wir gerieten darob in Streit; würdest
du mich dann etwa niederhauen? Und wenn du mich aus Versehen
gar totschlügest, dann ginge es dir auch an den Kragen. Wenn
ich dich aber umbrächte, dann könnte dir das Geld auch nicht mehr
nützen. Da ist es für uns beide vorteilhafter, als friedliche Leute
weiter zu leben." Schließlich wird es dem X doch zu toll und
erzürnt ruft er nun: „Jetzt aber genug! Ich will mein Geld haben
und damit basta!" Euhig entgegnet Y: „Mit dem Gelde mußt
du dich noch etwas gedulden, und dabei bleibt es! 1 ) — Doch laß
uns vernünftiger von Anderem reden. Frau, bring eine Schüssel
Suppe her. Komm Freund, erwärme dich ; es ist heute bitter kalt,
aber so ein Mehlbrei (hu tu) erwärmt Herz und Gemüt. Um aber
noch einmal auf meine Schuld zurückzukommen, so verspreche ich
dir selbige noch vor dem 25. in diesem Monat auszahlen zu wollen."
Der geprellte X ist nicht gerade besonders zum Breiessen aufgelegt,
aber er denkt sich : das Geld bekomme ich diesmal doch nicht, da
will ich wenigstens eine Schüssel Brei mitnehmen. — Nachdem er
sich gestärkt hat, scheiden Schuldner und Schuldeneintreiber unter
vielen Komplimenten von einander. Der eine schmunzelt bei sich:
nächstens kriege ich dich schon — der andere überlegt still in seinem
] ) Soweit aus dem chinesischen Qeschiclitenbuche.
— 49 —
Innern, wie er sich beim nächsten Besuche am besten und zeitig
genug aus dem Staube machen kann.
Und weiter macht sich unser Freund auf den Weg ; sein Magen
ist leidlich gestärkt, aber der Ranzen hängt noch schlapp wie zuvor
über den Schultern. Er hat es eilig, denn er muß noch mehreren
dutzend Schuldnern seinen Besuch abstatten, und wir dürfen ihm
ruhig prophezeien, daß er mehr oder weniger das nämliche Schicksal
erleiden wird, wie soeben bei Y. Jetzt glauben wir ihm auch
gerne, daß er demnächst lieber mit Betteln sein Brod verdienen
will, als sich mit hartnäckigen Schuldnern streiten. Nicht selten
kommt er abends heim mit geschundenen Gliedern und durchbläuter
Haut; denn auch Prügel muß er bei seinem Geschäft bisweilen
einstecken, aber er tut es gerne, wenn er nur die Käsch mit-
einstecken kann. —
Begreiflich, daß man für ein so mühevolles und oft so wenig
einträgliches Amt des Schuldeneintreibens „geriebene Kunden" sucht,
die sattsam findig, pfiffig und abgefeimt sind. Sie müssen ein gutes
Mundstück haben und dürfen doch Niemanden beleidigen. Sie
müssen es verstehen, dem flüchtigen Schuldner auch in den entle-
gensten Winkeln nachzuspüren und immer neue Finessen ersinnen,
um den säumigen Zahler zu packen. Für ihre Mühen erhalten sie
als Belohnung von den beigetriebenen Geldern eine bestimmte Rate;
je mehr sie also einheimsen, um so höher beläuft sich ihr Verdienst.
In fast allen Geschäften ist das Krcditgeben gang und gäbe.
Sofortige Zahlung wird aber niemals geleistet bei Färbern und
Apothekern. Für erstere ist es ganz besonders schwierig zu ihrem
Rechte zu gelangen, da sich das Verdienst der Färber ziemlich
hoch beläuft und man es deshalb mit der Zahlung weniger eilig hat.
Zudem ist der gefärbte Rock vielleicht schon bald wieder verschlissen,
für den nächsten hat man aber noch nicht einmal das notwendige
Zeug, geschweige denn Geld den Färber zu bezahlen. Der Apo-
theker hat leichtes Spiel seine Forderungen einzutreiben, wenn die
Medizin geholfen hat; ist der Patient aber gestorben, dann finden
es die Nachkommen höchst ungereimt, Medizin bezahlen zu sollen,
die der Kranke vergeblich gebraucht. Wenn das Geld aber den-
noch teilweise gezahlt wird, so geschieht es nicht ohne viele Schwierig-
keiten und Umstände.
Handelt es sich um größere Beträge, die der Schuldner nicht
zahlen will, so nimmt man wohl seine Zuflucht zum Mandarin.
Ist der Schuldner aber wirklich außer Stande die Zahlung zu leisten,
dann hat der Forderer auch sein Recht verloren und muß sich mit
K. Pieper, „Neue Bündel**. 4
— 50 —
wenigem oder nichts zufrieden geben. Schuldknechtschaft oder
derartiges gibt es in China nicht. Wohl wird der Schuldner eine
Zeitlang eingekerkert und vielleicht auch gezüchtigt, und seine Habe
wird unbarmherzig verkauft. Hat er reiche Verwandte, so müssen
diese sich seiner annehmen, und ein Kompromiß zwischen* dem
Forderungstellenden und dem Zahlungleistenden bringt die Sache
meistens zu einem zufriedenstellenden Abschluß.
Mit Vorliebe wird den Mandarinen geborgt, denn diese sollen
gute Zahler sein. Wenn ein Mandarinen -Aspirant seiner Anstellung
harrt, hat es deshalb meistens keine Schwierigkeit für ihn, die nöti-
gen Gelder zum Unterhalte zu bekommen. Hat er aber erst die
Anstellungsurkunde in Händen, so leiht man ihm gerne die not-
wendigen Moneten zum Schmieren und Repräsentieren. Der Leiher
geht dann auch in der Regel mit dem Mandarin zu seinem neuen
Posten über und erhält, wenn eben möglich, auch eine Anstellung;
andernfalls aber zahlt der Mandarin bald das geliehene Geld zurück,
denn nun sind ja Quellen genug geöffnet, aus denen Silber fließt
für seine Kasse.
Großkaufleute, besonders jene die mit Europäern in Verbin-
dung stehen, werden als gute Zahler gerühmt. Übrigens gibt es
— das möge schließlich noch zur Entschuldigung der Chinesen
gesagt sein — auf der ganzen Welt säumige, ja bisweilen recht
böse Zahler. Davon könnten Schneider und Schuster und sonst
gar mancher ein langes Lied singen. Da bleiben Appell an Ehr-
gefühl ebenso oft überhört als bei den Chinesen der Bambusappell.
Und wenn der Schneiderjunge das wie vielte Mal mit guten Worten
aus der Tür gedrückt worden ist und still bei sich denkt „noch
ist nicht alle Tage Abend u hat sich der Musensohn unterdeß schon
getröstet ad calandas graecas.
Schlau angelegt.
jich ^redlich* durch den Winter schlagen ist für manche
Chinesen eine wahre Kunst. Arbeit ist nicht zu finden,
und aus Feldern und arten gibt es nichts mehr zu sti-
bitzen. Leute 1 von wenig Lebenslust, Kraft und Willensstärke
suchen sich durch den Winter zu betteln oder verschlafen die meiste
Zeit. Unternehmende Geister aber geraten nicht selten auf ganz
seltsame Einfälle; sie treiben eine Art chinesisches Ilochstablerwesen
und, falls es ihnen gelingt, spielen sie den Flotten.
— 51 —
Einer dieser Art, den wir X. taufen wollen, zog allwinterlich
als verkleideter Mandarin umher. Gesinnungsgenossen machten ihm
die Begleitung; Wagen und Pferde mußte man zur Leihe nehmen.
Aber das Geschäft erwies sich rentabel genug, so daß man ihm
nicht umsonst zu leihen und zu borgen brauchte.
Diesen Winter nun nahm er seine Nichte mit, die als Köder
dienen sollte, um neue Geschäfte zu machen. Onkel und Nichte
saßen im Wagen zusammen bis zur nächsten Kreisstadt. Dort ließ
man eine Anzahl Wagenvermieter kommen, wählte ein gutes Yehikel
heraus, das die Nichte allein für sich in Anspruch nahm. Der
Fuhrmann war ein hübscher Bursche, aber auch die Nichte unsers
X. galt als Schönheit ersten Ranges. Wie ganz von selbst näherten
sich da die Herzen und wunderbar genug, daß die netle „ Man-
darinentochter u die Neigung des armen Kutscherschluckers zu erwidern
schien. Es dauerte gar nicht lange, da war man sich einig, d. h.
man wollte sich gegenseitig haben. Aber da bedurfte es noch zuvor
der Einwilligung des gestrengen Oheims.
Der tut denn auch freilich, als sei er aus dem Häuschen, da
ihm die Nichte den Antrag stellte. Wie sie als Mandarin tochter
aus den höheren Ständen doch nur daran denken könne einen Mann
von der Straße zu heiraten, das verstoße gegen alle Etikette. Die
Ansicht des Oheims wurde laut genug ausgesprochen, so daß unser
Fuhrmann bei jedem Worte seine kühne Hoffnung immer mehr
fahren ließ. Doch die Nichte benahm sich jetzt, als sei sie geknickt,
und drohte, sie wolle sich selber das Leben nehmen, falls sie auf
ihre Herzensneigung verzichten müsse. Darauf ließ sich dann der
Alte endlich erweichen, er gab sein Jawort, und kurzer Hand warf
sich das junge Paar auf den Boden und machte dem Himmel
Kout'ou; die Heirat war geschlossen.
Der arme Fuhrmann war somit auf einmal Gemahl einer
Mandarinentocher geworden und wußte sein Glück kaum zu fassen.
Jetzt mußte auch der äußere Mensch dementsprechend aufgebessert
werden. Man schickte ihn selbst zu einem Großgeschäfte in Seiden-
stoffen, wo er nach Bedarf einen neuen Anzug kaufen sollte. Der
neue Gemahl hatte Grütze genug, sich keine schlechten Muster
auszuwählen, und hocherfreut brachte er das Gekaufte der gnädigen
Frau zur Ansicht. Auch diese fand den Stoff sehr kleidsam, und
wohl vergnügt legten sich dann beide zur Ruhe.
Der Glückliche mag dann wohl vom neuen Rock geträumt
haben. Die Nichte des X. aber dachte über andere Dinge nach.
Als um Mitternacht Alles in süßer Ruh lag, stand sie auf, nahm die
— 52 —
Rollen Seidenstoffe, legte sie auseinander und beschmutzte sie in-
wendig mit Haarkämmen und Bürsten und öligen Händen. Dann
wurde alles wieder schön zusammengerollt und auf den alten Platz
gelegt. Am anderen Morgen ließ man einen Schneider kommen,
um das Maß zu nehmen. Aber was war denn das ? Die Seide sah
ja von innen aus wie der reinste Schüssellappen. Eine Mandarinen-
familie durfte sich doch derartige Betrügereien nicht von einem
„lumpigen Kaufmann" gefallen lassen. Sofort mußte der neuge-
backene Gemahl wieder ins Geschäft, um sie gegen bessere Waren
einzutauschen ; überdies beanspruchte X. noch einige hundert Taels
als Strafgeld für den beabsichtigten Betrug.
„Hier steht mein Laden offen, und ich erlaube alle Waren
auf ihren Wert zu prüfen. Findet sich auch nur ein einziges Stück
darin, das von innen oder außen beschmutzt wäre, so bin ich zu
jedem Schadenersatz und zur Strafe bereit. " Doch es ist' nicht
„Mandarinenart" sich auf lange Unterhandlungen einzulassen, wo
es sich um den eigenen Vorteil handelt. Da heißt es einfach ent-
weder oder; das entweder lautete diesmal auf Silber, das oder auf
— den Strick. „Gebt ihr nicht gutwillig bessere Waren und das
geforderte Strafgeld her, so hänge ich mich diese Nacht vor eurer
Türe auf ; und dann kommt das dicke Ende für euch ganz von
selbst." Doch der Kaufmann wußte sich unschuldig und prellen
wollte er sich nicht lassen, sondern schlug dem Fuhrmann die Türe
vor der Nase zu.
Am Abende nun hieß es handeln. Auf ein wirkliches Auf-
hängen sei es nicht abgesehen, wurde unserm weiland Herrn Karren-
führer klar gemacht; denn dafür sei sein Leben doch zu kostbar.
Es sollten deshalb auch zwei Bediente mitgehen, die ihm ihre
Schultern unter die Füße stellten, wenn er am Stricke baumele.
Aber der Kaufmann solle sehen, daß man nicht mit sich spotten
lasse, und er werde dann noch mehr zahlen, als man zuerst gefor
dert habe. So war die Sache abgesprochen, und als es dunkel
geworden und die Straßen leer waren, machte man sich daran, den
Plan auszuführen. Wohl noch Niemand hat den Strick so gerne
um den Hals gelegt als unser Fuhrmannsheld, denn es sollte ihm
ja seidene Kleider und ein gutes Sümmchen Geld einbringen. Doch
der Arme! Kaum hing er da, hängten sich die zwei Spießgesellen
anstatt ihn emporzuheben, an seine Beine, so daß der Unglückliche
in wenigen Minuten regelrecht verschieden war. Als man sich
davon überzeugt, erhoben die Zwei ein Zeter- und Mordgeschrei.
„Schrecklich, schrecklich; es hat sich Jemand aufgehängt!" Der
— 53 —
Kaufmann stürzte aus seiner Tür, die Nachbarn liefen zusammen;
Alle wollten sehen, was sich ereignet habe. Schnell wurde der
Strick durchgeschnitten; man stellte Wiederbelebungsversuche an,
aber es war zu spät. „Sofort zum Stadtmandarin!", schrien die
beiden Bedienten, „und den Fall zur Anzeige gebracht". Der
Kaufmann mit all seinen Leuten machten Kout'ou und erklärten
sich bereit, jede Strafe zu zahlen, nur möge man dem Mandarin
keine Mitteilung machen. Da ging es denn ans Feilschen und
Unterhandeln, das fast die ganze Nacht hindurch dauerte. Der
Kaufmann wurde um zweitausend Lot Silber und eine ganze Ladung
der feinsten Seidenstoffe geprellt. Damit beschwert zog denn der
fremde Lao-je am anderen Tage fort; solch ein fettes Geschäft
hatte er lange nicht mehr gemacht.
Nicht weniger schlau, aber nicht so grausam legte es ein an-
derer Hochstabier an, den wir Y. nennen wollen. Er spielte nicht
die Rolle eines Mandarinen, sondern trat als wohlbestellter Kaufmann
auf, der „geschäftshalber" viele Reisen zu machen hatte.
Trifft er eines Tages unterwegs eine Bettlerin mit ihrem Korbe
und dem unentbehrlichen Hundeknüttel. Schade, denkt unser Y.,
daß so ein fesches Frauenbild sich mit Betteln ernähren muß, die
wäre wohl für etwas anderes brauchbar. Schnell hat er seinen
Plan zurechtgelegt und beginnt sogleich mit der Ausführung. „Lao
t'et'e", redet er das Bettelweib an, „schämt ihr euch denn nicht, daß
eine Frau wie euereiner mit dem Hundeprügel über die Straße
zieht; es scheint mir doch, daß ihr zu Besserem geboren seit".
„Was soll ich anfangen", erwiderte die Alte; „zum Essenkochen
dingt mich Niemand, und ich stehe doch ganz allein auf der Welt".
„Nun so will ich euer Sohn sein", sagt der „reiche Kaufmann",
„dann ist euch geholfen und ihr braucht keinen Hunger mehr zu
leiden. Zu Hause habe ich nur meine Frau und eine erwachsene
Tochter, die sich demnächst verheiratet. Dann muß meine alte
Hälfte (lao pöl) allein das Heim hüten, und so etwas mag ich doch
nicht gerne zugeben, zumal ich fast das ganze Jahr hindurch auf
Reisen bin. Ihr habt nichts weiter zu tun, als meiner Frau Gesell-
schaft zu leisten ; auf diese Weise ist uns Allen drei ein Dienst
erwiesen."
Was die Bettlerin da hörte, klang fast wie Spott; und ungläu-
big, ja unwillig richtete sie ihre Augen zu dem Sprecher empor.
Doch der schaute recht ernst drein und sah gar nicht darnach aus,
als wolle er Spaß machen. Ehe sich die Frau auf eine Antwort
besonnen hatte, fuhr er fort: „Wenn ihr auf meinen Vorschlag
— 54 -
eingehen wollt, so werft eure Bettelgeräte auf die Seite und setzt
euch mit auf den Wagen; denn ich muß weiter fahren". „Aber ist
es euch denn wirklich Ernst, mit dem, was ihr da gesagt habt?",
trug die Bettlerin noch einmal ungläubig. „Ja freilich, oder glaubt
ihr denn ich wolle hier mitten auf dem Fehle Schabernack mit
euch treiben; steigt schnell, auf den Wagen, daÜ wir weiter kom-
men." Schnell flogen Korb und Ilundepriigel auf die Seite, und
behende hüpfte die neugebackene Mutter zu ihrem vornehmen Sohne.
Unterwegs fand sie etwcis Zeit, sich in ihr neues Glück hinein-
zuleben und zu fragen, wohin es denn eigentlich gehe. „Zunächst
in die nächste Stadt", antwortete Y. „Ihr müßt dort neue Kleider
anlegen, ich dürfte euch ja sonst nicht Mutter nennen." Im Wirts-
haus wurden dann vor der Hand die alten Lumpenkleider gegen
bessere umgewechselt und dann ging es in das erste Manufaktur-
geschäft. Der Sohn wurde als ein fein gekleideter Herr mit vielen
Knixen empfangen, und da er die Alte als seine Mutter vorstellte,
wurden auch dieser die» entsprechenden Ehrenbezeugungen erwiesen.
Man wollte Einkäufe für den Winter machen, und der Kaufmann
möge nur die besten Stoffe vorlegen. Das geschah auch, und nun
begann das Aussuchen. Zuerst besah Y. die Waren, und wenn sie
von der Mutter gut befunden waren, wurden sie auf die Seite
geschoben. Schon lag ein ansehnlicher Haufen da, grade genug,
daß ihn ein Mann noch eben forttragen konnte.
„Packt diese Sachen erst zusammen", befahl Y. dem Kauf-
mann. „Ihr könnt dann", sprach er zu seiner Mutter, „einmal
nachdenken und sehen, was noch Gutes zu kaufen wäre. Ich will
dieses Paket gleich mitnehmen und Silber holen. Komme icli
zurück, machen wir die Rechnung fertig.* „Gut so", antwortete
der Kaufmann; und während er der Mutter wieder neue Stoffe zur
Auswahl vorlegte, nahm der Sohn sein Paket auf den Rücken und
ging ins Wirtshaus zurück.
Die Alte schien noch viele Wünsche zu haben, denn sie fand
gar mancherlei, das ihr zusagte. Schon war ein neuer Haufen zum
Einpacken aufgeschichtet, aber der Sohn war unterdes nicht zurück-
gekehrt. Man trug also ein Tauchen Tee zur Stärkung auf und
wartete auf den Sohn. Aber der wollte immer noch nicht heim-
kehren, und das Wirtshaus war gar nicht so weit entfernt. »Der
Herr, der da fortgegangen ist, ist doch euer Sohn?", fragte endlich
gelangweilt der Kaufmann. „Ja freilich*' antwortete die gewesene
Bettlerin; „ich begreife auch nur nicht, wo er sich so lange aufhalten
mag." Von wo habt ihr eure Reise denn gemacht, forschte der
— 55 —
Kaufmann weiter. „Ja das — weiß ich selbst nicht", erklärte
stotternd die Alte. Der Herr ist nicht mein leiblicher Sohn, er hat
mich erst heute unterwegs zur Mutter erwählt. u — „Schnell ins
Wirtshaus ", schrie erregt der Kaufmann seinem Gehülfen zu. Im
Augenblick kam dieser mit der Meldung zurück, Herr Y. sei bereits
vor einigen Stunden aufgebrochen und Niemand wisse wohin. Das
war die zweite Überraschung an einem Tage für das arme Bettel-
weib ; doch hatte es bei der Geschichte noch einen heilen Rock
erobert, der mehr wert war, als ein Hundeprügel und der Bettelkorb.
Der Kaufmann aber schallt sich einen Narren, weil er so glatt in
die Falle gegangen war.
Wie die Chinesen ihre Götzen betrügen.
n
~^as Bedürfnis hinterlistig zu sein und Schleichwege zu gehen
;SB ist bei unsern Zopfträgern dermaßen ausgeprägt, daß sie
'* bei Lebenden und Toten, an Teufeln und Geistern sich
damit versuchen.
Da ist Jemand von irgend einem Leiden geplagt. Weil ihm
die Menschen nicht helfen können oder wollen, wendet er sich an
irgend einen Götzen. Ei verspricht diesem zu Neujahr ein Schwein
zum Opfer, falls seine Bitte Erhörung findet. Das Leiden ver-
schwindet, und deshalb heißt es das Gelübde auslösen. Aber ein
Schwein kaufen ist keine Kleinigkeit, besonders wenn die Sapeken
selten geworden sind, wie es gerade zu Neujahr meistens der Fall
ist. Doch das Gelübde muß gehalten werden, sonst würde sich
der Geist rächen. Unser Chinese weiß sich zu helfen. Er kauft
Kopf, Füße und Schwanz von einem Schwein, ordnet diese auf
einem Opferbrett säuberlich zusammen, und trägt es in die Pagode.
Daß die Hauptsache fehlt, bemerkt der Götze nicht; die Umrisse
sind da, also wird das Zwischenstück nicht fehlen. Das ist auch
der Grund, daß zu Neujahr die „ Konturstücke u doppelt so teuer
bezahlt werden wie sonst im Jahre, wo sie als minderwertiges Fleisch
wenig geschätzt sind.
Andere lösen ihr Gelübde wieder mit einem papiernen
Schweine aus oder kneten eins von Mehl, und der Götze gibt
sich damit zufrieden.
Götter und die Menschen betrügen, tun zumal zur Winterzeit
gerne lose Flegelfrommc, die sich bei irgend einem bekan nV
— 56 —
Bonzenabte gegen Vergütung einen Bonzenrock ausleihen. Das
Käppchen dazu macht keine Schwierigkeiten; fast jeder Schneider
kann es anfertigen, und die Auslagen dafür sind gering. Solcher-
gestalt tritt der junge Novize, von Türe zu Türe bettelnd, seine
Rundgänge an. Man gibt ihm gerne, denn er betet für die from-
men Geber, wobei er eine Heiligenmiene aufsetzt. Das Erlernen
der Litanei hat ihm keine Anstrengung verursacht. Die Bonzen-
gebete sind nur den Göttern verständlich und deshalb kann ein
gewöhnlicher Sterblicher aus dem Gemurmel nicht heraushören,
ob es stimmt.
Fragt man ihn, wofür er bettle, dann sagt er zum Bau der
„Wu-ts'ang- Pagode u . Wu-ts'ang (3ÜÜ) niuß wohl ein großer
Geist sein, denkt der Bauer und er spendet nach Vermögen. Der
Schlaumeier aber versteht unter „Wu-ts'ang" seine fünf Eingeweide
und die Pagode bedeutet für ihn der eigene Leib, den er durch
tägliches Püttern restauriert.
Bevor er mit dem Sammeln begonnen hat, hat er irgend
einem Götzen ein Gelübde gemacht, um dessen Schutz und Beistand
zu erflehen. Er hat versprochen, eine neue Pagode zu erbauen;
als Opfer soll ein Menschenhaupt dargebracht werden. An die
Armen sollen zwei bis dreihundert Brote zur Verteilung gelangen,
desgleichen vier bis fünf Krüge Schnaps. Das Alles hat er mit
dem Munde klar und deutlich ausgesprochen, so daß es der Geist
gut vernehmen konnte. Im Herzen aber hat unser Fuchs ganz
anderes gedacht und schon still in sich hinein gelacht, wie er dem
Götzen einen Bären aufbinden wolle.
Das Geschäft ist recht flott von statten gegangen. Man hat
Brot und Mehl und Öl geopfert, und von besonders frommen Seelen
hat er sogar Baumwolle, Tuch und Geld in seinen Ranzen gesteckt.
Jetzt, da der Frühling herangebrochen ist und der Acker bestellt
sein will, muß er das Bonzenleben vorläufig daran geben und den
Abtmantel gegen einen Kulikittel vertauschen. Doch vorher heißt
es noch, das Gelübde erfüllen.
• Er sucht einige Backsteine zusammen, kauft sich ein Brot
und eine Tasse Wein und jetzt kann er dem Götzen seinen Löffel
zum barbieren unter die Nase halten. Drei Backsteine aufeinander
gelegt stellen die Pagode vor; ein Brot wird in zwei oder drei Stücke
gebrochen und jedes Stückchen ist gleich hundert Pfund ($|f pei
- brechen, ]J pei — hundert). Von dem Wein spritzt er vier- oder
fünfmal etwas in die Luft und jeder Tropfen ist so viel wie ein Krug
voll ($g tien -spritzen, jg //tfw-Krug). Dann neig! er seinen eigenen
— 5? —
Kopf vor der neuen „ Pagode" nieder, und damit ist auch ein Men-
schenhaupt geopfert. Und während er das Haupt ehrfuchtsvoll auf
den Boden schlägt, fallen die drei Steine zusammen. Damit ist
die Pagode in Trümmer gestürzt, und dann findet das Sprichwort
seine Anwendung: miao t'a-lio schin je pao-lio: „wenn die Pagode
in Trümmern liegt, läuft der Geist davon".
Wie die Chinesen mit Wasser die
Lebensmittel fälschen.
SljC^S omil) * der Milchmann morgens in aller Frühe herangefahren,
^Kfllfcw 1 ' imn sc ^ aut die sorgsame europäische Hausmutter vor
?VM/l\mJ allem nach, was die Milch für ein Gesicht macht. Ist es
SjKWSä bläulich, dann hat der Milchmann seine Ware sicher erst
beim Brunnen „getauft", und davon ist die Hausfrau keineswegs
erbaut. Das „Taufen" der Milch nun kennen die Chinesen nicht,
und zwar deshalb, weil sie keine Milch verkaufen, überhaupt keine
Milch von Tieren genießen mögen. Dafür „taufen" sie sonst aber
mancherlei und haben ein Geschick darin, daß der geriebenste
europäische Fälscher noch bei ihnen in die Schule gehen könnte.
Fleisch von verendeten Tieren feilbieten oder einen Dachhasen
für einen Feldhasen auftischen, will in China nichts heißen, denn
eine fette Katze ist jedem Chinesen lieber als drei magere Hasen,
und das bei uns am meisten geschätzte Wildbret ist nichts im Ver-
gleich zu einem Hundebraten, der das non plus ultra von allen
Fleischsorten bedeutet. Mit Fleisch von verendeten Tieren kann
auch niemand betrogen werden, da es ebensogut verkauft werden
darf, wie das von geschlachteten. Aber kein Stück wird verkauft,
dem nicht ein gutes Quantum Wasser zugesetzt wäre. Ist das Tier
geschlachtet und von außen gereinigt, so wird ihm eine Bambus-
röhre ins Herz gelassen. Oben an dieser Röhre befestigt man eine
mit Wasser gefüllte Schweinsblase. Das Wasser nimmt allmählich
vom Herzen aus seinen Weg in das Fleisch und die Blase wird
so lange nachgefüllt als nur eben möglich ist. Beim Zerschneiden
der Tieres läuft natürlich wieder manches Wasser heraus ; wer dann
das tröpfelnde Fleisch sieht und die Gaunerstreiche der Chinesen
noch nicht kennt, sollte schier glauben, das arme Stück Vieh habe
die Wassersucht gehabt. Im Winter aber, wenn Wasser und Fleisch
zu einer Masse gefroren sind, geht auch kein Tropfen verloren,
- 58 —
und Wasser und Fleisch wird gleichwertig bezahlt. Daß das Fleisch
durch solche Zutat an Güte verliert und schneller verdirbt, ist selbst-
verständlich. Wer aber ungewässertes Fleisch haben will, muß
sich selber ein Tier kaufen und schlachten; bei dem Metzger ist
niemals unverfälschte Ware zu haben, selbst nicht für teures Geld.
Einem ttOOpfündigen Schwein können 50 — 80 Pfd. Wasser zugesetzt
werden, und ein Ochse von 500 Pfd. nimmt wenigstens 100 Pfd.
Flüssigkeit auf. Wer da nicht mittun wollte, könnte nicht beste-
hen; wer aber das meiste Wasser ins Fleisch zu pumpen versteht,
dessen Geschäft blüht am besten.
Schwieriger ist die Sache, wenn lebendes Fleisch verkauft
wird. Daß die Tiere vor dem Verkauf gut gefüttert werden, ist
selbstverständlich. Aber auch das Futter ist dem sparsamen Chinesen
bisweilen noch zu kostbar, und er nimmt wieder zum — Wasser
seine Zuflucht. Dasselbe kann selbstverständlich nicht auf natürli-
chem Wege in das Tier gebracht werden, aber der Chinese weiß
sich zu helfen. Mein Koch kaufte einmal ein Huhn. Es war ein
wahres Prachtexemplar, wog es doch rund vier Pfund und war
so dick und rund, daß es überhaupt nicht mehr auf den Beinen zu
stehen vermochte. Der Koch legte es vorläufig auf die Seite und
machte Anstalten zum Schlachten. Doch das Tier ließ traurig
seinen Kopf hängen und machte Miene, von selbst der Welt Adieu
zu sagen. Schnell war der Koch bei der Hand: er meinte, die
Beine seien zu fest geschnürt, und beeilte sich die Bande zu lockern.
Dabei mochte er dem Tiere wohl etwas unsanft auf den Magen
gedrückt haben, genug das Tier ließ eine beträchtliche Menge
Wasser von sich. Der Koch wiederholte seinen Druck, und noch-
mals kam Wasser zum Vorschein. „Das ist ja ein wahres Wunder-
tier**', meinte er mit verschmitztem Lächeln. Nachdem das arme
Vieh ordentlich entleert, war, war es auch wieder munter gewor-
den. Als es aber wieder auf die Wage kam, stellte sich heraus,
daß es um ein Pfund Netto eingebüßt hatte. Der Koch nahm das
Huhn wieder unter den Arm und suchte den Verkäufer auf. „Da
muß ein Irrtum vorliegen*, meinte er; r ich habe ein Huhn von
vier Pfund gekauft, und dieses wiegt nur drei." Der Verkäufer
händigte ein anderes Huhn ein, drei Pfund schwer, und das war
natürliches Gewicht; das verschwundene Pfund „Fleisch" mußte er
heruuszahlen.
Kin anderes Lebensmittel, das Mehl, läßt sich natürlich nicht
gut mit Wasser verfälschen. Dafür wird aber dem Getreide Wasser
zugesetzt. Eine Röhre führt in die Mitte des Sackes, und durch
— 59 —
diese Röhre träufelt allmählich Wasser in das zu verkaufende
Getreide. Obenauf wird dann trockenes geschüttet.
Bevor das Gemüse zum Markte getragen wird, legt man es
eine Nacht ins Wasser; bevor die Trauben abgeschnitten werden,
um sie in den Handel zu bringen, wird die Rebe gut mit Wasser
getränkt. Dann bekommen die Trauben ein ganz dralles Aussehen
und bersten oft, so wässerig sind sie. Baumwolle legt man in Was-
serschwaden oder läßt immitte der Ballen Wasser laufen, so daß
auf je hundert Pfund wenigstens einige Pfund Wasser kommen.
Selbst das Holz muß erst eine Wasserkur durchmachen, ehe es auf
dem Markte erscheint.
Daß Flüssigkeiten, z. B. Schnaps und Essig, erst „getauft"
werden, bevor sie in den Handel kommen, ist selbstverständlich.
Der Wein, (Schnaps) wird in Kan- und Chua-ziu eingeteilt, d. h.
in „trockenen" und „gemischten" Wein. Ersterer hat nur einen
geringen Wasserzusatz, (eigentlich sollte er keinen haben), der
letztere aber ist bisweilen um die Hälfte verfälscht.
Jemand hatte eine Anzahl Freunde zum fröhlichen Male gela-
den. Da nun das Getränk vor der Zeit ausging, mußte Wasser
den Wein vermehren helfen und man goß so lange zu, bis vom
Wein kaum mehr eine Spur vorhanden war. Während der Nacht
wurde es empfindlich kalt und da kein Feuerbecken das Zimmer
wärmte, fing sogar der „Spiritus" in den Schälchen zu frieren an.
Eben hatten die Gäste noch das vorzügliche Getränk belobt und
jetzt gefror es zum Klümpchen Eis. „Euer Lob war nicht redlich
gemeint", meinte der Gastgeber als er den gefrorenen Schnaps
erblickte. „Das geschenkte muß man immer preisen, selbst wenn
der Spiritus sich zu Wasser verwandelt" antworteten die Gäste.
Indes betrügt der Chinese nicht nur mit Wasser, sondern noch
mit mancherlei anderen Dingen. Wollte ich die aber alle aufzählen,
käme ich gar an kein Ende. Doch zum Schluß noch zwei Geschicht-
chen, die auch zum Wasserkapitel gehören und zeigen, wie sehr
den Chinesen die Wasserfälschungsmethode in „Fleisch und Blut"
übergegangen ist.
Drei Söhne ernährten gemeinschaftlich ihren Vater, d. h. jeder
mußte ihn während drei Monaten zu sich nehmen und für seinen
Unterhalt sorgen. Alle drei waren brave Burschen, und sie machten
sich ein wahres Vergnügen daraus, dem Vater jeden Herzenswunsch
zu erfüllen. Waren die drei Monate herum, wurde der Vater jedes-
mal an eine Wage gehängt, um zu sehen, ob er im Gewichte
ab- oder zugenommen habe. Der Vater war guter Dinge und liebte
— 60 —
•-.'■• Kind.-r recht herzlich, den Kleinsten aber zu allermeist. Aus
*. — .vieren Liebesrücksiohten lieli er *ich «»im»«» Tages überreden,
U.-v.:':~ Gewicht zu nehmen, eher er sich ;ui die Wage hing, damit
•:-:.• Kleine .sxolJ- dastehe, weil er seinen Vater um einige Pfund
- ■■: j. werer gefüttert habt». Kim* reelit grolie Schweinsblasc wurde
:u'.\ Wa— er gefüllt und dem <i reise um den Leib gebunden. Doch
d<- Ge-«hickes Mächten sind neckisch; kaum hatte er sieh an die
Wa:"- gehängt, da rili der Strick, woran die Wage befestigt war,
und der arme Mann lag am Boden in einer Lache Wasser: die
BU-e war geplatzt. «U du l'nhold!~ riefen entsetzt die anderen
Brüder: .Schande über dich. Selbst deinen Vater willst du noch
.'üit Wa-ser verfälschen!"
Ein Mandarin bekam fast täglich von seiner Frau Gemahlin
und den zwei »benfrauen ein Süppchen eingebrockt, weil ihnen
immerfort *o wässeriges Fleisch aufgetischt wurde. Daran war nun
ab'-r der Herr Gemahl keineswegs Schuld, sondern der Metzger,
welcher der alten gutem Sitte folgend, auch dem Fleische für den
M-indarin sein (juantun Wasser einher». Wie hätte er auch anders
bestehen können; tat es ja jedermann und der es nicht tat, mulite
mit Verlust sein Fleisch verkaufen. Wenn aber drei Frauen gegen
einen Mann loslegen, so will ihis schon etwas bedeuten, und wir
können es dem Herrn («ernnlil nicht verargen, dal> ihm eines Tages
der Geduldsfaden rili und er dem FleUchlieferanten seiner Frauen
zitierte. Als ihm gründlich der Marsch gehlasen war, mußte ihm
auch ein „Denkzettel* 4 mitgegeben werden, damit ihm für immer
die Lust vergeh«*, den Miindariii'drauen wässeriges Fleisch zu ver-
kaufen. Ihm zur Linken und zur Hechten stand je ein Büttel, der
eine mit einem gewaltigen Hnmbiisprügel. der andere mit einem
Tririkge*c,liirr. .letzt wurde dem sinnen Sünder die Alternative
ge-fe||t ? entweder eine gute l'riigeltuppe zu verkosten oder das
Tränkb'in, ho ihm die Mtuidiiriusfniuen gebraut. Der Mann wählte
das letztere, <n|| e* aber später sehr bereut haben.
— 61 —
Der Winkeladvokat Wen.
jdvokaten im eigentlichen Sinne giebt es in China nicht; jeder
muß Hwh selber den Advokaten machen, und wer das mit
dem besten Geschicke tut, hat die größte Aussicht, seinen
Prozeß zu gewinnen, und erst recht, wenn obendrein das
Geld noch zu Worte kommt. Mögen nun auch die eigentlichen
Advokaten fehlen, so sind die Winkeladvokaten um so zahlreicher
vertreten, denn im Winkel und hinter den Coulissen gut arbeiten,
ist ja eine Lieblingsbeschäftigung der Chinesen.
Meister Wen verstand sein Geschäft wie kein zweiter und des-
halb ließ er auch überhaupt keinen zweiten in seiner Nähe auf-
kommen. Hatte er sich aber einmal eines Delinquenten angenommen,
dann kam derselbe glücklich durch, selbst wenn ihm schon das
Henkermesset' im Nacken gesessen. Klageschriften, die er aufsetzte,
brachten Gründe ins Feld, wie ein Regiment Soldaten, die kein
Feind überwinden kann. Sein Pinsel hatte die Schärfe eines Schwer-
tes und Gnade dem armen Gegner, gegen den er sich richtete.
Eines Tages saß Meister Wen in seiner Stube und sann über
neue Ränke nach. Da klopfte es ungestüm an seiner Türe. Als
er öffnete, trat ein junger Mann herein, der sich sofort auf die
Kniee warf und laut an zu weinen fing. „Was willst du denn",
redete ihn Meister Wen an, „welche Angelegenheit preßt dir die
Tränen aus; % du bist wohl in einer argen Klemme. " „Ach mein
lieber Meister Wen, wenn Ihr mich nicht rettet, dann bin ich
unrettbar verloren, dann wird in Bälde mein Kopf Abschied nehmen
vom Halse. Ach, Meister Wen, rettet mich doch!" „Aber heraus
mit deiner Sache, wie kann ich dich retten, da ich noch gar nicht
weiß, was du denn eigentlich verbrochen." „Denkt Euch, Meister
Wen, ich habe meinem Vater einen Schlag in den Mund gegeben,
daß ihm zwei Zähne entfallen sind. Wir beide hatten Streit, und
da er mich sehr zum Zorne reizte, habe ich mich vergessen und
den unglücklichen Schlag geführt. Mein Vater ist dann sofort zum
Mandarin gegangen und hat mich als ungeratenen Sohn (u j pu
chiao) verklagt. Bald werden die Gerichtsbüttel kommen und mich
abführen und dann komme ich nimmer lebend heim." „Du unge-
ratener Bengel du, vergreifst dich gar an deinem Vater! Packe
dich fort, deine Sache werde ich nie und nimmer besorgen, sofort
von meiner Schwelle." Sprach's und stieß den armen Sünder zur
Türe hinaus. Dieser aber legte sich draußen im Hofe sofort
— 62 —
wieder auf die Kniee und bat in einem fort: „ Guter Meister Wen,
erbarmet Euch meiner, rettet mich!" Nach einer Weile rief ihm
Meister Wen nochmals durch die Türe: „Und weinst du die
ganze Nacht hindurch, ist's doch umsonst; deiner Sache werde ich
mich in keinem Falle annehmen. Mag dir der Mandarin den Kopf
abschlagen, so geschieht dir recht. u Meister Wen setzte sich dann
ins Zimmer, rauchte seine Pfeife und schlürfte Tee. Nach einer
Stunde befahl er seinem Diener: „Geh hinaus und sieh, ob der
Bengel noch da kniet; laß ihn dann hereinkommen. u Als der arme
Sünder hereingeführt war, beglückte ihn Meister Wen mit der Er-
klärung: „Gut, ich werde suchen, dein Leben zu retten, kannst
sogleich in meine geheime Stube kommen.*
Es war eben im Hochsommer in den Hundstagen und überall
eine unerträgliche Hitze. Meister Wen legte nun seine Winterklei-
dung an : einen dicken Schafspelz, setzte eine wattierte Windmütze
auf und zog ein Paar mächtige Filzstiefel an. Dem Diener befahl
er, ein Kohlenbecken anzufachen. Als dasselbe recht in Glut war,
setzte sich Meister Wen daneben und hielt die Pinger über das
Feuer, dann ließ er den Delinquenten vortreten. Kaum war er
durch die Türe geschlüpft, da warf er sich sofort wieder in die
Kniee und schlug in einem fort mit dem Kopfe gegen den Boden
(Ko-t'ou), gerade wie wenn ein Huhn das Korn aufpickt. Der
Advokat erhob sich vom Sitze, ohne ein Wort zu sprechen, ging
einigemale um den Knieenden, und plötzlich, ohne daß jener etwas
gemerkt hätte, biß er ihn in den Rücken. Der arme Sünder schrie
laut auf: „Aber lieber Meister Wen, weshalb beißt Ihr mich denn
so schrecklich \ u — „Steh' auf", sprach der Advokat, „jetzt ist dein
Leben gerettet; hätte ich dich nicht gebissen, dann müßtest du
wohl sterben. Nun geh' und stelle dich dem Mandarin. Beim
Verhör hast du nichts weiter zu sagen, als: Großer, alter Groß-
vater, errettet mich! Jetzt mach', daß du fortkommst. u
Bald hatten die Gerichtsbüttel den armen Sünder aufgeschnappt.
Sofort wurde er in Fesseln gelegt und zum Mandarin geführt.
Als der Mandarin ihn sah, entbrannte er in Zorn und schrie: „Du
ungeratener Bengel, du! Du bist ja überhaupt kein Mensch mehr,
du bist ein Tier; denn wie kann es ein Mensch wagen, seinen
Vater zu schlagen!*' Der Junge kniete sofort nieder, wie ihm der
Advokat anbefohlen, und bat: „Großer, alter Großvater, errettet
mich!* Während er da kniete, bemerkte der Mandarin, wie der
dünne Kittel des Delinquenten auf dem Rücken ganz mit Blut
befleckt war. Ein Gerichtsdiener muüte nachsehen, woher das Blut
— 63 —
rühre. Derselbe berichtete : „Der Junge hat eine große Bißwunde
auf dem Rücken; ein Stück Fleisch ist herausgebissen, noch quillt
friesches Blut aus der Wunde. " Als der Mandarin dies hörte, stand
er auf, um sich selber zu überzeugen. Ja, freilich, deutlich sah man
noch die Spur der Zähne, die tief ins Fleich eingedrungen waren.
„Jetzt begreife ich's", sprach der Mandarin erzürnt zum Ankläger.
„Die Schuld liegt nicht am Sohne, sondern am Alten ; hat sich der
grausame Klotz im Rücken des Jungen die Zähne ausgebissen und
will ihn nun noch obendrein verklagen! Mach' schnell, daß du
fortkommst, sonst lasse ich dich gehörig durchbläuen. " Was wollte
der Vater anfangen ! Er mußte gute Miene zum bösen Spiele machen ;
er getraute sich nicht, dem Mandarin etwas zu erwidern. Vater
und Sohn kehrten nach Hause zurück. Dort behandelte der Alte
den Jungen mit ausnehmender Freundlichkeit. „Sag' mein Lieber",
sprach er zu ihm, „wer ist dir denn eigentlich behülflich gewesen,
die Schuld so geschickt auf mich zu wälzen. Du bist mein Sohn,
und deshalb mußt du mir das sagen, da du als Sohn keine Geheim-
nisse mir gegenüber haben darfst." „Freilich", antwortete der Junge,
„ich wäre niemals so gescheidt gewesen, einen derartigen Plan zu
entsinnen; Meister Wen hat mich aus der Klemme gezogen." „Das
soll er büßen", sprach der Vater, sprach's und begab sich sofort
zur Stadt, um den Winkeladvokaten zu verklagen. Der Mandarin
citierte den Meister Wen vor seinen Richterstuhl und verwies ihm
strenge sein Beginnen. „Wie kannst du, ein Gelehrter, dein Talent
mißbrauchen, um einen ungeratenen Sohn, der seinen Vater geschla-
gen, an der wohlverdienten Strafe vorbeizubringen?" „Was ist das
denn für ein Sohn, ich kenne den ja nicht einmal." Der Mandarin
ließ hierauf den Delinquenten vorführen und stellte ihn Meister
Wen gegenüber. Der Junge sprach : „Meister Wen, wie könnt Ihr
sagen, Ihr kenntet mich nicht? Habt Ihr es denn vergessen, als ich
fast eine halbe Nacht vor Euerer Türe kniete und Ihr mir schließ-
lich ein Stück aus dem Rücken gebissen habt? Jetzt bist du
gerettet, habt Ihr dann zu mir gesagt und habt mich fortgeschickt."
„Was schwätzt der Junge doch für ein tolles Zeug, der ist offenbar
ein Narr. Schau mich doch einmal an, ob du mich schon jemals
gesehen hast oder nicht und sage, welche Kleider ich damals ge-
tragen, als ich dich gebissen haben soll." „Ja, ich weiß es ganz
genau; Ihr trugt eine Windmütze um den Kopf gewickelt, hattet
einen großen Pelz angezogen und wärmtet Euch die Finger an
einem Feuerbecken." „Urteilt selbst, großer alter Großvater, ob
der Junge ein Narr_ist oder nicht. Jetzt in den Hundstagen, wo
-r- 64 —
man vor Hitze nicht dauern kann, wer zieht da noch einen Pelz
an und wärmt sich die Finger?" „Draufgehauen", schrie der Man-
darin seinen Bütteln zu ; „sowohl der Alte wie der Junge bekommen
200 Stockschläge, weil sie den Meister Wen fälschlich angeklagt
haben. Mir scheint, beide sind Narren. 44 Die Büttel blieben den
Delinquenten keinen Schlag schuldig; beschämt und voll Ärger
verließen sie das Yamen und konnten es nicht begreifen, daß
Meister Wen so voll der Ränke sei.
Papa Tschou.
SSjino herrliche Nacht! Schwarz wie frischer Firniß, und der
HB Wind bläst wie zehntausend Soldatentrompeter. Heute
nll's geschehen, das lang geplante Werk, und niemand
1t**£*i+. w * r d Hi eme Spur finden. — Der so sprach, war ein roher
Geselle, Wangtja mit Namen. Er hegte Mordgedanken und wollte
die finstere Nacht benutzen, seinen langgehaßten Feind, den Li-öl,
aus dem Wege zu schaffen. Er hatte eine Anzahl Gesinnungs-
genossen angeworben, fünf feste Kuli, die für Geld und eine gute
Mahlzeit freudig zur Stelle waren. Die Schar hatte sich mit Messer
und Knüttelin bewaffnet und, um sich unkenntlich zu machen, das
Gesicht mit Tusche geschwärzt. Es mochte eben die zwölfte Stunde
sein, als sie vor der Türe des Li-öl anlangten. Mit kräftigen Schlä-
gen versuchten sie, dieselbe loszusprengen. 7 Was gibt es da?*
rief Li-öl samt seiner Frau wie aus einem Munde; und sogleich
hatten sich beide vom Lager erhoben und lugten durch die Tür-
ritzen. Deutlich sahen sie die vom Fackelscheine erleuchteten
schwarzen Gestalten und glaubten, es seien Räuber. Die Frau ver-
kroch sich sofort unter dem Bette. Es war auch die höchste Zeit;
den schon begann die Türe nachzugeben: noch wenige Schläge,
und mit den zerschlagenen Türsplittern drangen die Unholde in
das Zimmer. Ehe Li-öl nur einen Gegenstand ergriffen, um sich
zur Wehr zu setzen, hatte er bereits mehrere Lanzenstiche erhalten
und lag in seinem Blute vor der Bettstatt. Mit wohlgezieltem
Schwerthieb trennte dann der Wangtja das Haupt seines Gegners
vom Körper. Kein Zweifel konnte mehr obliegen: der Feind war
getötet, die Rache befriedigt.
Li-öls Frau unter der Bettstelle zitterte am ganzen Leibe, als
ob sie auf Eis gelegen, und wagte kein Glied zu rühren. Erst als
— 65 —
die Käuber fortgegangen und ihre Schritte verhallt waren, kroch sie
langsam hervor. „Mann, Mann!" preßte sie beklommen hervor und
stieß gegen die am Boden liegende Leiche. Ihre zitternden Hände
hatten viele Mühe, Feuer zu schlagen, und es dauerte eine gute
Weile, bis die Öllampe angezündet war. Mit derselben leuchtete
C
c
CO
CO
o
'u,
<D
O
CD
C
sie in das Antlitz ihres toten Mannes. Als sie das Haupt vom
Bumpfe getrennt sah, ließ sie vor Schrecken die Lampe fallen, stieß
einen gellenden Schrei aus und lief auf die Straße. „Mörder,
Mörder, u schrie sie aus Leibeskräften ; „Mörder haben meinen Mann
umgebracht. u Als die Nachbarn den Lärm vernommen, waren sie
bald auf den Beinen, und der Eine fragte: „Was giebt's?", der An-
dere fragte: „Was ist los? 4, „Mein Mann ist ermordet," wiederholte
R. Pieper, „Neue Bündel". 5
— 66 —
immer von neuem die Frau, „inein armer Mann!" Unterdessen
hatte man Licht angezündet, und die Beherzteren leuchteten in das
Gemach des Ermordeten. Nachdem man sich überzeugt, daß Wangtja
wirklich tot sei, begannen die Nachbarn die weinende Frau etwas
zu trösten. „Laß ab vom Weinen/ sagte man, „denn vom Weinen
wird niemand mehr «um Leben erweckt. Die Altesten unseres
Dorfes gehen morgen mit dir in die Stadt und helfen dir, beim
Mandarin deine Klage anzubringen. Der Mandarin muß den Mörder
ausfindig machen und ihn bestrafen, und wenn du sein Blut fließen
siehst, wird's dir leicht ums Herz." Jedermann ging dann zurück
in sein Haus und suchte wieder das Lager auf, nachdem er den
Riegel recht fest vor die Türe geschoben; obendrein stemmte noch
mancher der größeren Vorsicht halber ein Stück Holz davor. Wang-
tjas Frau ging auch in ihre Wohnung, verriegelte die Türe und
kniete bei der Leiche nieder. Dort ließ sie ihren Tränen freien
Lauf. „Mein Mann, mein armer Mann!" jammerte sie in einem
fort, bis sie ganz ermattet zusammenbrach und einschlummerte.
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne stahlen sich eben
durch das durchlöcherte Papierfenster und beschienen die entstell-
ten Züge des Toten. Die Schlafende erwachte wiederum mit dem
Schrei: „Mein Mann, mein armer Mann!" Dann stand sie beherzt
auf, machte Feuer und kochte eine Schüssel Wasser. Als sie sich
darin gewaschen, legte sie ihre besten Kleider an und begab sich
auf die Straße. Dort machte sie bei ihren Nachbarn die Runde,
jeden einzeln bittend, er möge mit ihr in die Stadt gehen und beim
Mandarin ihr zum Rechte verhelfen. „Aber hast du niemand von
den Mördern gekannt?" fragten die Nachbarn. „Ei doch," erwiderte
sie; ich weiß sogar bestimmt, wer meinem Mann den Eopf abge-
schlagen hat. Das ist kein anderer gewesen als der Wangtja, unser
Feind. Deutlich sah ich ihn beim Fackelschein, als ich unter dem
Bette meinen Kopf hervorstreckte, und erkannte den Bösewicht an
den Gesichtszügen sowie am Barte." „Euere Feindschaft mit Wang-
tja ist uns bekannt," antworteten die Nachbarn; „deine Anklage
scheint auf Wahrheit zu beruhen. Gut, wir gehen mit dir in die
Stadt. Dies zu tun, wäre ja übrigens unsere Pflicht, wenn es sich
auch nur um eine Räuberei handelte."
Eben hatte der Mandarin seinen Richterstuhl eingenommen,
um eine Rechtssache zu entscheiden, da trat die Frau des ermor-
deten Li-öl mitsamt den Nachbarn in den Gerichtssaal. Die hatte
vorher die „Expreßtrommel" geschlagen zum Zeichen, daß es sich
um eine wichtige Anklage handele. Deshalb wurde sie denn auch
— 67 —
ohne besondere Schwierigkeit vorgelassen. Mit der Klageschrift, worin
der Tatbestand summarisch verzeichnet war, in beiden Händen,
trat sie vor den Mandarin, warf sich auf die Kniee nieder nnd schrie
mit lauter Stimme: „Großer, alter Großvater, ein schreckliches
Verbrechen ist geschehen! Erbarmt euch meiner!" Der Mandarin
las die Anklage durch, und als die anwesenden Nachbarn auch zu
Gunsten der Klägerin sprachen, wurde den Gerichtsschergen von
der „schnellen Abteilung" sofort ein Einfangschein ausgestellt mit
dem Befehl, den Wangtja ohne Verzug vor den Mandarin zu bringen.
Wangtja war nach vollbrachter Tat mit seinen Spießgesellen
nach Hause zurückgeeilt. Dort wuschen sie sich das Gesicht und
taten sich bei einem Topfe erwärmten Schnapses und einer Schüssel
kleingeschnittener Schweinsohren gütlich. Als alles vertilgt war,
legten sie sich zur Ruhe. Wangtja war sehr guter Dinge. Eine
Tat, „von der die Teufel keine Ahnung haben und die Geister
nichts wissen konnten", die mußte ja verborgen bleiben. Er glich
jenen, die ihre Ohren zustopfen, wenn sie eine Glocke stehlen wol-
len. Um so größer war seine Überraschung, als er eines morgens
in der Frühe mehrere Gerichtsschergen von der „schnellen Abteilung"
vor sich stehen sah. Sie ließen ihm gar keine Zeit, sich zu besin-
nen und zu fragen, wohin und woher, sondern legten sofort Hand
an ihn. Während ihn die einen am Zopfe festhielten, schnürten
die anderen seine Hände in Fesseln. Ja, sogar die Beine wollte
man ihm mit schweren Ketten belasten. Gegen ein gutes Trinkgeld
aber nahm man davon Abstand. Im übrigen half kein Bitten und
Flehen, sondern schnurstracks ging es mit dem Delinquenten in
die Stadt vor den „Vater des Volkes u .
„Warum hast du den Li-öl ermordet?" fragte der Mandarin
in schneidigem Tone. „Das ist nicht meine Sache," antwortete
Wangtja; „Li-öl ist von Räubern ermordet. Ich bin ein unbeschol-
tener Mann." Auf einen Wink des Mandarins wurde die Frau des
Li-öl vorgeführt. „Welche Beweise hast du, wenn du den Wangtja
als Mörder anklagst?" „Beweise, großer alter Großvater! Beweise
hat deine dumme Magd genug. Erstens habe ich den Wangtja
selber gesehen, als ich unter dem Bette versteckt war, und ich
erkannte ihn an seinem großen Kopfe und dem langen Barte.
Zweitens weiß jedermann, daß Wangtja immerdar unser größter
Feind gewesen. Drittens ist es einem Raubmörder um Geld und
Gut zu tun, nicht um das Leben. Geraubt hat man uns aber nichts,
also war es nur auf das Leben abgesehen. Großer alter Großvater !
Deine Einsicht ist klar, wie das Quellwasser, und deine Weisheit
5»
- «s -.
rein, wie das Sonnenlicht : nun urteil«» *elbM. ob meine Gründe
stichhaltig sind. i; Der Mandarin nahm dann die Nachbarn in Ver-
hör. Aurh sie bezeugten, dal) Wangtja seit langer Zeit mit Li-öl in
Feindschaft gelebt; auch beruhe es auf Wahrheit, daß nichts aus
dem Zimmer des Ermordeten geraubt sei.
Wangtja wurde dann auf die ..Liiiiipeiifoltcr" > (Kuang-kuin-rja)
gespannt, und man setzte ihm mj lange zu, bis er mit der Wahrheit
herausrückte. Er, der weiche Mann mit zarter Haut und vielem
Fleische, hatte noch nie im Leben Schmerzen gelitten; deshalb war
es ein leichtes, ihu mürbe zu machen. „Es ist Tatsache/' bekannte
er, „ich habe den Li-öl getötet. Es war damals eine sehr finstere
Nacht: Wind und liegen vertrieben Teufel und Geister aus dem
Freien. Ich glaubte daher, der Augenblick sei gekommen, meine
Rache auszuüben/ Der Mandarin lieh das Geständnis Wort für
Wort niederschreiben, um die Anklageschrift au den Kaiser vorzu-
bereiten. Wangtja aber wurde in das Gefängnis der armen Sünder
gesperrt, die ihr Leben " verwirkt haben. Dort sollte er bleiben,
bis das Todesurteil endgültig vom Kaiser unterschrieben sei.
Wie nun Wangtja einsam in dem dunkelen, von Modergeruch
erfüllten Kerker lag, kam er sich vor wie ein Vöglein, das vergeb-
lich gegen das Gitter seines Bauers fliegt, oder wie ein lebender
Fisch im Topf über'm Feuer. Mochte, er auch sein Gehirn zermar-
tern, hin und her sinnen, es wollte ihm kein kluger Gedanke ein-
fallen, um sein Leben zu retten. Doch ja — da stieg plötzlich vor
seinem Geiste das Bild des „alten Papas 4 " Tschou auf. „Der wird
noch einen Ausweg wissen, mich aus dem Kerker zu befreien und
mein Leben zu verlängern." dachte er bei sich. Papa Tschou ver-
stand e- allerdings meisterhaft, das Krumme gerade zu machen und
überall ein Loch zu finden, wo andere schon längst am Ersticken
waren. Sein Pinsel hatte die Schärfe eines zweischneidigen Schwertes;
damit vermochte er den verwickeltsten Knoten entzwei zu hauen und
Recht und Unrecht in entgegengesetzte Bahnen zu lenken. Während
Wangtja sich schon in Gedanken der Freiheit wiegte, kam sein Sohn
vor die Kerkertüre, um ihm Essen zu bringen. Es hatte allerdings meh-
rere Loth Silber gekostet, ehe er sich vom Kerkermeister diese Erlaub-
nis erwirkt. Wangtja hatte Zeit genug, seinem Sohne die Rettungs-
pläne vorzutragen. ..Eile noch heute zu Papa Tschou." sprach er;
..auch spare kein Silber, denn du wirst hoffentlich deinen Vater mehr
lieben als Geld und Habe. Es lohnt sich der Mühe, und die Mühe wird
nicht zu groß sein." Der Sohn antwortete auf alles mit „gut" und
.ja" und versprach seinem Vater, das Menschenmöglichste zu tun.
— 69 —
Bald war der Papa Tschou aufgesucht und von dem Tat-
bestande in Kenntnis gesetzt. „Das ist allerdings eine sehr faule
Sache," meinte Papa Tschou und heftete seine Kalmückenaugen
nachdenklich zu Boden. „Dein Vater hat bereits alles eingestan-
den, und der Mandarin hat dementsprechend seinen Bericht gemacht
und an die höheren Instanzen geschickt. Zudem ist der Mandarin
ein Neuling im Amte, dem es weniger um Geld zu tun ist, als
um Ruhm und Empfehlung, damit seine Vorgesetzten ihm noch
höhere Posten anvertrauen. Indes werde ich doch aus Freundschaft
gegen deinen Vater mein Bestes tun und wenigstens den Versuch
machen, sein Leben zu retten. Ich habe mit dem Präsidenten des
Obergerichtshofes in Nanking Beziehungen, mit dem großen Manne
Sjü. Vielleicht läßt er sich durch Silber bestechen, oder es findet
sich sonst ein Loch oder Riß zum Durchschlüpfen. Im hiesigen
Tribunal ist nichts mehr anzufangen; deshalb müssen wir an andere
Türen klopfen. Halte mir 300 Taels Silber bereit, ich werde mich
dann sofort auf den Weg nach Nanking machen. „Aber Papa
Tschou, welchen Schlupf oder Riß glaubt ihr ausfindig zu machen?"
„Dafür laß mich sorgen; ich kann dir das jetzt noch nicht ver-
raten. Bereite mir die 300 Taels Silber, und ich verspreche dir,
nach einem Monat ist dein Vater in Freiheit/
Das Silber war bald zusammengebracht, und als es dem Papa
Tschou ausgehändigt war, machte sich derselbe noch am selbigen
Tage auf den Weg nach Nanking. „Sage deinem Vater, er solle
sein Herz der Hoffnung öffnen," rief er noch vom Esel herab dem
Sohne des Wangtja nach, „alles wird gut gehen. 44 „Ein friedevoller
Weg! 44 waren des letzteren Worte.
Nach Verlauf von einigen Tagen traf der Winkeladvokat in
Nanking ein. Nachdem er sich in einer Herberge einquartiert hatte,
nahm er sich zwei Tage Rast, um seine alten durchrüttelten Glied-
maßen wieder in die* richtigen Fugen zu bringen. Vernünftige
Gedanken wären ja nicht möglich gewesen, wenn ihn körperliche
Müdigkeit belästigt hätte. Dann kaufte er einige wertvolle Geschenke,
mit denen er sich zum Obergerichtshofe begab und sich beim Vor-
sitzenden, Herrn Sjü, anmelden ließ. Herr Sjü empfing seinen alten
Bekannten mit ausgesuchter Freundlichkeit ; indes fand Papa Tschou
niemals rechte Gelegenheit, sein Anliegen vorzutragen. Ohne Um-
schweife damit herauszurücken, schien ihm zu gewagt, zumal er
selber noch nicht wußte, wo zu allererst ein Loch zu finden sei.
Eines Tages aber, vielleicht wollte es der Zufall so, sah er, wie 20
Gefangene in das Obergerichtstribunal abgeführt wurden, alles arme
— 70 —
Sünder, die bereit- ihren roten Toten unk trugen . l\ipa Tschou
erkundigte -ich -ogleich. w.i- da« für Landsleute seien, und zu
-einer trrolWfii Freude erfuhr er. dal) zwei davon au- Sutsohou ritamm-
ten. ..An- Sut»«:hou! «rtit. gut.-* murmelte er für -irh in den Bart:
,.jetzt hali i«:h*- gefunden, da- Luch: jetzt weib ich. wa- zu tun ist. fc
Am anderen Tage -teilte er -ii-h Im-iiii Präsidenten Sjü vor zur
geheimen Audienz. .Ich habt* •'im- Herzensangelegenheit." begann
er und zog au- dein ßu-en (fast hatte mau meinen -ullen, es «ei
-ein eigene- H*"r/ gewesen) zwei Stürke Silber hervur. die er dem
Präsidenten in d«n Ärmel -rhob. .irli habe eine Herzensangele-
genheit. Kin naher Verwandter von mir -chmachtot unschuldig im
Kerker und -oll zum Tude verurteilt werden. Ich bitte daher den
groben Mann, -ich ein wenig der Sache anzunehmen und seinen
mächtigen Kintiub xn ihm hin überstrahlen zu la.-sen." Sjü war
freilich eine hohe IVr*ünli«dikeit. hatte aber durchaus keine tauben
Ohren, wenn der -übe Klang de- Silber- tonte. „Da» ist eine
Kleinigkeit, da- i-t -ehr leieht," erwiderte er eilfertig. Papa Tschou
begann dann die Sache zu erzählen. Wangtja habe mit Li -öl Feind-
schaft gehabt. AN nun Li -öl von Räubern ermordet sei, habe dich
der Verdacht auf -einen Freund Warigt ja gelenkt, und dieser sei
auch -ofort augeklagt und in Haft genommen wurden. Die Schmer-
zen der Folter hätten ihm zuletzt ein falsches Bekenntnis ausgepreßt,
und er habe sich eiuer Tat schuldig bekannt, die er nicht began-
gen. .Nur -ehade." meinte Sjü. .dab e- -irh nicht um ein Ver-
brechen handelt, da- in unserer Provinz verübt wurden i-t. Sutschou
gehört zu einer anderen Provinz, und meine Machtbefugnis erstrekt
sich nicht bi- dorthin. Da i-t es -«.-hwer, -ehr schwer, helfend ein-
zugreifen." Es M'heinr nur «chwer zu sein.** meinte Papa Tschou..
.tatsächlich aber ist e- leicht. Geste rn -ah ich 20 zum Tode Ver-
urteilte hierher abführen, und. wie ich in Erfahrung gebracht, befin-
den sich zwei Mann aus Sutschou darunter. Wie wäre es. wenn
den beiden etwa- Zucker- Silber (<o benannt, weil der zum Tode
Verurteilte die wenigen Tage, welche er noch zu leben hat, sich
durch be^-eres Essen und Trinken .versüben" darf) gegeben würde.
damit -ie >ieh bei dem nächsten Verhöre al> Morder des Wangtja
bekannten r Die Delinquenten haben so wie so ihr Leben verwirkt:
ob -ie sjr-h eine- Morde- mehr anklagen, macht ihnen weiter keine
Schmerzen. Au«h kann ich den großen Mann versichern, daß sich
Wangtja dankbar erweisen und sein Lebtag des groben Manne«
Wohltaten eingedenk sein wird." Sjü fühlte bereits die zwei Stücke
Silber in -einem Annel : ubendrein wurde ihm noch mehr Silber in
— 71 —
Aussicht gestellt — da konnte er sich nicht spröde zeigen. Er
versprach also, die Sache in die Hand zu nehmen. In der Stille
ließ er die beiden zum Tode Verurteilten aus Sutschou zu sich
kommen, schenkte ihnen einige Lot Silber, und jene waren dafür
gerne bereit, zu sagen, was man ihnen vorsagte. Beim öffentlichen
Verhör am folgenden Tage, das Sjü als Oberkriminalrichter selber
vornahm, stellte er an die beiden Übeltäter folgende Fragen: „Wie
viel Leute habt ihr umgebracht in eurem Leben ?" — „24 Mann."
— „Welches waren die letzten Raubmorde, die ihr verübt habt?"
— „Wir wollten einen reichen Bauer in Sutschou berauben; eben
hatten wir ihm den Hals abgeschnitten, da hörten wir Geräusch und
flohen davon." Sjü brachte das Verhör zu den Akten und schickte
unverzüglich einen Kurier nach Sutschou um dem dortigen Man-
darin zu berichten.
Papa Tschous Weizen war weit genug gediehen. Auch er
machte sich schnell auf den Rückweg. Zu Hause angekommen,
ließ er den Sohn des Wangtja vor sich kommen und beredete
ihn, eiligst beim Mandarin Klage zu erheben für seinen „unschul-
digen Vater". Der Mandarin hatte bereits die Akten des vom
Oberkriminalrichter angestellten Verhörs empfangen. Das Bekennt-
nis der beiden Räuber machte ihn stutzig. „Sollte Wangtja doch
noch vielleicht unschuldig sein?" Nun reichte sein Sohn auch
noch Klageschrift ein, worin er sich über die Ungerechtigkeit des
Mandarins beschwerte. Da zweifelte er nun nicht mehr: Wangtja
war unschuldig. — Ohne weiteres Verhör entließ er ihn aus dem
Gefängnisse und schickte ihn nach Hause. Die Frau des Li-öl aber,
welche davon hörte, machte sich Vorwürfe, daß sie an jenem Abend
nicht genauer zugesehen. Sie glaubte zwar, den Wang-tja sicher
gekannt zu haben ; „aber im Dunkeln sieht man halt nicht so genau,"
sagte sie. Und jetzt, wo die „eigentlichen 44 Mörder eingefangen
waren, da hatte sie rein nichts dagegen einzuwenden, daß Wangtja
frei gegeben wurde. Dieser aber kam sich vor wie ein Fisch, der
dem Netze entschlüpft und in das weite Meer zurückgleitet; wie
der Vogel, der mit dem engen Käfig die holde Freiheit eingetauscht.
Als freier Mann bewegte er sich wieder auf der Straße und dem
Markte ; im Stillen aber sagte er sich : „Wenn Papa Tschou nicht
gewesen, wäre es mir an den Kragen gegangen. 44
— 72 —
Kuriose Heiraten.
jjeiin ich dem vorehrten Leser von Heiraten erzähle, ihn
§ aber zuvor an eine Totenbahre führe, so darf ihn das
iicht wundern : in China geht eben mancherlei verkehrt
j^^^S^S 7 ^; bekanntlich ist China die verkehrte Welt.
Starb da vor kurzem in unserem Nachbardorfe ein alter Heide.
An seinem Sarge knieen einige Graubärto und heulen: „Mein
Vater, mein Vater;* 4 nebenan kniet ein Büblein von sechs Jahren
und es schreit so laut es nur kann: „Mein Vater, mein Vater \ u
Der Alte hatte sich in seinem 76. Lebensalter noch eine Lebens-
gefährtin genommen, ein Mädchen von 15 Jahren, für den Rest
seines Lebens. Zwei Frauen hatte er bereits überlebt, und von
ihnen stammen die ersten Kinder, die im Laufe der Zeit selber alt
geworden. Wer hierzulande Junggeselle bleibt, tut es nur notge-
drungen, weil er keine Lebensgefährtin erobern kann. Gleich und
gleich gesellt sich gern auch in China und die Ehenvermittler tragen
schon Sorge, daß sich derartige Pärchen finden. Unseren Nachbar
also, den alten Mann hatte die Heiratslust auch nicht verlassen,
denn als er in seinem 75. Lebensjahre seine Frau verlor, schaute
er sich balt nach einer neuen um, d. h., er gab einem Heiratsver-
mittler Auftrag, für ihn auf die Suche zu gehen. Der hatte denn
auch in Bälde ein Fräulein gefunden, „zierlich von Gestalt mit
allerliebst kleinen Füßchen und das Mündchen war nicht größer als
ein Mandelkern. 44 Xur hatten die Eltern des Kindes den Wunsch
geäußert, sie möchten doch zuvor gern den Heiratskandidaten sehen;
es sei ihnen nämlich zu Ohren gekommen, sein Aussehen mache
den Eindruck eines alten Mannes. Tch will ihn selber zu euch
hinüberschicken, sagt der Vermittler.
Wie der Brautbewerber dem alten Freier von seinem Erfolge
erzählt, ist dieser ganz entzückt, aber, aber — die Eltern wollen
ihn zuvor in Augenschein nehmen. Falsche Zähne und Perücken
gibt es in China noch nicht, sonst würde wohl gar mancher unter
solchen Umständen zu diesen Verschönerungsmitteln greifen. Doch
der Chinese findet immer Auswege, zumal wenn es sich um den
Erwerb einer Frau handelt. „Mein dritter Sohn", sagt der Alte,
„hat allerdings schon manches graue Haar, aber er macht doch,
noch immer einen jugendlichen Eindruck. Wie wäre es, wenn er
für mich hinüberginge und sich als zukünftiger Bräutigam vorstellte?"
„Das ist in der Tat ein kluger Gedanke", antwortet der Ehever-
— 78
mittler, und am an-
deren Tage machte
sich der Sohn in
Gala gekleidet und
fein rasiert auf den
Weg zur Erwählten
des Vaters. „Aller-
dings", meinten die
Eltern, „der Mann
ist schon bei Jahren
und sein Alter steht
in keinem Verhält-
nisse zu demjenigen
unserer Tochter,
aber im übrigen ist
er doch ein recht
schmucker Geselle.
So sei es denn, wir
geben unsere Ein-
willigung. 4 * DerVer-
lobungs - Kontrakt
wurde abgefaßt und
nach einigen Tagen
wurde die junge
Braut heimgeführt
zu ihremVerlobten.
Wie das arme Kind
wohl Augen ge-
macht hat, und die
Eltern, die gar nicht
begreifen konnten,
wie der Mann in we-
nigen Tagen doch
so fürchterlich geal-
tert sei. „Das muß
wohl
über
die Freude
die reizende
bß
3
N
C/)
'53
N
o
X
CO
"So
o
g
'JE
o
c
s
Genossin getan haben", meinte der Ehe vermittler. Aber der Alte hatte
Haus und Hof und vieles Besitztum, und das sind beim Heiraten Haupt-
faktoren. Deshalb gaben sich die Eltern zufrieden, wenngleich sie der
Sache nicht so ganz trauten und den Betrug wohl gemerkt hatten.
- 74 —
Noch war kein Jahr verflossen, da konnten die Schwieger-
eltern mir der freudigen Kunde überrascht werden, ihre Tochter
habe dem Herrn Gemahl einen Sohn geschenkt. Der Kleine wurde
T*i'hniuri-fol genannt, d. h. „Auch ich will einen Teil haben"; von
Haus um! Hof nämlich, denn die anderen Söhne hatten bereits
ihren Teil erhalten. Alles war geteilt und für einen zukünftigen
Hruder hatte man nichts mehr zu teilen übrig gelassen. So oft
.ils<> tue Brüder dos Kleinen dessen tarnen rufen hörten, worden
-iie an ihre Pflieht erinnert ihm einen Teil Erbschaft abzutreten.
Sit» haben das denn auch getan und nochmals brüderlich geteilt
und Tschoug-i-fol ist dabei nicht zu kurz gekommen. Als er eben
sechs Jahre alt geworden, ist sein Vater gestorben.
In Te-ugan lebte vor Jahren eiu großer Mandarin, ein „Ta-yin tu
der hochbetagt seine Frau verlor. Kr selber wurde bald auch krank
und sah sein Ende herannahen. Guter Rat war teuer. So leicht
ist es nicht eine derartige hohe Stellung zu ersteigen, sich zu
hohem Ansehen und großer Macht empor zu schwingen und sich
dann vom Tode alles rauben zu lassen. Den Kindern können die
Khren und Titel, die Knöpfe und Federn, welche die Eltern getragen,
in China wenig mehr nützen; keiu Adel ist erblich; wer hoch
hinauf will, soll sich auch selber dafür anstrengen, denkt die Regier-
ung. Aber unsere Zopfträger sind dem Kaiser doch wieder in
schlau gewesen und haben ein Mittel ausgeklügelt, um den hohen
Rang der Ahnen und deren Machtfüile bisweilen noch für längere
Zeiten auszunützen. Geht's nämlich ans Sterben, so werden schnell
Anstalten gemacht, den sterbenden hohen Würdenträger auf seinem
Totenbette noch einmal zu verheiraten. Man sucht dafür in der
Regel ein ganz junges Rhu aus, eine Braut, die Aussicht hat, noch
recht lange zu leben. Sie wird dauu mit einem Schlage lao Tet'e
,,alte Matrone", und als an die rechtmäßige Gemahlin des großen
Mannes so und so gehen alle Titeln, Würden und Vorrechte des-
selben auf sie über. Sollte aber die rechtmäßige Frau noch leben,
so ist allerdings nichts zu machen, dann wird man sich vielleicht
Mühe geben, sie bei Zeiten — aus dem Wege zu schaffen, damit
eine junge an ihre Stelle treten kann.
Der große Mandarin von Te-ngan also heiratete im Interesse
seiner Verwandten tags vor seinem Tode ein junges Mädchen.
Nachdem der Heiratskontrakt abgeschlossen, wurde die junge Braut
an das Totenbett geführt; dort gab sie Himmel und Erde K'ot'ou
(Verehrung durch Niederwerfen auf den Boden) und die Heirat war
fertig. Als der (remahl am anderen Tage starb, mußte sie ihn
— 75 —
beweinen, so laut und tränenreich sie nur konnte. Bei solchen
Heiraten ist freilich die arme Tet'e zumeist zu bedauern; sie hat
vom „Ehestande" weiter nichts als die Würden und Vorrechte des
verstorbenen Gemahls, welche die Verwandten zu selbstsüchtigen
Zwecken ergiebigst ausnutzen. Sie muß zeitlebens Witwenschaft
beobachten und ihrem toten Gemahl Tränen nachschicken ins Jen-
seits. Wollte sie zu einer anderen Ehe übergehen, so verfiel sie
den Strafen des Gesetzes.
Nach der Heirat besagter Tet'e war Jahr und Tag verflossen ;
die junge Witwe lebte in strenger Abgeschiedenheit, bedient von
einigen Kammerzofen, unbekümmert und unbehelligt. Ihre Söhne
d. h. die Kinder der früheren Ehe hatten wenig Respekt vor der
„alten Mutter 44 , die kaum so alt war als sie selber. Anfangs
besuchten sie dieselbe noch wohl, wenigstens zu Neujahr, um ihr
einige Geschenke zu bringen. Allmählich aber blieben sie ihr ganz
fern. Eines Tages nun, als eben ein neuer Mandarin im dortigen
Bezirke Anstellung bekommen, der von der T'et'e seines früheren
Vorgängers keine Ahnung hatte, gingen die Söhne Salz kaufen,
aber sie erhielten nicht mehr als das gewöhnliche Volk. Bekannt-
lich ist Salz Monopol des chinesischen Kaisers. Aber nicht nur der
Kaiser verdient beim Verkaufe desselben, sondern die Mandarine
wollen auch nicht leer ausgehen. Ihr Verdienst erzielen sie dadurch,
daß sie das Pfund zu 12 — 14 Lot verkaufen und durch Beimischung
von Erde und dergl. den „Salzwert 44 erhöhen. Kuentjayin aber, d.
h. die amtlichen Persönlichkeiten, erhalten volles Gewicht, nämlich
das Pfund zu 16 Lot. Als sich die Söhne wie gewöhnliche Menschen-
kinder behandelt sahen, erhoben sie Klage, aber die Klage wurde
als unbegründet abgewiesen. Es blieb nichts anderes übrig, als die
Mutter wieder zu besuchen und ihre Hülfe in Anspruch zu nehmen.
Eben war Neujahr im Anzüge und die Söhne benutzten die Gelegen-
heit, die „alte Matrone 44 mit allen möglichen Ehren zu überhäufen*
Es wurden ihr allerhand Geschenke gebracht und am Neujahrstage
selber erschienen sie in Gala und warfen sich vor ihr als gehor-
samste Söhne auf den Boden, indem sie „Neuen Frühling, große
Freude 44 wünschten. Der Mutter war dies Benehmen auflallend
und sie vermutete, daß ein dickes Ende kommen werde. Sie fragte
deshalb die Söhne gerade heraus : „Wie kommt es doch, daß ihr
jetzt meine Türe wißt und plötzlich so gute Kinder geworden seid?
Ehedem wußtet ihr kaum, wo ich wohnte, und selbst zu Neujahr
habt ihr mich nicht mehr bgrüßt. 44 Die beiden mußten mit der
Sprache und ihren Anliegen herausrücken und sie erzählten von der
— 76 —
Salzgeschichte. „Das ist eine Kleinigkeit," versichert -die Mutter;
-gut, ich will euch Recht verschaffen. Spannt einen Wagen an
mit allem Pomp, wie es sich gehört, und laßt auch die vorgeschrie-
bene Bedienung mitgehen. u Als der Wagen in die Hauptstraße
fuhr, wurden neun Böller abgeschossen zum Zeichen, daß ein „großer
Mann" seinen Durchzug halte. Hastig erschienen Diener des Man-
darins und erkundigten sich nach der hohen Persönlichkeit, die dort
im Wagen sitze. Tet'e, so und so und sie geht nach Peking, war
die kurze Antwort, die sofort dem Mandarin überbracht wurde. Der
Mandarin ließ dann weiter fragen, ob die gnädige Frau besondere
Angelegenheiten in Peking zu besorgen habe, ob sie ihn nicht mit
einigen Befehlen beehren wolle. Ich habe keine besonderen Ange-
legenheiten, schnippte die T'et'e zurück. Ich will in Peking nur
einmal nachfragen, ob man uns dort noch kennt. Hier scheinen
wir in Vergessenheit geraten zu sein ; selbst das Salz sucht man uns
zu entziehen.
Wie dem Mandarin diese Antwort zu Ohren kam, war er
vollends paff. Sofort beauftragte er die angesehensten Bürger der
Stadt, zwischen ihm und der alten T'et'e zu vermitteln; er sei zu
allem bereit. Nur möge sie doch nicht nach Peking gehen. Die
gnädige Frau ließ sich besänftigen. Der Mandarin mußte sich einige
Demütigungen gefallen lassen; außerdem schickte er monatlich einen
großen Sack Salz zur gnädigen Frau, der mehr als für ein Jahr reichte.
Auf dem Todesbette heiraten — das geht schon weit; aber
für den Toten, über das Grab hinaus, noch eine Lebensgefährtin
suchen — das geht noch weiter ; aber auch das bringen die Chinesen
fertig. Wie das zugeht ist in U. S. 52 beschrieben, und illustriert
die folgende Geschichte.
Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeit
an einem Tage.
«^yMLchzeits- und Begräbnis-Feierlichkeiten am selbigen Tage in
ilv^li ö * nem Dorfe bedeuten schon eine Seltenheit, wenn das
^?M Dorf klein ist. Daß aber eine Hochzeits- und eine Leichen-
S^iklS foi er an einem Tage in derselben Familie stattfinden, dürfte
in Europa wohl ein Ding der Unmöglichkeit sein. Der spitzfindige
Chinese» indes bringt so etwas fertig, und was noch mehr zu
— 77 —
bewundern ist, er versteht es sogar einem Toten noch eine Ehehälfte
auzukopulieren, und wenn das geschehen ist, begräbt er beide in
einem Grabe.
Eine derartige Feierlichkeit ereignete sich kürzlich in unserin
Puoly und dabei ging es hoch her. Es handelte sich um einen
bejahrten Alten, der das Zeitliche gesegnet hatte und dessen Frau
auch bald darauf gestorben war, Es stand nichts im Wege beide
zu begraben, aber ehe das geschah, mußte der Alte erst noch eine
längst verstorbene und vergessene Braut heimführen. Die war ihm
nämlich vor etwa 50 Jahren zugesprochen worden, als dann aber
die Hochzeit vor sich gehen sollte, hatte der Tod die Braut wegge-
holt. Dem Junggesellen wurde bald eine andere Frau gesucht, und
mit der lebte er mehr als 40 Jahre zusammen, bis auch sie starben.
Die zuerst gestorbene Braut gilt nun aber als die rechtmäßige und
sie steht ihrem Manne im Schattenreiche als die eigentliche Frau
zunächst. Doch bevor er sie dort heimführen kann, muß er ihr
erst hinieden angetraut sein. Das geschah denn am nämlichen Tage,
als die zweite Frau unseres Alten begraben werden sollte. Das
Grab der verstorbenen Braut wurde geöffnet, die noch vorhandenen
wenigen Knochen wurden sorgsam aufgehoben und in einen neuen
Sarg gelegt, das „Seelensitz-Täf eichen u {J$$Lpä-ni) wurde in eine
Sänfte gesetzt und dann in feierlichem Brautzuge unter Musik
und Petardengeknatter zum Heim des Toten geführt. Während
Freunde und Verwandte den Hochzeitsschmaus verzehrten, wurden
die beiden Seelensitz-Tafeln der Toten neben einander gestellt und
man unterließ es nicht, auch ihnen die einzelnen Gerichte anzubie-
ten und den Duft der Speisen zuzublasen. Nachdem man sich gütlich
getan und sich tüchtig mit Speise und Trank versorgt hatte, begann
dann der zweite Akt — das Begräbnis. Die Musik ließ nun trau-
rige Weisen vernehmen ; die von Wein geröteten Gesichter zerflossen
in Tränen, jedermann hatte Kraft und Ausdauer zum Heulen, Jam-
mern und Wehklagen. Die Leidtragenden legten ihre schmutzigen
weißen Köcke an und wankten hinter den Särgen der zwei Mütter
her; einige konnten sich kaum an ihrem „Schmerzensstocke" (J§C
j^t ngai dschang) U. S. 289 aufrecht erhalten, die Trauer über den
so schnellen Tod der guten Mutter hatte sie ganz zermalmt. Mehr
aber noch als der Schmerz schien der Wein zu wirken und das
Gleichgewicht ihres Körpers zu gefährden. „Unsere gute Mutter,
unsere gute Mutter \ u jammerten die drei Söhne der zweiten Frau,
Männer von 30 — 40 Jahren. „Heute erst bei uns eingekehrt, mußt
du so bald wieder von uns scheiden l u Dem Sarge der eigentlichen
— 78 —
Mutter aber wurde keine Träne nachgeweint. Die Leiche des Vaters
war früher im Felde provisorisch aufgebahrt und mit einem Stein-
gewölbe iibermauert worden. Jetzt war nebenan eine mächtige
Grube ausgegraben, worin alle Särge Platz finden konnten. Alle
drei wurden neben einander gestellt; die früh verstorbene Braut
kam jetzt als die erste Frau zur linken (Ehrenplatz) des Mannes,
ihr zur linken fand die zweite Frau ihren Platz, die verstorbene
Mutter der drei Söhne, welche aber heute keine Träne um sie
weinten. Nachdem dann der Hügel über den drei Särgen aufgeworfen
war, kehrten die Söhne wohlgemut nach Hause zurück mit dem freu-
digen Bewußtsein, daß der Vater im Jenseits mit seiner neuen Braut
glücklich sein würde ; sie aber konnten jetzt zwei Mütter ihr eigen
nennen, von denen die uneigentliche forthin die bevorzugte ist.
Lebensverlängerungs-
und Stärkungsmittel der Chinesen.
lliP^ 1 ' men8C hliche Geist hat von jeher auf Mittel gesonnen,
L; ?■ sein Erdendasein zu verlängern und den gefürchteten Tod
fM&MM * löglichst lange aus seiner Nähe zu bannen. Die Alchi-
&föY&5\! misten der früheren Jahrhunderte bereiteten das große
Klixir, <ias Magisterium, den roten Löwen, die rote Tinktur, welche
als Trinkgold (aurum potabilo) alle Krankheiten heilen, das Alter
verjüngen und das Leben verlängern sollte. Unsere Zopfträger nun
hangen nicht minder am Leben. Fu, lu, schou sind die drei Zauber-
zeichen, die den Inbegriff' alles Erwünschenswerten hinieden für den
Chinesen bezeichnen: Glück, gutes Einkommen, langes Leben.
Und das lange Leben ist ihm schließlich noch die Hauptsache, denn
es liefert zugleich Bürgschaft, daß er im früheren Leben auch gut
gelebt, daß er nichts mehr abzubüßen hatte und daß er deshalb
nach dem Tode zu einer noch höheren Glückseligkeitsstufe, zu
einem noch erträglicheren Einkommen emporsteigen kann. Was
Wunder also, wenn man schon in grauer Zeit allerhand Kraft-
erzeuger kannte, wahre Wundermittel, welche eine abgewelkte Haut
würden drall machen und neues Leben in die schlaffen Glieder
zaubern sollen.
Um mit dem Guten anzufangen, das in der Nähe liegt, ist ein
„Htärkungsleim" (ngao tjao) zu nennen, welcher in Ngaotsch'öng
— 79 —
(nur wenige Stunden von Puoly entfernt) hergestellt wird. Außer-
halb der Stadt lieg! mitten im Felde ein Brunnen, „den die Geister
gegraben und dessen Wasser wunderbare Wirkungen hat.* Eine
Quelle des Brunnes soll mit dem Meere in Verbindung stehen,
eine andere soll aus dem Tsi-Flusse (bei Tsinanfu) ihr Wasser
holen. Am 21. Dezember nun (Tung tsche: Winteranfang) wird
von den Bewohnern der Stadt, welche sich mit der Herstellung
des Stärkungsleims abgeben, Wasser gefahren. Es reiht sich Eimer
an Eimer, und beständig bleibt man am schöpfen ; aber die Quellen
des Brunnens sind unversiegbar. Am folgenden Tage beginnt man
mit der Bereitung des Heilmittels. Beizeiten hat man Pelle von
schwarzen Eseln (die doppelt und dreifach so teuer bezahlt werden
als Pelle von andersfarbigen Langohren) gekauft. Dieselben werden
in dem geschöpften Wasser gereinigt und bleiben so lange darin
liegen, bis die Haare ausfallen. Dann werden die Felle zerkleinert
und zwei Tage und zwei Nächte gekocht. Als Feuerung darf nur
Holz von Maulbeerbäumen in Anwendung kommen. Hierauf wird
die leimige Masse destilliert und in einem silbernen Topfe nochmals
zwei Tage und zwei Nächte lang (nach anderen Beschreibungen
sieben Tage und sieben Nächte) gekocht unter beständigem Um-
rühren mit einem vergoldeten Löffel. Als Zusatz fügt man Reiswein
(schao-ching tsiu) aus dem Süden bei, nebst Absud von Bergkräutern.
Sobald die leimige Mischung erhärtet ist, wird sie in gleichförmige
Stücke zerschnitten, sauber verpackt und nimmt nun ihren Weg
tausende von Stunden weit in alle Gaue des „himmlischen Reiches.* 4
Sollte es der freundliche Leser schon 'mal mit Hämoglobin, Eulaktol,
Somatose oder einem anderen Stärkungsmittel versucht haben, ohne
die gehoffte Stärkung zu finden, kann er's ja auch mit unserem
chinesischen Stärkungsleim probieren; wer weiß, welche Kraft so
eine schwarze Eselshaut in Verbindung mit dem Geisterwasser auf
den Körper ausüben kann.
Die Zubereitung des Ngao-tjao habe ich freilich noch nicht mit
eigenen Augen angesehen, den Wunderbrunnen aber hatte ich
dieser Tage Gelegenheit zu bewundern. Ju tji ming u tji sehe,
bemerkte ich meinem Begleiter gegenüber : Viel Geschrei und wenig
Wolle, und kopfschüttelnd gab er mir recht. Kämen da die Bewoh-
ner Schanghais und Kantons (wohin der Stärkungsleim auch versandt
wird und sähen diesen „ Geisterbrunnen u — sie würden doch stark
in ihrem Glauben an das Wundermittel erschüttert werden. Mit
knapper Not hätte man vielleicht einen Eimer Wasser herausschöpfen
können (es ist augenblicklich freilich große Dürre). Und die bösen
— 80 —
Buben haben ihn fast zur Hälfte mit Backsteinstücken zugeworfen
und treiben noch sonstigen Unfug dabei.
In der !Nahe ist eine Steinplatte pavillonartig überbaut. Auf
der Platte gewahrt man in mächtigen Zügen die Schriftzeichen:
„Alter Brunnen der Stadt Ngaotsch'öng." Darüber steht: „Mittel,
um das Leben der Sterblichen zu verlängern." Rechts davon ist
zu lesen: „Der Kaiser spendet Regen und Tau in Fülle, 6, und auf
der Steinfläche links heißt es : „Die (reister erschlossen diese
Wunderquelle." Auf einigen üedenksteinen, die in der Nähe herum-
stehen, ist verewigt worden, wann der Brunnen restauriert wurde,
ich fand Jahreszahlen aus der Mingdynastie ; ferner aus der Regier-
ungszeit des Kaisers K'anghi und Kiatjing. Die letzte Restaurierung
datierte aus dem fünften Jahre des Kaisers Kuangsiü.
Im Süden Chinas kommt ein Wundertrank in den Verkauf,
bekannt unter dem Namen Fungliosing. Nicht nur besitzt er die
Kraft einer Medizin gegen alle Krankheiten, sondern man gebraucht
ihn auch vorzüglich als Stärkungsmittel im Alter. Zu jeder Flasche
wird ein eigener Zettel beigefügt als Gebrauchsanweisung und als
Reklame. Es heißt auf demselben, daß die heilbringende Wirkung
des Wunderelixiers, „das sich mit der Schnelligkeit eines Pferdes
einen Weltruf erworben", sich vor allem in der erschließenden
Kraft bewähre. Kin Schluck genüge, um bis in die äußersten
Gewebe des Körpers zu dringen. Er teile sich dann den 360
Knochen desselben mit, und alles, was sich darin an Krankheitsstoflen
vorfinde, werde durch die 84000 Haarspitzen (die chinesische Ana-
tomie zählt am menschlichen Körper 360 Knochen und 84000 Haare)
getrieben und nicht minder durch die Nägel an Händen und Füßen.
Im Süden Chinas, wo es noch Tiger gibt, gelten dieselben
als ein vielbegehrtes Jagdobjekt, nicht so sehr ihres Felles halber,
als hauptsächlich des Fleisches und der Knochen wegen. Diese
werden nämlich mitsamt dem Fleische so lange gekocht, bis nur
mehr eine gelatinöse Masse übrig bleibt. Einige Löffelchen davon
genügen, um dem Bleichsüchtigen wieder die Wangen zu röten und
dem Rekonvaleszenten vollends auf die Beine zu helfen. Die zer-
kochten Eingeweide des Tigers aber gelten als ein ausgezeichnetes
Stärkungsmittel für sieche Frauen, und selbst abgewelkte Matronen
sollen davon ein junges Aussehen bekommen.
Kin {Stärkungsmittel von hervorragender Wirkung liefert ferner
Meister Petz durch seine (falle und Leber. Außerdem gelten die
eben hervorgewachsenen Uehhörner (lu gung) und der Rehschwanz
(lu mi) als eine viel gesuchte *nd teuer bezahlte Lebeusverlängerungs-
— 81 —
arznei. Dein Tiere werden bei lebendigem Leibe die zarten Geweihe
abgeschlagen, desgleichen der Schwanz, hierauf schlachtet man es.
Die zu Pulver geriebenen Geweihe bilden ein Kraftpulver; der
Schwanz aber genügt, um sechs Portionen Kraftsuppen daraus zu
kochen. Natürlich können sich nur sehr reiche Leute, die um
jeden Preis noch etwas länger leben wollen, solchen Luxus erlauben,
denn der Preis dieser Kraftmittel ist enorm teuer.
Ein billigeres Kraftmittel bilden die Jangtse. Ein tragendes
Schaf wird geschlachtet und das nur wenige Wochen alte Junge
wird zu Pillen verarbeitet, die eine besondere heilsame Kraft ausüben
und alte Leute noch älter machen sollen. Ein anderes Mittel, das
noch billiger und einfacher ist, kann sich jeder selbst bereiten. Er
braucht nur eine gute Portion Ameisen in ein Gefäß zu verschließen
und einige Wochen lang in der Erde zu vergraben ; dieselben sind
dann sogleich genußfertig. Zumal Kranken, die an Blutarmut oder
Bleichsucht leiden, ist bequem damit geholfen. Das kleine Geschöpf
soll besonders eisenhaltig sein; wer deshalb eine Portion verwester
Ameisen verzehrt, „wird aufleben wie der Baum im Frühling, wenn
neuer Saft durch die dürren Zweige strömt u . Bogenschützen und
Athleten, denen es vor allein auf die Kraft der Arme ankommt,
bedienen sich mit Vorliebe des Ameisentees.
Für gewöhnlich ist der Chinese kein Liebhaber der Milch. Im
Alter aber lernt er sie nicht selten wieder schätzen. Ist Kuh- oder
Schafsmilch aufzutreiben, begnügt er sich damit; anderenfalls mieten
sich auch wohl wunderliche Käuze gegen schweres Geld eine Amme,
die hinter einem Gitter ihres Amtes waltet.
In Paotingfu werden eiserne Handkugeln angefertigt, von der
Größe einer Wallnuß, welche den Zweck haben, bei alten Leuten
das Blut in reger Zirkulation zu halten. Nicht selten trifft man
einen Graukopf an der Straße sitzen, der den ganzen lieben Tag
keine andere Beschäftigung kennt, als in der Hand zwei solcher
Kugeln herumrollen zu lassen. Die Finger sind dabei in fort-
währender Bewegung ; eine der Kugeln ist hohl und verursacht ein
eigentümliches Geräusch ; das ist die singende, die männliche (kung) ;
die andere aber singt nicht und gilt als die weibliche (mu).
Doch nicht nur Mittel, wie die Natur solche bietet und der
denkende Geist sie ersonnen, bringt der Chinese in Anwendung.
Zauberei und Zaubermittel sollen auch mithelfen, das schwache
Lebensflämmchen zu stärken, und Freund Hein noch auf einige Jahre
zu vertrösten. Wenn Medizin und Kraftmittel nicht mehr helfen
wollen, nimmt man zu Lebensverlängerungs-Medaillen, -Ketten und
B. Pieper, „Neue Bünder, 6
— 82 —
-Sapeken seine Zuflucht. Erstere werden an einer Schnur um den
Hals getragen; kleinen Kindern näht man sie auf die Mütze. Die
Kettchen gelten als Armbänder, werden auch wohl um einen Fuß
geschlungen. Die Sapeken baumeln im Zopfe oder in den Franzen
der Kleider.
Armringe aus Jade, die den Toten mit ins Grab gegeben
wurden, werden nach einigen hundert Jahren sehr geschätzt und
teuer bezahlt, besonders wenn sich rote Adern hindurchziehen. Das
soll die Lebenskraft und das Blut des Verstorbenen sein, und wer
hinfüro solch einen Ring trägt, kann dadurch die Zahl seiner Lebens-
jahre noch um ein Bedeutendes verlängern.
Zu einem langen Leben berufen fühlt sich jeder, den die Natur
mit schou-mei beschenkt hat, das sind die buschigen Augenwimpern.
Die Altersstufe wird eingeteilt in die höchste, mittlere und niedrigste
(schang, tschung, chia schou). Wer hundert Jahre lebt, hat die erste
Stufe erreicht; ein Alter von 80 Jahren gilt als die mittlere; die
niedrigste zählt nur 60 Jahre. Verhältnismäßig gibt es unter den
Zopfträgern recht alte, und es fehlen auch jene nicht, die bereits
die höchste Altersstufe erklommen. Fast jedes Dorf aber zählt
einige alte Häupter (lao-t'ou), welche es über die 80 gebracht haben.
Es ist schwer, sich mit ihnen in ein Gespräch einzulassen, denn
fast alle haben taube Ohren. Im übrigen aber sind sie kregel und
wohlgemut; auch die Geistesfrische gehört mit zum Alter der Chi-
nesen. Sagt doch das Sprüchwort : yin lao, sin pu lao : der Mensch
wird alt, das Herz aber bleibt jung.
• ■ -Ju ecCO OOtm i i
Die Prügelheilmethode.
t^ftiest jemand die Überschrift, wird er selbstverständlich an
£^ ein Heilverfahren auf dem moralischen Gebiete denken,
V*!l wo die Prügel ja von alters her eine gute Medizin waren.
fivSrürjS ® lG Prügelheilmethode aber, über die wir heute plaudern
wollen, bezieht sich allen Ernstes auf die Krankheiten des Leibes,
so zwar, daß unser Praktikus, Tschao ist sein Name, behauptet,
er könne mit Prügeln ebensogut oder noch besser alle möglichen
Krankheiten heilen, wie andere Doktoren solches mit Pillen und
Arznei zu tun vorgeben.
Indes ist es nicht allein der Stock, der in Anwendung kommt,
sondern je nach Verschiedenheit des Leidens werden Tamarisken-
ruten gebraucht, Lederriemen, Lineale und vor allem die Schuhsohlen.
— 83 —
Wir können die Anwendungen, wie sie unser Doktor vornimmt, in
Oberprügel (Rückenprügel), Wadenprügel, Sohlenprügel u. s. w. ein-
teilen. Nur das Hauptcontingent, das sonst zur Entgegennahme von
Prügeln dient, bleibt verschont. Die Fußprügel sind besonders
bei Krämpfen in Gebrauch und das Schlagen geschieht mit Schuh-
sohlen. Zu bemerken ist, daß die chinesischen Schuhsohlen nicht
von Leder gemacht sind, sondern von zusammengenähtem Papier
und Tuch. Sind sie auch nicht wasserdicht, sind sie doch überaus
hart und ungeschmeidig, und die Schläge damit dürften fest genug
sitzen.
Einst lief ein Kranker hinter Herrn Tschao her, laut heulend
vor Schmerz; er hatte Seitenstechen und schon einige Pfund Medi-
zin verschluckt, die ihm andere Arzte verschrieben, aber ohne
Erfolg. Unser Prügeldoktor schien davon zu wissen, denn er nahm
wenig Notiz von dem Kranken, der ihn verfolgte und nicht genug
Worte finden konnte, des Doktors Können und Wissen in allerhand
Lobsprüchen zu feiern. Endlich warf sich der Patient zu Boden und
bat mit emporgehobenen Händen um Hülfe. Darauf schien Tschao
gewartet zu haben; er nahte sich ihm und traktierte ihn mit einer
Anzahl — Fußtritten. „Steh auf," sagte er dann, „jetzt bist du
geheilt; willst du aber später gleich geheilt sein, dann suche nicht
erst Kurpfuscher auf!" Kaum hatte sich der Kranke von seinem
Schrecken erholt, waren auch die Schmerzen allsogleich verschwun-
den, nur dort, wohin der erzürnte Doktor seine Fußtritte gerichtet
hatte, schmerzte es ihn noch etliche Tage.
Es würde zu weit führen des einzelnen das Heilverfahren des
Herrn Tschao zu beleuchten und in welcher Weise für die verschie-
denen Krankheitserscheinungen verschiedene Arten von Prügel in
Anwendung gebracht werden. Hauptprinzip des Tschao ist: Der
Schmerz muß mit Schmerz vertrieben werden ; schmerzt es irgend-
wo, so muß anderswo ein anderer Schmerz hervorgerufen werden ;
schon die Natur der Medizin weist auf dieses Gesetz hin, da fast jede
wirklich wirkende Medizin bitter ist oder doch unangenehm schmeckt.
Die Natur, zumal die Haut, muß zur neuen Tätigkeit angeregt
werden; es kann das durch Hitze und Kälte geschehen, durch Rei-
ben, Kneten und Stechen. Das erste und schnell erfolgreichste
Mittel sind aber die Prügel. Handelt es sich um Krankheiten der
inneren Organe, leiten die Nerven den Reiz von der Haut dorthin
über und veranlassen sie zur neuen Tätigkeit. Übrigens kommt
auch das Kneten, Reiben und Stechen bei dieser Heilmethode in
Anwendung, aber nur in untergeordneter Weise.
6*
— 84 —
Für Kranke, denen die Kur zu empfindlich ist und die sich
auf keinen Fall prügeln oder stechen lassen wollen, hält Hr. Tschao
Finessen in Bereitschaft. Er hat eine geheime Kammer, in der sie
eine oder mehrere Nächte verbringen müssen, je nach der Schwere
des Übels. In den Kammern wimmelt es von braunen Gesellen,
die sich mit wahrem Ingrimm auf den neuen Gast werfen. Die
Folge davon ist, daß die ganze Haut dermaßen gereizt wird, daß
der Kranke gewöhnlich an einer "Nacht genug hat und gern bereit
ist, die noch vorhandenen Krankheitsrückstände eventuell mit Prü-
geln austreiben zu lassen. Außer dem Flohzimmer kommt noch
eine Läusejacke in Anwendung; wer eine Nacht darin verbringen
muß, ist am andern Morgen in der Kegel auch „geheilt". Besagtes
Verfahren wird besonders empfohlen für Kinder, die an Blattern
leiden, ohne daß diese hervorbrechen wollen. Die Insektenbisse
sollen das Gift an die Oberhaut leiten, sodaß die Krankheit weiter
nicht mehr gefährlich ist.
Man glaube aber ja nicht, das Prügelheil verfahren des Tschao
sei so ganz und gar neu, und Hr. Tschao sei ein wunderlicher
Kauz oder gelte als Wunderdoktor. „Rückkehr zur unverfälschten
Natur" gilt ihm als Hauptgrundsatz. Wie diese Rückkehr nun
aber gerade in Anwendung solcher „feindlichen" Mittel bestehen
soll, darüber spricht er sich nicht aus. Die Schuhsohle galt den
Chinesen von jeher als Gesundheitserzeuger und mit ihr wird sowohl
bei Menschen als Tieren kuriert. Diesen Sommer war unter dem
Rindvieh liier eine Seuche ausgebrochen. Die Bauern sagten, es
sei die „Ochsen-Malaria". In der Tat zeigten die davon befallenen
Tiere ähnliche Symptome, wie sie bei Fieberkranken zu tage treten :
Müdigkeit in den Beinen, das Gefühl von Kälte, Ausschlag in den
Lippenwinkeln und auf der Zunge. Um dem Übel zu steuern, streute
man den Tieren heiße Asche auf den Rücken; hierauf wurden
dieselben mit Schuhsohlen tüchtig verarbeitet. Anfangs zeigte sich
das Vieh störrisch; wenn dasselbe aber einige Zeit geprügelt war,
schien es die wohltätigem Wirkungen der Kur zu verspüren und
verhielt sich vollends ruhig. Und was die Hauptsache ist: alle
Tiere, welche; dermaßen behandelt wurden, waren nach einigen
Tagen wieder vollständig hergestellt.
Übrigens so ganz außergewöhnlich scheint die Praxis unseres
Doktors Tschao doch auch nicht zu sein. Blutsauger kamen und
kommen daheim ja schon seit geraumer Zeit bei Kranken in Anwen-
dung und es ist schließlich nur die Fragt?, welche Sauger die besten
sind. Sich mit kleinen Ruten die Maut peitschen, um ihre Tätigkeit
— 85 —
zu wecken und zu erhöhen, tun jetzt noch die Philiponen (ein
russischer Volksstamm), allerdings wohl nur in gesundem Zustande.
Wer weiß, ob nicht auch bei uns daheim eines Tages ein neuer
Doktor Eisenbart ersteht, der die Leute nach seiner Art kuriert,
d. h. das Prügelheilverfahren der Chinesen in Anwendung bringt;
es dürfte dann jedenfalls nicht an Leuten fehlen, denen die Haut
juckt, d. h., die sich prügeln lassen wollen.
Wunderbare Allopathie.
kürzlich kam einer unserer Missionare, als er eben auf Reisen
*3ITiV§£ war ' ^ er e ' non Kreuzweg. In der Mitte des Weges mach-
Ilm/ii^kS ten 8 * c k e i n *g e Leute bei einem Topfe zu schaffen, unter
üft^ftÄ dem Feuer brannte. Sobald sie des Missionars ansichtig
wurden, stoben sie auseinander und suchten das Weite. Sie hatten
es so eilig, daß sie gar nicht mehr Zeit genug fanden, ihren Topf
in Sicherheit zu bringen und ihn ruhig inmitten des Weges stehen
ließen. Wie der Missionar da in den offenen Topf schaut, sieht er
Wasser darin brodeln und in dem Wasser schwimmt ein kleines
Kerlchen aus Mehl geformt. Der begleitende Katechist konnte dem
Missionar das Hexenkerlchen erklären, denn er hatte schon zuvor von
dem Schwindel gehört. In dortiger Gegend war nämlich seit einigen
Wochen eine unerklärliche Krankheit ausgebrochen, von der beson-
ders die Frauen befallen wurden. Selbst in den größten Apotheken
gab es keine Medikamente dagegen, und auch den Ärzten war die
Krankheit ganz fremd und neu. „Offenbar war da der Teufel im Spiel."
Und es konnte das wohl kein anderer Teufel sein, als der
europäische; hatten die Jang-kui-tse sich in den letzten Jahren doch
besonders bemerkbar gemacht. Da mußte gründlich aufgeräumt
und der Teufel ganz exemplarisch bestraft werden. Wenn irgendwo
eine Frau von der ungewöhnlichen Krankheit heimgesucht wurde,
mußte ein Jang-kui-tse aus Mehl geformt werden — so hatten es
die Ärzte und die Bonzen verordnet — und der europäische Teufel
von Mehl wurde dann auf einem Kreuzwege in einem Topfe
gekocht; glaubte man ihn gar, so wurde er an den Weg geworfen,
damit ihn die Elstern und Krähen auffräßen. Sobald das gesche-
hen, sei die Kranke geheilt.
Ein derartiges Heilverfahren entspricht übrigens ganz der
chinesischen Allopathie. Man kennt in China eine ganze Anzahl
— 86 —
„Verwandlungskrankheiten" (fen-tschöng), z. B. Hasenkrankheiten (t'u
tse fon), Schafkrankheiten (jan fen), Rabenkrankheiten (lao-kua fen),
Mäusekrankheiten (lao-schu fen) u. s. w. Das Charakteristische dieser
Krankheiten besteht darin, daß der Betreffende, welcher davon
befallen ist, das Eigentümliche von bestimmten Tieren annimmt, und
er muß dann eben durch das geheilt werden, was das betreffende
Tier fürchtet. Wer z. B. die Hasenkrankheit hat, muß Pillen und
Pulver verschlucken, weil der Hase die Flinten und das Pulver
fürchtet. Wer die Mäusekrankheit hat, wird dadurch geheilt, daß
er Pillen gebraucht, die aus den Vordertatzen eines Katers hergestellt
sind, angemacht mit ungebranntem Kalk. Katzen sind bekanntlich
Feind der Mäuse, und in Kalkwänden gibt es keine Mauselöcher.
Einer der an der Rabenkrankheit leidet, muß zwei jan-sche-tien 1 )
in die Nase stecken, und sogleich wird sich sein Zustand bessern.
Ein chinesisches Buch (Tsche fen-tschöng fa) über die Verwandlungs-
krankheiten zählt im ganzen 72 auf, deren Beschreibung ebenso
wunderbar ist, als die Heilung derselben. — Die europäischen Teufel
fürchten natürlich, gekocht und verspeist zu werden (das Schlimm-
ste, das mau sich denken kann). Geschieht ihnen das nun en mi-
niatur, auf einem Kreuzwege, dann wird's schon an die richtige
Adresse gelangen und den Zweck nicht verfehlen.
Vor einigen Tagen kam der Großvater unseres Christenvorste-
hers zu mir geeilt mit der Bitte, ihm ein wenig Blut aus der Schwanz-
spitze eines Schweines zu überlassen. „Blut, von einem lebenden
Schweine, und das noch sogar aus der Spitze des Schwanzes . . .
Wofür willst du das denn gebrauchen ?" fragte ich ihn. „Der einzige
Sohn meines Sohnes liegt schwer darnieder an den Pocken," ant-
wortete er, „der Arzt hat gesagt, nur dieses Mittel könne ihn noch
retten ; es soll unfehlbar helfen. Alle Christen haben keine Schweine,
deshalb bin ich zu dir gekommen, geistlicher Vater." — „Möget
meinethalben dem Schweine etwas Blut abzapfen, zweifele aber, ob
am äußersten Ende des Schwanzes viel Blut zu haben ist, und noch
mehr zweifele ich an dem gewissen Erfolge." — „Ein paar Tropfen
genügen," sagte der Mann, bedankte sich und ging. Am anderen
Tage kam die Nachricht, der Kleine sei gestorben. „Vielleicht hat
das Blut die Krankheit nicht heilen können, weil es von einem
europäischen Schweine genommen war." Später gab mir ein Arzt
die Erklärung des eigentümlichen Heilverfahrens. „Die Pocken,"
*) Jan-schä-tien ist weiter nichts als -- Schafsmist; ob die Raben den
vielleicht fürchten ?
— 87 —
sagte er, „bestehen in der Verunreinigung des Blutes. Deshalb
muß reines Blut von einem lebenden Tiere dagegen in Anwendung
gebracht werden. Das Reinste am Schweine aber (das sonst zu
den schmutzigen Tieren gehört) ist der Schwanz, denn es kringelt
ihn immer in die Höhe." Diese Erklärung war weise, er durfte
und ich mußte mit ihr zufrieden sein.
Das Nationalgericht der Chinesen.
k<
^Al^j^Mitre keine Umstände machen", mahnt der Gast, wenn er
^KfflE unverhofft bei einem Bekannten erscheint, und die sorg-
SK3Bi 8 s rne Hausmutter sich beeilt, das Mittagsmahl herzurichten.
Ä^WäSfe **' e Chinesen haben ein Gericht, das in der Übersetzung so
viel heißt, als „das Gericht ohne Umstände", „die Bequemlichkeits-
speise", Piensche genannt, welches aber zugleich als das National-
gericht der Zopfträger gilt.
Was dem Gaste vorsetzen ; wenigstens müssen doch vier Gerichte
aufgetragen werden, wenn es einigermaßen etwas sein soll und man
das Gesicht nicht vollends verlieren will. Aber da ist guter Rat
teuer. Die Hühner haben das Eierlegen schon längst eingestellt.
Fleisch — ja davon ist noch ein Schnitzel vorhanden, aber es ist
Hasenfleisch, das man doch keinem Gaste anbieten darf, denn Hasen-
fleisch gilt in China als die minderwertigste von allen Fleischsorten.
Schnell Piensche gemacht, denkt die Hausmutter bei sich. Das
älteste Mädchen muß eine Rübe zerhacken ; dann ein Viertel Weiß-
kohl (Peitsä); endlich das Hasenfleisch. Das ganze wird mit Salz,
Zwiebel und Pfeffer untermischt und zu einer Masse durcheinander-
gemengt, die man Chientse nennt. Hierauf wird Weizenmehl zu
einem Teige verarbeitet, woraus man Plättchen formt von der Größe
eines Fünfmarkstückes. In diese Plättchen wird eine Priese Zer-
hacktes gelegt, worauf man die äußeren Ränder zusammendrückt
und die Piensche sind fertig. Im Topfe brodelt Wasser; darin
müssen die Piensche zehn Minuten lang kochen, und der Gast kann
sich dann dahinter setzen. Als Zugabe wird zerstoßener Knoblauch
mit Essig und Sesamöl verabreicht, worin jede Piensche flüchtig
getunkt wird, ehe sie ihren Weg zum Munde nimmt.
Wird ein Gast mit Piensche bedient, so hat er wohl gespeist,
denn die Piensche gelten als Inbegriff alles Guten. All das Gute
freilich, das darin gewickelt ist, ist meistens nicht weit her. Aber
— 88 —
einem geschenkten Gaul schaut auch der Chinese nicht ins Maul,
und er würde es als äußerst unhöflich betrachten, wenn der Gast
untersuchen wollte, ob das Fleisch in den Piensche von einem
verendeten Ochsen stammt oder von einem Hasen. Er gibt sich
dem guten Glauben hin, daß etwas sehr gutes darin verborgen ist,
und dann hilft Sympathie und Einbildung und vor allem der Hunger
über jegliche Bedenken federleicht hinweg. Die berüchtigte Stadt
Z'aufu steht sogar im Kufe, daß sie Piensche verkauft, in denen das
Fleisch von Missetätern, die ihren Kopf verloren, verarbeitet ist.
Was Wahres daran ist, vermag ich nicht zu sagen; Tatsache ist
aber, daß man es für gewöhnlich vermeidet, in dortiger Gegend
Piensche zu essen und sich nur eben dann dazu versteht, wenn
nichts anderes zu haben ist.
Den Ruhm einer Nationalspeise haben die Mehltüten haupt-
sächlich daher, weil zu Neujahr jedermann im großen Chinesenreiche
solche ißt, vom „ Sohne des Himmels u herab bis zum Bettler auf
der Straße. Qualität und auch Quantität allerdings ist sehr verschie-
den. Reiche benutzen als Zerhacktes die besten Fleischsorten, und
die Umhüllung ist vom feinsten Weizenmehl. Der Arme begnügt
sich mit Abfällen von Rübenblättern und sonstigen Gemüsen, und
als Tüte gebraucht er schwarzes Sorghomehl. Zu Neujahr aber
keine Piensche essen, ist überhaupt nicht denkbar; wer an diesem
Tage sich selber keine bereiten kann, bekommt sie von guten Freun-
den geschenkt. Selbst Hunde und Katzen speisen an diesem Feste
Table d'hote, das heißt auch ihnen werden Piensche vorgesetzt.
Neues Jahr soll neues Glück bringen, aber auch das Leben
des Chinesen gleicht dem Lotteriespiel, der Treffer sind gar wenige.
Die meisten hoffen bis zum Lebensabende auf das Glück und neh-
men diese Hoffnung noch mit hinüber ins Grab. Zu Neujahr werden
Käsch-Piensche gemacht, indem man statt des Zerhackten einen Käsch
in die Mehltüte steckt. Das sind die vielbegehrten Glücks-Piensche»
die Glück bedeuten im neuen Jahre und auch das Glück bringen sollen.
Vielleicht, daß sich der Esser auf dem Käsch einen Zahn ausbeißt, falls
er's eilig hat. Doch das nimmt er gerne mit in den Kauf, denn um
glücklich zu sein, kann man schon einen Zahn weniger haben.
Beim Essen der Neujahrspiensche in der Frühe sind noch
besondere Regeln zu beobachten; jeder befleißigt sich dabei des
Stillschweigens, wenigstens darf man nicht von jemanden reden, der
abwesend ist, mag er Freund oder Feind sein. Denn während beim
Essen der Name eines andern über die Lippen geht, verschwindet
damit auch das eigene Glück und geht in den Besitz jenes über,
— 89 —
dessen Namen man genannt hat. In allen Küchengeräten müssen
einige Piensehe liegen bleiben, auch darf man den Topf nicht leer
essen, sonst gibt's im neuen Jahre lauter leere Töpfe und Schüsseln.
Jedermann aber muß sich recht voll pfropfen, d. h. er muß so viel
Piensehe vertilgen, als der Magen nur eben vertragen kann, dann
wird er im neuen Jahre niemals Hunger leiden. Alten Leuten,
Kranken und Genesenden wünscht man ein glückseliges neues Jahr,
indem man sie fragt, ob sie ein halbes Dutzend Schüsseln voll
Piensehe gegessen haben, was sie natürlich bejahen.
So verschieden der Inhalt und die Umhüllung der Mehltüten
ist, so mancherlei ist auch ihre Form. Gemäß dem Aussehen ist
denn auch der Name verschieden. Die Neujahrspiensche sind ge-
meiniglich sehr klein und haben die Form eines Halbmondes;
größere, die nur auf den Straßen verkauft werden, heißen Paotse
und sehen aus wie ein zugeschnürter Tabaksbeutel en miniatur;
eine dritte Sorte endlich heißt Tjaotse ; auch diese werden meistens
nur zum Verkaufe angeboten und haben den Vorzug, daß ihr Inhalt
immer aus Fleisch besteht. Kommt ein nobeler Gast, zeigt die
chinesische Hausfrau auch gern, was sie kann. Die Verbindungs-
linien der Teigläppchen werden beim Zusammendrücken geschickt
zu allerhand Zackenwerk verarbeitet, damit das Auge beim Essen
durch das zierliche Äußere über den zweifelhaften Inhalt der Mehl-
tüten hinweggetäuscht werde.
In Peking verkauft man zur heißen Jahreszeit in den besseren
Restaurants Eispiensche an Gourmands, die mit ihrem Gelde nicht
zu bleiben wissen. Kleine Stückchen Eis werden in Teigläppchen
gewickelt, für einen Augenblick in kochendes Wasser gelegt und
dann dem Gaste sofort serviert. Zurichten, Kochen und Essen, alles
das muß in fieberhafter Eile geschehen, damit das Eis nicht zer-
schmilzt, bevor die Piensehe in den Mund des Essers gelangen.
In Tsinanfu werden dem jungen Ehepaare am Hochzeitstage
Piensehe vorgesetzt, die nur halb gar sind. Ungar heißt schöng
und hat außerdem die Bedeutung von „geboren werden*. Will man
nun den jungen Leuten ein Kompliment machen, so fragt man sie,
ob sie tüchtig ungare Mehltüten gegessen, und sie antworten mit
einem kräftigen „Ja", in der Hoffnung, daß dereinstens recht viele
Nachkommen den Ruhm ihres Hauses weiterpflanzen.
„Piensehe, die in einer Teekanne gekocht werden und dann nicht
herauszubringen sind", bezeichnen einen Gelehrten, „der den Bauch
voll Wissenschaft hat", sie aber nicht an den Mann zu bringen weiß.
— 90 —
Immer nobel.
ßljß^uriüso Käuze gibt es auf der ganzen Welt und auch die
' rlwkra Chinesen stellen ihr Kontingent dazu, wenn gleich sich die
>isten am liebsten in den prosaischen Bahnen der Alltäg-
ieit bewegen. Lebte da im Bezirke Naen- kung ein
steinreicher Krösus Tschang-saen-la geheißen, welcher der Meinung
war, er könne nie und nimmer mit seinem Reichtum an ein Ende
kommen. Sein Vater freilich hatte dem Sohne beim Abschiede
aus der Welt gesagt, er hinterlasse ihm unermeßliche Schätze,
selbst wenn sich der Sohn täglich einen Silberschuh (ein Stück
Silber cirka 50 Taels) gönnte, würde er beim Tode dennoch genug
haben. Sollte er indes den Silbervorrat soweit verbraucht haben,
daß er Haus und Hof anpacken müsse, dann möge er es allmählich
verkaufen, ja nicht auf einmal. Der fürsorgliche Vater hatte näm-
lich im Fundamente Töpfe mit Silber, vermauert, die einen Zehr-
pfennig bilden sollten, wenn der Sohn anfange Not zu leiden.
Also Tschang-saen-la kannte weiter keine Sorge, als daß er
fürchtete, beim Tode noch etwas zu hinterlassen. Lieb Herz was
verlangst du, frug er sich alltäglich und alle erdenklichen Genüsse
suchte er sich zu verschaffen, dabei spendete er mit vollen Händen
an alle Freunde und Bettler ; Feinde aber hatte er keine, denn wer
hätte auch einem so noblen Herrn gram sein können. Wurde es
ihm zu langweilig, dann fuhr er in die Stadt hinaus um Tüten
von Schaffleisch (Jan you pao tze), zu genießen, denn die sagten
seinem verwöhnten Gaumen ganz besonders zu. Er aß jedoch nur
das Innere, die Mehlhülle warf er bei Seite. Das nimmt kein gutes
Ende, meinte eines Tages sein Gastwirt. Ich will ihm die Umhül-
lung der Klöße aufbewahren, vielleicht ißt er sie später gerne.
Nachdem es Tschang-saen-la einige Jahre so getrieben, merkte
er allmählich, daß sein Reichtum doch keineswegs unendlich sei.
Aber er war einmal ein großer Mann geworden, der mit vollen
Händen auswirft und sich alle Genüsse erlaubt; da war es schwer,
sich noch Zügel anzulegen. Es ging deshalb mit dem Reichtum
auch alle Tage mehr abwärts. Nach einigen Tagen war er so weit,
daß er mit dem Baarbestande im Reinen war; jetzt hieß es Haus
und Hof verkaufen. Noch erinnerte er sich der Mahnung seines
Vater», doch ja die Gebäude auf Abbruch zu vergeben, aber das
schien dem Sohne doch höchst langweilig und unnötig. Er verkaufte
alles in Bausch und Bogen; Abbrechen möge tun, wer Lust dazu
habe. Das vergrabene Silber fiel deshalb in anderer Leute Hände.
— 91 —
Nach wenigen Jahren war auch der Erlös für Haus und Hof
verpraßt, und da hieß es denn Mangel leiden. Ja es kam so weit,
daß Tschang-saen-la nach dem Bettelstab greifen und sich unter
die Armen mischen mußte, denen er einstens mit vollen Händen
Geld zugeworfen hatte. Auch seinen Wirt, der ihm früher die
saftigen Schaffleischklöße vorgesetzt hatte, suchte er bisweilen auf.
Dieser bewirtete ihn nunmehr mit den Mehlhülsen, welche Tschang-
saen-la in den Tagen des Überflusses bei Seite geworfen hatte.
Die Dinger waren freilich ganz trocken und mußten zuvor in Wasser
gekocht werden. Tschang-saen-la konnte den Brei nicht genug
loben, so feine Kost wurde ihm sonst nirgendwo vorgesetzt. Weißt
du, frug ihn eines Tages sein Wirt, was das für ein Brei ist,
der dir so mundet ? Das sind die Mehlhülsen, die du ehedem zu essen
verschmäht hast. Heute habe ich dir den letzten Rest gegeben.
Es dauerte jedoch nicht lange, da hatte Tschang-saen-la auch
das Betteln satt. Noch besaß er einen Daumenring, das letzte
Erbstück seines Vaters. Heute brachte er ihn zum Trödler, der
ihm 800 Käsch dafür auszahlte. Noch einmal suchte nun Tschang-
saen-la seinen Wirt auf, legte 400 Käsch auf den Tisch und
bestellte Schaffleischklöße. 400 Käsch war Geld genug um sich
einmal satt zu essen, das war auch der zweitletzte Wunsch unseres
Sonderlings. Auch diesmal warf er die Mehlhülsen verächtlich bei
Seite in Erinnerung an die flotten Tage von ehemals. Als er satt
gegessen, suchte er seine Bettelgenossen auf und versprach dem-
jenigen 400 Käsch zu geben, der ihn auf seinen Schultern dnrch
die Straßen zur Pagode der Stadtgötzen trage. Das wollte natürlich
jedermann gerne tun und im Augenblick saß er auf den Schultern
eines stämmigen Bettlers. Triumphierend schaute er von oben her-
unter und jedem der ihm begegnete rief er zu: Kennt ihr noch
den Tschang-saen-la ! Im Leben war er größer als alle (yin schang
yin) und jetzt wo er in den Tod geht, ist er es auch noch. — Als
man bei der Pagode angelangt war, wurde er abgesetzt, und der
Träger bekam seine 400 Käsch ausbezahlt.
Tschang-saen-la aber nahm seinen Leibgürtel, legte ihn um
seinen Hals und erhängte sich an einem Balken, neben dem Bilde
des Götzen. Um einen Kopf höher als die gewöhnlichen Sterblichen
hatte er gelebt, um einen Kopf höher war er in den Tod gegangen,
um einen Kopf höher hing er noch im Tode. Tschang-saen-la ist
aber wegen seines Hausverkaufs sprichwörtlich geworden: Wenn
Tschang-saen-la Haus und Hof verkauft, dann tut er's in Bausch
und Bogen. Und sein Name gilt für alle, die es ihm gleich tun.
— 92 —
Chinesischer Gernegroß.
•At||l!eder Chinese möchte es um alles in der Welt gern zu etwas
T^vll b rm £ en - Wenigstens einmal möchte er glänzen, wenn auch
wfw nur für ein paar Stunden; einmal möchte er als „großer Mann"
al'ÄlÄi auftreten, wenn er auch am anderen Tage wieder zum Bettel-
stabe greifen soll ; einmal möchte er bankettieren und vornehm tun,
gern will er dafür jahrelang fasten. Solchen Herzenswünschen der
bezopften Welt trägt denn auch die einheimische Sitte vielfach
Rechnung. Gilt es z. B. die junge Frau heimzuführen, so geschieht
es unter Sang und Klang, und das glückliche Paar sitzt, wenn nur
eben möglich, in einer Sänfte. Dem Hochzeitszuge hat jeder aus
dem Wege zu gehen ; der Bräutigam aber schaut ganz gebieterisch
in die Welt und macht sich breit in der Sänfte, als ob sie ihm
gehöre. Er sucht die Freude ganz auszukosten: es ist ja nur
einmal im Leben. Das Gefühl, einmal im Leben den Ceremonienhut
und die lange Toga zu tragen, einmal als „großer Mann" durch die
Straßen geschaukelt zu werden, einmal gegessen zu haben wie ein
Mandarin und von der Menge begafft zu werden wie ein Olgötz:
das ist reichliches Entgelt für vieler Jahre Mühe und Last und
bringt Trost fürs ganze Leben.
Mancher Zopfträger ist indes mit einer eintägigen Größe nicht
zufrieden, besonders wenn er einen recht langen Zopf hat (wie ihn
die Stutzer zu tragen pflegen): er möchte recht oft als Mandarin
auftreten und den Großen spielen. Welch kindliche Einfälle da
bisweilen erfunden werden, kommt uns lächerlich vor. Nur ein
Beispiel aus dem Leben.
Es wohnten zwei Brüder in einem Hause. Der eine war
Schreiber im Mandarinate und hatte einen netten Anzug; der andere
aber war ein armer Schlucker und besaß kaum die nötigsten Lumpen.
Geschah es nun, daß der ] Bruder Schreiber den einen oder anderen
Tag krank war, kannte der Bruder „Lump" kein seligeres Vergnü-
gen, als sich in dessen „ Staat u zu werfen und dann den ganzen
Tag damit auf der Straße herumzustolzieren. War das Wohlbefinden
des Rockbesitzers aber gar zu andauernd, dann benutzte der junge
Geck nicht selten die Nachtstunden, um die Kleider des Bruders
anzulegen und spazierte damit so lange um das Haus, bis er sich
„satt" getragen.
Zwei andere Brüder kauften sicli ein Paar Stiefel zum gemein-
schaftlichen Gebrauch. Der eine war ein flinker Bursche und wurde
öfter herangezogen, um Gasten bei der Mahlzeit zu dienen. Dann
— 93 —
mußte er natürlich auch seine Stiefel anlegen. Auf diese Weise
kam der andere Bruder nur sehr selten in die glückliche Lage, die
Stiefel an seinen Füßen glänzen zu sehen. Einmal aber war der
Bruder Kellner gar einen ganzen Monat draußen gewesen und hatte
bei Mahlzeiten aufgewartet. „Jetzt werde ich mich aber sofort
rächen", dachte der andere Bruder, als jener nach Hause kam.
Noch am Abende zog er die lang vermißten Stiefel an und lief
damit im Felde herum. Es hatte aber gerade geregnet, und die
armen Stiefel wurden im Wasser und Schlamm jämmerlich zuge-
richtet. Am anderen Tage stellte sich heraus, daß sie völlig zerrissen
und unbrauchbar geworden. „Kaufen wir uns ein anderes Paar
Stiefel", mahnte der ältere Bruder. „Ich tue nicht mehr mit",
antwortete aber der jüngere „du ziehst die Stiefel den ganzen Tag
an; stecke ich aber während der Nacht meine Füße hinein, dann
sieht mich doch niemand, und zudem komme ich noch um den
Schlaf. Habe ich Geld genug, kaufe ich mir selber Stiefel, mach
du es ebenso."
Auch belieben die langbezopften Stutzer (Vergl. IL 178) sich
den Anschein zu geben, als ob sie alle Tage weiß Gott was für
herrliche Sachen äßen, während sie oft in Wirklichkeit zu Hause
kaum eine Kruste Brot zu beißen haben. Hinter der Türe hat
mancher eine Speckschwarte hängen, und bevor er hinausgeht, reibt
er sich damit einige Male um den Mund, daß er ganz glänzend
und fettig aussieht „Der hat aber gut gespeist", denkt dann jeder,
der des feinen Herrn ansichtig wird, „sein Mund glänzt ja wie ein
gesottener Aal." Und doch hat der arme Pinsel vielleicht noch
einen leeren Magen, aber das „Lob" tut ihm wohler, als die beste
Mahlzeit. Kann er ungesehen Knochen oder Eierschalen zusammen-
lesen, dann tut er es sicher; diese Dinge müssen vor seiner Haus-
türe paradieren, damit jedermann glaubt, wie der Herr da drinnen
so herrliche Mahlzeiten hält.
Beim Anzüge kommt es vor allem auf den äußeren an. Manchem
fehlt Hemd und Hose, aber was tut es, wenn er nur einen langen
Rock hat und Beinkleider (tchVk'u). Fellkleider sind teuer; die
kleinen Gernegroß haben aber in der Regel wenig Geld in der
Tasche, um sich solche anzuschaffen. Da wird denn der Rock mit
einer Handbreit Fell verbrämt, dort aber, wo das Fell den Körper
warm halten sollte, fehlt es, was aber mfi-'ht das: der Ruf bleibt
gewahrt, und das ist die Hauptsache.
Jemand schickte einstens seinen Diener zum Schneidermeister,
einen neuen Anzug zu holen. Der Junge blieb über einen halben
— 94 —
Tag aus, und schon glaubte der Prinzipal, er sei mit dem Anzüge
durchgebrannt. Doch endlich gegen Abend erschien der Bursche.
Aber was konnte der Arme dafür, daß er nicht früher zurück-
gekehrt: „Der Schneider hatte die Hose ja erst halb fertig und
darauf mußte er warten. " Als der Herr am anderen Tage die neuen
Kleider anlegte, begriff er nicht, was an seinem Halse doch eigent-
lich herumkrabbelle. Zu seinem „Entsetzen* gewahrte er dann,
daß sich Kleinvieh bei ihm eingenistet habe. Sofort wollte er den
Anzug dem „ekeligen" Schneider zurückschicken, da gewahrte er
in der Rocktasche einen abgerauchten Cigarrenstumpf ; und die Hose
wollte ihm gar nicht mehr neu scheinen, ja es war richtiger Straßen-
dreck, der sich daran festgesetzt hatte. Der Mann stand vor einem
Rätsel; sein „getreuer" Diener hätte es ihm lösen und Auskunft
geben können, woher das Kleinvieh gekommen und der Straßen-
dreck. Er war nämlich einen halben Tag mit dem Anzüge herum-
stolziert und hatte ein halbes Dutzend Teehäuser besucht und bei
ebenso vielen Verwandten vorgesprochen, damit sie doch alle „seinen"
funkelnagelneuen Anzug bewundern könnten.
Wird der Chinese beauftragt, ein Pferd fortzuführen, so nimmt
er ganz gewiß einen weiten Umweg, ehe er an sein Ziel kommt, und
wenn es ihm eben möglich ist, besucht er zuvor mit „seinem Rappen"
eine Anzahl Freunde, damit doch alle erfahren, wie weit er es schon
in seiner Karriere gebracht hat und nicht mehr gleich einem gewöhn-
lichen Sterblichen auf Schusters Rappen einherzugehen braucht.
Ratten und Mäuse.
Jie ich soeben ein wenig in der Wochenausgabe der Köln.
jj*j Volkszeitung lese, stoße ich auf den Aufsatz Df über
die Ratten. Noch habe ich ihn nicht zu Ende gebracht,
E^5Ä$*¥!?3 kommt ein kleiner Knirps ins Zimmer herein und hält
einen Faden in der Hand, an dein eine gewaltig große Ratte bau-
melt. Das Tier, mit einem Hinterbeine festgebunden, ist noch
geschmeidig genug, sich mit dem Kopfe nach oben zu richten und
macht immer neue Versuche, seine Fessel zu durchbeißen. Der
Kleine gibt dann dem Faden einen Ruck; denn wenn ihm die Ratte
davon läuft, ist er um seine zehn Sapeken. So teuer kaufe ich schon
seit Jahren unsern Waisenkindern die Ratten ab, d. h. die fetten.
Für kleinere Tiere oder für Mäuse zahle ich nur die Hälfte. Mancher
— 95 —
Junge ist deshalb ein gewichster Rattenfänger, und er hat sich schon
einige hundert Sapeken aufgespart, die er sorgsam zusammenhält.
Andere betreiben das Geschäft nur zeitweilig, so daß es sich der
Mühe nicht lohnt, das Geld zusammen zu halten. Es wird dann
meistens umgesetzt in Erdnüsse, spanischen Pfeffer oder sonstige
Sapekenwaren, die die Kleinen verspeisen. Ein armer Kleinhändler
hält sich jahrein jahraus an der Residenzpforte auf und macht
„Geschäfte". Durch das Rattenfangen ist den Kindern Gelegenheit
geboten, sich einige Sapeken zu verdienen ; der arme Kleinhändler
hat dann auch etwas Profit davon.
Nun wird der freundliche Leser aber zwei Prägen auf einmal
stellen. Erstens woher denn so viele Ratten in die Residenz kommen,
ob die denn niemals ausgefangen werden; und zweitens, was ich
mit den Tieren denn eigentlich anfange. Die wird der Missionar
natürlich verspeisen, denkt vielleicht mancher. Haben doch die
chinesischen Ratten so etwas wie Weltruf; jedermann weiß ja, daß
die Langschwänze in China ein gesuchter Leckerbissen sind. Und
in dem Rattenaufsatze Df ist dem löblichen Rattengeschlechte die
Ehre vorenthalten, den Leser an diese Tatsache zu erinnern — der
Missionar wird sicher das Versäumte nachholen wollen. Der Gedanke
liegt nahe, aber diesmal stimmt er nicht. Unsere Schantungchine-
sen verspeisen die Ratten ebenso wenig wie die Bauern daheim,
es sei denn, die Not dränge sie dazu. Möglich, daß die Zopfträger
im südlichen China es tun; hierzulande aber bilden Ratten und
Mäuse das Hauptgericht für die Tafel des vierbeinigen Katers. Ich
halte deren drei ; diese verspeisen denn auch meistens die gefangenen
Ratten und Mäuse und auf meinen Lockruf erscheinen sie zur Stelle.
Die Kinder fangen das Ungeziefer in Räumlichkeiten, wohin die
Katzen keinen Zutritt haben. Die chinesischen Katzen aber können
allzumal „als Ausbund eines schönen Katers" gelten; keine macht
sich bange vor einer pfundschweren Ratte, und das Fleisch der-
selben wird immer mit dem nämlichen Appetit verzehrt. Katzen,
die noch nicht ausgewachsen sind, können an einem Tage mit
Leichtigkeit ein Dutzend nicht allzugroßer Ratten vertilgen; ich
habe dasselbe oft genug beobachten können.
Also unsere Jungen teilen mit den Katzen das Geschäft des
Ratten- und Mäusefangens und werden dafür bezahlt, hauptsächlich
deshalb, weil sonst eine wahre Rattenplage entstehen würde und die
Tiere geradezu überhand nähmen. Die Mauern der Residenz, besonders
die Umfassungsmauern, sind größtenteils noch aus gestampfter Erde
oder Luftziegeln. Darin haust denn das Ungeziefer nach Belieben ; die
— 96 —
Mauern werden unterminiert, durchlöchert und schließlich derart
ruiniert, daß die äußere Backsteinbekleidung abfällt. Für die Kinder
aber ist der Rattenfang die einzige „erträgliche" Beschäftigung; die
paar Mark, die ich jährlich dafür zahle, wiegen die Hunderte von
Marken an Schaden, den die Tiere sonst verursachen würden, bei
weitem auf.
Das Fangen geschieht in sehr primitiver Weise; zwei ausge-
höhlte Backsteine, drei Hölzchen und ein Faden bilden den ganzen
Mechanismus. Jeder Junge bereitet sich selbst die Falle; manche
haben deren mehrere. Das gefangene Tier läßt man in den Ärmel
laufen, darauf wird ihm ein Faden an das Bein gebunden.
Ratten und Chinesen passen recht wohl zusammen ; sicherlich
haben beide schon seit undenklichen Zeiten miteinander Bekannt-
schaft gemacht. Im Wörterbuche des Kaisers K'anghi befinden sich
94 Charaktere, die in Zusammensetzung mit dem Wurzelzeichen
Maus (Ratte) ein anderes „mausverwandtes" Tier darstellen, oder
die uns Ratten und Mäuse in allen nur denkbaren Formen und
Eigenschaften vorführen. Als maus verwandtes Tier gilt zunächst die
„Mausmadam" (schu-fu), zu Deutsch Kellerwurm oder Assel geheißen.
Ferner die v Silbermaus u (jin-schu), womit man das Hermelin
bezeichnet. Als „fliegende Maus" (fei-schu) wird die Fledermaus
gekennzeichnet. Das Eichhörnchen versetzt der Chinese nicht auf
die Eiche, sondern auf die Fichte, und nennt es dementsprechend
„Fichtenmaus" (sung-schu), der manierliche Hamster wird „Anstands-
ratte" tituliert, das Wisel hingegen muß mit der Bezeichnung
„gelber Mauswolf" (huang-schu-lang) vorlieb nehmen.
Die Chinesen machen für gewöhnlich keinen Unterschied zwi-
schen Ratten und Mäusen. Das Wurzelwort „schu" allerdings
bedeutet zunächst Maus ; die Ratte bezeichnet man als die Lauschu,
die alte Maus; unter dem Namen einer kleinen Ratte hingegen
(sio-lau-schu) wird eine Maus verstanden. 1 )
*) Die Paradoxa solchen Sprachgebrauches fühlen die Chinesen auch her-
aus. In China werden die Dichter nicht geboren, sondern gemacht. Der Dichter-
le lirer gibt «einen Zöglingen die erste Reimzeile, zu der sie dann eine zweite
entsprechende schmieden müssen. „Eine kleine große Maus geht spazieren, 44 hieß
einstmals die erste sinnvolle Verszeile. Niemand konnte dazu eine zweite machen.
Verschmitzt lächelt endlich ein kleiner "Witzig. Doch ehe er seine Weisheit her-
auskramt, bedingt er sich vom Lehrer aus, ihn nicht verhauen zu wollen. Nach-
dem solches Versprechen gegeben, schreibt er unter die obere Zeile: „Ein großer
Zwerg kann nicht deklamieren. 44 Zwerg war nämlich der Name des großge-
wachsenen Poeten magisters.
— 97 —
In den chinesischen Klassikern (sü-schu) wird weder der Ratten
noch der Mäuse Erwähnung getan. In dem Buche der Lieder
(sche-tjing) aber spaziert einmal das zierliche Mäuslein vorbei als
Bild des Anstandes :
Nun sieh, die Maus hat Haut und Haar,
Und Menschen gibt's des Anstands bar?
Wenn'e Menschen gibt des Anstands bar,
"Warum nur sterben die nicht gar?
Das andere Mal wird uns die „große Ratte* vorgeführt als
Präsentant des gefräßigen Mandarinen. Um seinen Prellereien zu
entgehen, hat man sich entschlossen, den Wanderstab zu ergreifen
und will anderswo gastlichere Gegenden aufsuchen.
In China gibt es keine „ Kirchenmäuse ", aber man spricht von
„Altarmäusen" und versteht darunter schlechte Menschen. Aber
trotz seiner Schlechtigkeit katzenbuckelt eiern solchen die ganze
Welt, denn er ist in Amt und Würden (Altar), und man fürchtet ihn.
Der Grundsatz: Einen Stein zwischen die Mäuse werfen und damit
die Tassen zertrümmern, soll zur Vorsicht mahnen im Verkehr mit
hochgestellten Persönlichkeiten. Wer's mit ihnen verdirbt, kommt
gewöhnlich vom Regen in die Traufe. Man lasse deshalb ruhig
die Mäuse zwischen den Tassen Spielen, denn es ist zu gewagt^
dorthin einen Stein zu werfen.
Wenn die Katzen weinen, heucheln die Mäuse falsches Mitleid,
sagt ein chinesisches Sprichwort. Derartiges Mäusemitleid gibt es
übrigens nicht nur in China, sondern anderswo auch. Ist jemand
aller Mittel und Hülfe bar, so nennt man ihn verfaulte Maus (fu-schu).
Diese wird sogar von den Katzen verschmäht; mit einem Armen
aber will niemand zu tun haben.
Über Feldmäuseplage braucht der chinesische Bauer nicht sonder-
lich zu klagen. Wohl gibt es eine Art Feldmäuse (wan-ts'ang), „Scheu-
nenschlepper" genannt die den europäischen sehr ähnlich sieht. Dem
Tierlein wird größte Ordnungsliebe nachgerühmt. Es soll in seiner
Erdbehausung alles sehr praktisch eingerichtet haben und sogar die
verschiedenen Getreidearten in besonderen Fächern aufgespeichert
halten. Ein Mensch, der überall etwas mitzunehmen sucht und seinen
Krimskrams geizig zusammenhält, wird auch „Scheunenschlcpper"
genannt, ähnlich wie man daheim von einem „ Hamster u spricht.
Großen Schaden können wenige Ratten anrichten, wenn es
ihnen gelingt, zwischen die Seidenwürmer zu kommen. Haben
sich die Räuber satt gefressen, dann geht es ans Todbeißen und
Fortschleppen, und am frühen Morgen kann die Hausmutter ihre
R. Pieper, „Neue Bündel". 7
— 98 -
zerstörten Hoffnungen beweinen. Auch unter jungen Küken, die keine
Henne bewacht, richten die Kutten nicht sehen arge Verwüstung an.
Die chinesische Zoologie weil} zu berichten, daß sich eine
Maus zur Fledermaus metainorphosiert, wenn sie zu viel Salz gefres-
sen. Eine Art schneeweißer Silbermäuse mit roten Augen wird als
Spielzeug geschätzt. Man bereitet ihnen Kasten, in denen oft meh-
rere Familien zusammen hausen. An den Kasten sind Drahtrollen
angebracht, in denen sich die purzeligen Tierchen ähnlich wie unsere
Eichhornchen gegenseitig die Langeweile vertreiben und nicht minder
dem glücklichen Besitzer, der in sinniger Betrachtung oft stunden-
lang davor steht. Der Geruch solcher Mäusekasten ist aber für
eine zivilisierte Nase unausstehlich.
Selbstverständlich stecken unter der Ratten- oder Mäusehaut
allerhand gute Eigenschaften, die in der chinesischen Apotheke Ver-
wertung finden. So z. B. soll ein Tröpfchen Kattennicrenfett jeden
Stocktauben wieder hörend machen, Die Schwierigkeit besteht nur
darin, solches Fett zu bekommen, denn der Schrecken macht die
Rattennieren verschwinden. Beim Fangen aber wird jedes Tier bange
und darob seine Nieren einbüßen.
Hua, hua, hua! rufe ich durchs Fensler, und drei Katzen lau-
fen herbei, zwei gelbe und eine graue. Sie balgen sich um die
Ratte; der Knirps erhält seine zehn Sapeken ausgezahlt; er hätte
heute eigentlich mehr verdient.
Eine eigentümliche Geschichte.
;wei Blinden wollten ihr Los etwas erträglicher machen.
^* Deshalb taten sie sich zusammen, der eine wollte den andern
führen. Eines Tages nun, da sie ihres Weges fürbaß zie-
Jf iJSft^ hen, stolperte der eine über einen Korb voll Reisig, der neben
dem Wege stand. Er geriet darob arg in Zorn, nahm den Korb und
trat ihn entzwei. Der Reisigsammler beiseits hielt sich ruhig, dachte
aber still in sich : Wartet nur mal, ich werde euch schon eins antun. In
angemessener Entfernung folgte er ihnen nach, ohne daß die beiden
etwas gemerkt hatten. Nachdem sie noch eine Strecke Weges
gegangen, setzten sie sich unter einem Baume nieder. „Großer
Bruder *, hub A an, „ich habe in der Flasche noch ein wenig
Schnaps, trinken wir uns eins, mir ist so elend im Magen. u —
„Bruder", erwiderte der andere, „gerade das ist auch mein Fall, tun
— 99 —
wir das." — Sie nahmen also ihren Ranzen zur Hand, holten die
Flasche und ein kleines Schnapstäßchen heraus (die Chinesen haben
keine Schnapsgläser, sondern kleine Täßchen aus Porzellan, so groß
wie eine Nußschale) und A schüttete ein. — „Trink du zuerst,
großer Bruder*, hub er zu B an und reichte ihm das Täßchen mit
Schnaps gefüllt dar. Aber unser Reisigsammler hatte sich stille
herbeigeschlichen und ehe B die Schnapstasse empfing, hatte er sie
schon ausgetrunken und reichte sie dann dem B leer dar. — „Aber
da ist ja nichts drin", sagte B zu A, „willst du Schabernak mit
mir 8{)i<ßlen?" — „Natürlich ist was darin, hab' sie doch angefüllt,
du hast es wohl verschüttet; doch ich macBe dir noch eine voll."
— Aber auch die zweite trank unser Reisigsammler und ebenso
die dritte. — Der eine Blinde glaubte natürlich, der andere reiche
ihm immer eine leere Tasse hin und geriet in nicht geringen Zorn.
Von Worten kam es zu Schlägen, und beide bläuten sich nach
Noten durch, wie sie sich eben treffen konnten.
Unser Reisigsammler trug eine lange Stange bei sich, an die er
seinen Korb zu hängen pflegte. Er machte also ein Geräusch damit,
ähnlich wie es die Tragstangen an der Sänfte eines Mandarins machen.
Er selbst aber suchte die Stimme des Mandarins und seine Tonart
nachzuahmen und rief dann: „Was treibt ihr beiden da; wie, vor
eurem Landesvater bewahrt ihr so wenig Anstand?" — Die beiden
Blinden glaubten natürlich nicht anders, als es zöge der Mandarin
seines Weges daher, und waren in heilloser Angst. Der verlarvte
Mandarin fuhr fort: „Was seid ihr für schlechte Leute, euch in
meiner Gegenwart zu schlagen; schade nur, daß ich meine Büttel
nicht mitgenommen, sonst sollte es euch schlecht gehen. Doch muß
ich euch wenigstens einen kleinen Denkzettel mitgeben für später.
Du knie dich hin: kudung kudung, kala kala, regneten dann die
Schläge auf des einen Blinden Rücken. Als der genug hatte, mußte
der andere niederknieen, und er bekam es ebenso. Zouba!= „Auf-
gebrochen!" rief dann der Mandarin und machte ein Geräusch, als ob
er weiter zöge, und es herrschte wieder Ruhe über allen Wipfeln.
„Was waren das doch für Schläge?" hub A zu B an, „ich
hatte das Gefühl, als ob sie mit einer Tragstange gegeben wür-
den." — „Auch mir kam es so vor", erwiderte B. — „Das war
doch eine eigentümliche Geschichte. Aber wir wollen uns später
besser aufführen und gute Freunde bleiben." — „Ja, das wollen
wir." — Ob sie's geblieben sind, weiß ich nicht. —
<<y*ri
— 100 —
Die Stiefmutter in China.
oti nian, uoti tsin nian: „Meine Mutter, meine liebste
utter!* Wer ist es denn, der so ruft und winselt, hun-
dertmal in einer Stunde? Ein alter Granbart, dem der
®i&'i£w\S Tod an der Kehle sitzt und der jetzt in seiner Sot die
Mutter zur Hülfe ruft, die schon seit einem halben Jahrhundert
gestorben ist.
Und so machen es alle Chinesen. Die Mutter vergessen sie
nie; die Liebe zu ihr ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.
Das ist wohl ein Grund mit, daß die Muttergottes unseren chinesi-
schen Christen besonders sympathisch ist, und daß sie diesselbe so
gern anrufen, besonders in Leiden und Krankheiten.
Aber setzen wir vor das Kosewort nian ein hau oder ein uen
— dann wird aus der Mutter eine Karikatur „mit rotgelben Haaren
und rabenschwarzem Gesicht, die von Jugend auf niemals Gutes im
Sinne gehabt hat* — das Porträt einer Stiefmutter nach Ansicht
der Chinesen« Hou heißt nämlich „nach* und uen „später*, bedeutet
also eine Mutter, die nach der eigentlichen kommt, und deshalb
nur eine stellvertretende ist.
„Der Reiche kauft keinen alten Maulesel, ein Mann von
Charakter nimmt keine zweite Frau.* So sagt ein chinesisches
Sprichwort, und damit ist den Stiefmüttern von vornherein kein
guten Zeugnis ausgestellt. Lieber soll der Witwer seine Kinder bei
Verwandten unterbringen oder sie auf den Bettel schicken, als ihnen
eine zweite Mutter verschaffen, die kein Herz für sie hat. Ster-
bende Frauen lassen sich denn nicht selten von ihren Männern
das Versprechen geben, nie mehr zu heiraten. Die Frau ihrerseits
gelobt dem Manne nach dem Tode im Schattenreiche ihm ein
„guter Teufel* (kui) sein zu wollen, wie sie bei Lebzeiten seine
getreue Hälfte (böl) war. Doch wird es mit solchen Versprechen
selten ernst genommen, und eines guten Tages müssen die Sander der
neuen Mutter ihren Kout'ou machen, d. h. ihre Verehrung bezeu-
gen. Manche wollen sich nur ungern dazu verstehen und suchen
lieber die Fremde auf, um sich auf eigene Faust durchzuschlagen.
In der chinesischen Literatur ist das Bild der Stiefmutter nicht
minder abschreckend gezeichnet. Schon ganz im Anfange der Ge-
schichte des Landes begegnet uns eine solche, die zweite Mutter
des berühmten Kaisers Schuin, welcher in seiner Jugend unsäglich
viel von ihr zu erdulden hatte, da sein Vater vollständig unter
ihrem Einflüsse stand.
— 101 —
Einen seiner Schüler hat Konfuzius, der chinesische Religions-
stifter Konfutse, in den klassischen Büchern verewigt und ihn als
Beispiel kindlicher Frömmigkeit hingestellt : „Welch ein guter Sohn
war doch der Mintsetjen! Die ganze Welt ist begeistert in seinem
Lobe." Und wodurch hatte sich der Schüler des „heiligen Mannes"
dieses Lob verdient? Durch die Liebe und Hochachtung, die er
seiner bösen Stiefmutter gegenüber bewahrte. Der Vater des Min
war ein Beamter im Reiche. Als er schon ziemlich bei Jahren
war, starb seine Frau, die ihm diesen Sohn geschenkt hatte. Als
auch die zweite Frau Mutter dreier Söhne geworden, kamen für
den guten Min schwere Zeiten. In Nahrung und Kleidung wurde
er zurückgesetzt, aber kein Wort der Klage kam über seine Lippen.
Nur einem Zufalle konnte er es verdanken, daß der Vater erst nach
langer Zeit von der ungerechten Behandlung erfuhr, die ihm zu
Teil wurde. Eines Tages nämlich, da er den Wagen führen mußte
und eben ein scharfer Nordwind bließ, zitterte Min am ganzen
Leibe, und doch schien seine Kleidung mit Baumwolle gut ausge-
füttert zu sein. Das Zittern mißfiel dem Vater, da der kleine
Bruder nebenan, obschon er viel dünner gekleidet war, sich tapfer
hielt. Zornig versetzte er dem Min einen Hieb mit der Peitsche.
Doch was kam da zum Vorschein? Der Hieb hatte eine Nat
getrennt und aus derselben quoll Schilfrohrwatte, die nicht mehr
wärmt als trockene Blätter. Unwillig wollte jetzt der Vater die
böse Stiefmutter fortschicken ; aber Min bat für sie, indem er sprach :
„Geht die Mutter, dann müssen drei Kinder Kälte ertragen; bleibt
sie aber, höchstens nur eines. u
Als später die Stiefmutter dieses hörte, wurde sie gerührt,
und von da an behandelte sie den Min noch besser, als ihre eigenen
Kinder. Beim Essen bekam er zuerst seinen Teil in einer Schüssel,
die größer war als die Schüsseln der anderen Kinder. Als später
die Stiefmutter starb, wurde Min derart von Schmerz ergriffen, daß
er lange Zeit nichts essen konnte. Sobald er seine Schüssel sah,
brach er in Tränen aus, und es blieb kein Mittel übrig, als di
Schüssel in Scherben zu schlagen. Daher rührt denn auch die chi-
nesische Sitte, beim Begräbnisse der Eltern einige Schüsseln zu
zerbrechen; es soll das ein Ausdruck des Schmerzes und der
kindlichen Liebe sein.
Ist es wahr, daß sich die Anschauung eines Volkes in seinen
Sprüchwörtern besonders kundgibt, dann kommt die chinesische Stief-
mutter schlecht weg. Mehr als ein halbes Dutzend laufen über sie
um, aber kein einziges ist mir bekannt, daß auch nur etwas Löbliches
— 102 —
Von ihr zu berichten wußte. Zum Tröste unserer Stiefmütter daheim
einige Beispiele:
„Die Zunge der Stiefmutter ist wie Skorpionenstachel giftig
und spitz. Eine Stiefmutter, die gar Opium raucht, gilt als doppelt
giftig."
„Zu den selbstgeborenen Kindern schlägt das Herz warm im
Busen; zu den angenommenen ist es kalt wie Eisen."
„Wenn die Stiefmutter Kinder schlägt, tut sie es im Geheimen
und mit voller Hand. Die eigene Mutter schlägt, daß es knallt,
aber es tut den Kindern nicht weh."
„Stiefmütter sind äußerlich glatt und geschmeidig, als seien sie
aus einem Ölkessel gezogen, im Inneren aber haben sie es stecken."
„Die Eifersucht einer Stiefmutter steigt bis in die äußersten
Baumzweige empor" (d. h. dringt in alle Ecken).
Einem bissigen, jungen Mädchen macht man das Kompliment :
„Geh' doch und werde Stiefmutter, Zeug hast du genug dazu."
Im sechsten Monate, wenn die Sonne plötzlich hinter einer
Gewitterwolke hervorbricht, sagt man, daß sie steche. Noch schärfer
soll der Stiefmutter Pinger stechen, wenn sie zornentbrannt damit
auf die Tochter zeigt. Dieses „Fingerstechen" ist eine eigentüm-
liche Weibergebärde in China und ist sehr verhaßt. Es geschieht
mit dem Zeigefinger der rechten Hand und hat Ähnlichkeit mit dem
Hacken kämpfender Hähne.
Bekanntlich gehen die verheirateten Mädchen zu Neujahr die
Mutter besuchen. Auch die Stiefmutter muß die Tochter erster Ehe
um diese Zeit mit offnen Armen empfangen, sonst käme sie sofort
in den Verdacht der Härte. Spöttisch sagt darüber der Leumund :
„Seht doch, wie Mutter und Tochter ein Herz und eine Seele sind. "
Eine Schneewittchen-Geschichte kennen die chinesischen Kinder
nicht, aber dafür gibt es Theaterstücke, worin die Stiefmutter als
wahrer Kinderschrecken ihre Rolle spielt. Hou nian ta he tse : Eine
Stiefmutter schlägt die Kinder, ist der Titel eines Stückes. Die
Hou-nian ist eine leidenschaftliche Kartenspielerin. Da sie schließ-
lich nichts mehr einzusetzen hat, müssen die Kinder, ein Knabe
und ein Mädchen, in einem fort spinnen. Die dabei verdienten
Sapeken verspielt die Mutter immer wieder von neuem. Die Kinder
bekommen wenig zu essen, dürfen kaum mehr schlafen, werden
reichlich mit Prügeln gequält und schließlich derart zur Verzweif-
lung gebracht, daß sie sich selber das Leben nehmen wollen. Ein
höheres Wesen aber behütet sie davor, und damit endet denn auch
die leidensvolle Geschichte. Ahnliche Stücke gibt es im ganzen
- 103 —
Reiche, in denen die eine Hou-nian gerade so verkehrt ist wie
die andere.
„Wer möchte da noch in China Stiefmutter werden ? u höre
ich die freundliche Leserin fragen. Gibt es denn gar keine Aus-
nahmen ?
Zum Stiefmutterwerden hat selbstverständlich auch das Chine-
senmädchen wenig Lust; aber was will so ein armes Ding machen,
da die Eltern das Verloben für sie besorgen? Für diese aber sind
Geld und Ansehen die Hauptpunkte, welche beim Heiraten den
Ausschlag geben. Gezwungen, Witwerverbindungen einzugehen,
suchen nicht wenige der Unglücklichen im Brunnen oder im Opium
ihre letzte. Rettung. Andere aber wollen gereizt nun auch ihrem
Namen Ehre machen und spielen sich als recht schlimme Stief-
mutter auf. Für manche sonst gutgeartete Frau aber wird das Los
unerträglich, vor allem dann, wenn sie selbst keine Söhne bekommt,
aus der ersten Ehe jedoch solche vorhanden sind. Wenn dann ihre
Stütze, der Mann, stirbt, wird sie von den Stiefsöhnen selten be-
achtet, meistens aber verachtet. Hat sie eigene Söhne, dann freilich
ist ihr Schicksal gesichert; stirbt der Mann, gelten diese als die
eigentlichen Erben.
Und schließlich Ausnahmen, gute, pflichtge treue Stiefmütter
gibt es auch, aber wohl kaum mehr, als um die Regel zu bekräf-
tigen. Erst kürzlich wurde mir von einem Winkeladvokaten erzählt,
den man ins Mandarinat überliefert hatte. Als der Mandarin ihn
der Schuld überführt hatte und dann bestrafen wollte, erschien die
Stiefmutter, an ihrer Hand den eigenen Sprossen. „Hier, großer
Herr*, spricht sie, „diesen bestrafe, denn er ist mein leiblich Ge-
borener. Jener da ist mein Stiefsohn. Bitte, verschone ihn, denn
Stiefsöhne habe ich nur einen, eigene Söhne aber zwei."
Die Witwe und ihre Ehrung.
der immer in China längere Zeit herumgereist ist, hat oft
jfijK genug Gelegenheit in Städten, Dörfern oder gar auf dem
J2& freien Felde eine Ehrenpforte zu passieren, die sich quer
^3 über den Weg spannt. Zu wessen Ehre sie erichtet
wurde, verrät die Inschrift. In harten Stein ist der Name gemeißelt
und eine kurze Lebensgeschichte, sowie die hervorragendsten Tugen-
den, die der so Geehrte zeitlebens geübt hat : Enthaltsamkeit aber
— 104 —
und kindliche Pietät (f$ und 5J£) = Tsie und Hiau, waren die Kar-
dinaltugenden, die von ihm in besonders hohen Maße geübt wor-
den sind. Doch nehmen wir den Namen genauer in Augenschein,
so sehen wir, daß der Gefeierte kein Mann, sondern eine Frau war ;
eine Witwe nämlich, die ihren Mann früh verloren hat. Aus Liebe
zu den Schwiegereltern hat sie dann auf eine zweite Ehe verzichtet.
Sie hat diesen als gute Tochter gedient und in Pietät, (^ Hiau)
und in vollständiger Enthaltsamkeit (fJJ Tsie) gelebt. In Erwartung
des „klaren Glückes", verachtete sie das „rote 1 )". Darum hat der
Mandarin den „Spiegel" ihrer Tugend zum „Himmelssohne" gesandt,
der in seiner rechten Würdigung aus seiner eigenen Tasche die
Auslagen bestritt, um der tugendhaften Witwe eine Ehrenpforte zu
errichten, damit „sie nachkommenden Geschlechtern als Vorbild
diene und der Glanz ihrer Tugend niemals erbleiche".
Es ist begreiflich, daß solch eine Lobeshymne viel Verführeri-
sches an sich trägt, und das erst recht, wenn die junge Witwe von
einer zweiten Ehe doch nicht viel Gutes zu erhoffen hat. Ist sie
bei den Schwiegereltern gut aufgehoben, so verlebt sie dort ihre
Witwenschaft; sind die eigenen Eltern aber begütert, so bleibt sie
oft bei diesen. Hilfsbedürftige Witwen zu unterstützen gilt als ein
besonders gutes Werk, und es gibt Gesellschaften, die es sich zur
Aufgabe gemacht haben, armen Witwen beizustehen. Einige von
ihnen verfügen über ansehnliche Mittel und zahlen allmonatlich eine
bestimmte Summe an jene, deren Sorge sie übernommen haben.
Andere bestehen aus einer Gilde von reichen Kaufleuterf u. s. w.,
die „Gutes tun wollen" (tf tH hing-schan). Bittet eine mittellose
Witwe um Unterstützung, damit sie ungefährdet ihre Tugend üben
und frei von allen Nachstellungen sein kann, so wird ihr Name mit
dem anderer Bewerberinnen auf ein Papier geschrieben, das dann
vor der Stadtgottheit (J$ 3E tsch'öng-wang) verbrannt wird. Hierauf
muß das Loos entscheiden, wen der Gott zur Annahme des guten
Werkes auserlesen hat. An dem Hause solcher Witwen wird ein
Schild angebracht, das ihnen Schutz und Sicherheit gewähren soll.
Eine Ehe zu Stande bringen gilt in China als ein verdienst-
liches Werk. Wer aber einer Witwe behülflich sein wollte „einige
Schritte weiterzugehen" (§1 tüf 5£$t^ : „eine neue Schwelle zu über-
schreiten" Jfi H jg FJ GB Ausdrücke für die zweite Heirat) der
müßte sich darauf gefaßt machen, daß es ihm beim Richter in der
*) Die Chinesen kennen zwei Glücksarten &JM und f(f f8 : Hung-fu und
TJing-fu t rotes Glück und klares GlQck. Ersteres bezieht sich auf das Ehelebon letz-
teres wird nach dem Tode jenen zu Teil, die gut gelebt und als „heilig" gestorben sind.
— 105
Unterwelt nicht gnädig gehen wird. Er kann sich der Strafe nur
dadurch entziehen, daß der Ehekontrakt mitten auf dem Felde oder
an einem abgelegenen Orte aufgesetzt wird, und daß er den Pinsel,
womit er denselben geschrieben hat, über den Kopf weit weg nach
hinten wirft. So kommt es auch, daß Witwen im allgemeinen als
wetterwendisch angesehen werden und leicht geneigt sind, ihren Ent-
schluß zu ändern. Niemand aber kann sie zu einer zweiten Ehe
zwingen, weder die eigenen Eltern noch die Schwiegereltern. Manche
zieht sich noch im letzten
Augenblicke zurück, wenn
schon Alles fertig gespro-
chen ist und der Brautwa-
gen eben vor der Tür steht.
Gelingt es aber, sie auf den
Wagen zu „schwindeln ",
das heißt : ihr die Zukunft
rosig genug auszumalen,
daß sie sich selbst bequemt,
den Wagen zu besteigen,
so gibt es kein Besinnen
mehr und keine Umkehr.
Wer sich aber erkühnen
wollte eine Witwe mit Ge-
walt auf den Wagen zu
bringen, dürfte vom Man-
darine um einen Kopf kür-
zer gemacht werden.
Denn vor dem Manda-
rine haben die Witwen a
priori das Recht auf ihrer
Seite, und man vermeidet
es daher ängstlich mit
ihnen Händel anzufangen :
3^Ä^c(Bl^ A „Witwen sind größer als Doktoren" sagt ein Sprich-
wort. Doktoren aber sind schon gar gefürchtete Leute, mit denen
Niemand einen Prozeß anfangen mag.
Die sonst üblichen Hochzeitsfeierlichkeiten fallen bei Heiraten
von Witwen meistens aus. Auch wird in der Regel zum Abholen
keine Sänfte gebraucht, sondern nur ein Wagen. Meistens trifft es
sich so, daß das Witwentum auf beiden Seiten ist. Bringt die Frau
aber Kinder aus der ersten Ehe in die neue, so müssen diese fortan
Ehrenbogen bei Tsimo.
— 106 -
den Namen des Stiefvaters führen. Bleiben die Kinder im Hause
der Großeltern oder werden sie sonstwo untergebracht, so behalten
sie den Namen ihres eigentlichen Vaters. Damit ist das Verhältnis
zur Mutter freilich so gut wie aufgehoben. Selbst bei ihrem Tode
haben solche Kinder keine Verpflichtung, Trauerkleider anzulegen
oder eine Träne zu weinen.
Wetterwendisch sind Witwen bisweilen auch dann noch, wenn
das Lob ihrer Tugend bereits in den Stein gegraben und der Ehren-
bogen errichtet werden soll. Nicht sehr weit von meinem Wohnsitz
befinden sich zwei unvollendete Ehrenpforten; die eine ist bis zur
Hälfte gediehen, während von der zweiten die Steine noch lose am
Boden umherliegen. Jedesmal hatte der Mandarin bereits den kai-
serlichen Erlaß zur Errichtung des Portals eingeholt und das zur
Deckung der Kosten mitgeschickte Silber war verausgabt. Doch
die Gefeierte verzichtete in letzter Stunde auf den Glanz der Tugend
und zog eine neue Ehe dem Ehrenpavillon vor. Das eine Mal
verschwand die Witwe mit einem Steinmetz, der an dem Monumente
gearbeitet hatte; er hatte sich dabei ein gutes Sümmchen auf die
Seite gebracht, denn er war Unternehmer und Bauführer. Somit
kam die kaiserliche Spende der Witwe doch zu Gute, wenn auch
auf anderem Wege und in verkehrtem Sinne. Das andere Mal nahm
ein Angestellter im Mandarinate mit der ehrsamen Witwe reisaus.
Wie bereits bemerkt wurde, muß zur Errichtung eines Wit-
wenbogens zuerst die Genehmigung des Kaisers eintreffen. Diese
wird gewöhnlich auf die Spitze des Monumentes in den Stein gemeißelt:
„Auf kaiserlichen Befehl" (fg §• Scheng-dsche) „durch kaiserliches
Diplom u (jgfc ts'uh), „Bekanntmachung durch öffentlichen Denkstein u
(SU Tsiri), sind die gewöhnlichen Ausdrücke dafür. Ist der Weg
von Peking bis zur Heimat der Witwe weit, so bleibt nicht selten
von dem kaiserlichen Silber manches hängen, so daß das Portal nur
bescheidene Dimensionen annehmen kann, falls die Witwe nicht
selbst zu den Baukosten beisteuern kann oder will. Zuweilen soll
die Witwe sich sogar mit der Errichtung einer einfachen Steinplatte
begnügen müssen.
Am Tage wo der Ehrenbogen seiner Vollendung entgegengeht,
wird eine große Feierlichkeit veranstaltet. Die Mandarine, Gelehrten
und Vornehmen des ganzen Distriktes, sowie die Verwandten, erwei-
sen alle dem Denkmal ihre Ehrerbietung, indem sie sich davor auf
den Boden niederwerfen. Weilt die Gefeierte noch unter den
Lebenden, so erscheint sie im Festagsschmucke und macht auch
selbst vor dem Bogen Kou-t'ou.
— 107 —
Kunst und Poesie tun ihr Bestes, eine solche Ehrenpforte
berühmt zu machen. Freilich braucht der Baumeister zuvor keine
Entwürfe auszuarbeiten, sie sind alle nach demselben Muster gebaut.
Ist Geld genug vorhanden und scheut mau keine Kosten, so erweitern
sich die Dimensionen, auch wird kostbareres Material verwendet und
die Austattung ist eine vornehmere. Figuren von Löwen und
manchmal auch von Menschen sind zu beiden Seiten der Zugänge
auf Steinsockel gestellt und beleben das Ganze. Ahnlich den Pforten
zu Amtsgebäuden besteht jedes Monument aus drei Durchgängen,
von denen der mittlere das Hauptor vorstellen soll. Die Anlage
hat Ähnlichkeit mit den Triumphbogen der Römer, nur daß die
Chinesen statt des Bogens mächtige Monoliten gebrauchen, die den
Eingang überdecken. Gewiß fällt so ein Bau quer über den Weg
gestellt besser in die Augen, als wenn er abseits aufgerichtet wäre.
Dieser Gedanke wird auch der Hauptgrund gewesen sein, die Por-
talform für diese Denkmäler zu wählen. Nicht selten aber hat im
Laufe der Zeit ein Weg seine Richtung verändert und statt durch
die Pforte zu führen, geht er nun an ihr vorbei.
Wie der Baumeister nur schablonenmäßige Muster kennt,
gebraucht auch der Poet fast immer die nämlichen Bilder zur Ver-
herrlichung der Witwentugend: „Die treue Zypresse oder Fichte,
die auch im Winter ihr grünes Kleid behält*; „der klare Kristall
den kein Makel verunstalten kann", „der Trauer säuselnde Bambus"
das sind so ziemlich die einzigen Motive, die die chinesische Phantasie
bewegen. Da der Stein nicht Raum genug bietet, all die Tugenden
einer Witwe zu verewigen, so wird nicht selten noch ein eigenes
Buch hergestellt, worin der Lebenslauf der Verstorbenen und die
Art ihres Todes beschrieben ist. Am Ehrenvollsten ist es natürlich,
wenn sie sich aus Schmerz über den Verlust ihres Gatten selbst
den Tod gegeben hat. Aber für solche Heldentaten fehlt es heut-
zutage den meisten an Mut und Gefallen. Verweigert die junge
Witwe die Aufnahme von Speisen, so helfen gute Worte und Hunger
allmählich, den Gattenschmerz zu lösen. Nimmt sie aber Opium
ein, so ist sie meistens auch nicht abgeneigt, auch ein Gegengift
zu verschlucken. Sich mit Feierlichkeiten in den Tod begeben und
sich selber eine rote „Leidensschnur 4 * um den Hals legen, nachdem
man öffentlich von der Welt Abschied genommen hat, dürfte heut-
zutage wohl mehr selten vorkommen.
Trotz seiner Ehrung ist der Witwenstand nicht immer zu
allerbest beleumundet: Vor der Witwentür gibt's viel Zank und
Hader", sagt ein chines. Sprichwort. Unverheiratet ist sie vielerlei
— lOft _
Verdächtigungen ausgesetzt : heiratet *i«» aber, gilt sie von vornherein
als feiles Objekt, lud ehen dieser l' instand giht für den Mann viel-
fach den Ausschlag, dal» er zur Witwe greift: sie ist billiger im
Preis«» und das Heiraten kostet weniger tield.
Ein chinesischer Pantoffelheld.
Int Frauchen, eine lütte, die darfst du mir nicht abschlagen."
v „Kleiner Hui» was fehlt dir wieder: juckt dir der Rücken?
Si ^ffiial -Nächster Tag«» kommt ein Freund zum Besuche; ich
iWlM£$ bitte dich nun recht herzlich, überlasse an diesem Tage
mir das Regiment. Sonst will ich ja gerne das ganze Jahr dir zu
Diensten stehen; aber schon schilt mich Jedermann als ,Frauen-
fürchter (P'a-p'uo tse-ti), da mrichte ich meinem Freunde doch ieigen,
dal) ich Herr im Haus«» bin."
Die gestreng«» Hälft«» gab emilich den Bitten des „kleinen
Buben* nach, und am bestimmt« 1 !! Tag«» erschien der Besuch.
r Alte Hälft«», schnell T«»e gemacht", kommandierte der Mann.
Ohne Widerred«» zündete di«» Frau das Feuer an, bereitete
den Tee und trug ihn auf. Dann wurde ihr weiter befohlen das
Kssen herzurichten, und als das geschehen war, mußte sie gleich
«»hier Magd nebenan stehen und bedienen. Verwundert beobachtete
der Freund das Walten der viel verschrieenen Frau und dachte
bei sieh selber, die ist noch williger als die meine. Als sie aber
in der Küche hantierte, drückt«» er seine Verwunderung dem Mann
gegenüber aus und wie doch nichts von alledem wahr sei, was man
sich von ihm und seiner Frau erzähl« 4 . «Jetzt siehst du es selbst",
antwortete jener; «früher als ich das Gegenteil behauptete, hast
du mir es nicht geglaubt."
Befriedigt schied dann der Besucher; absichtlich aber ließ er
seine Pfeife in einer Ecke liegen, er wollte nochmals unverhofft auf
der Bildfläche erscheinen, um zu sehen, ob der Schein auch der
Wahrheit entspreche.
Kaum waren Mann und Frau wieder allein zusammen, so wur-
den sogleich die Rollen gewechselt. «Zieh mir die Schuhe aus",
zeterte sie den «kleinen Buben u an, was dieser dann sofort ohne
Widerrede besorgte. «Mausere mir die Hacken, die mir von all
dem Laufen entsetzlich jucken. u Auch dazu war unser Held bereit.
Eben war er damit beschäftigt, da öffnete sich die Türe und der
— 109 —
Freund trat in die Stube. „Ich habe meine Pfeife vergessen", ent-
schuldigte er sich — „Aber mein Lieber, was machst du denn da?"
„Tsch'ui tj'i le tsä ta" keuchte jener erregt. „Erst will ich sie auf-
blasen und dann durchprügeln."
Anmerkung: Bekanntlich blasen die Chinesen den eben
geschlachteten Schweinen durch einen Einschnitt in der Ferse Luft
unter die Haut, wodurch das Schwein kugelrund wird und das
Borstenabkratzen viel leichter von statten geht.
Brunnen in China,
l^l^^Jinen Brunnen machen bedeutet in China fast ebensoviel,
^InS w,e e * n neues Kathaus bauen. Allerdings gebraucht der
t \M.SffiWl < iiincse keine Rathäuser; er hält seine Beratungen unter
^ßSStUSa ^ reiem Himmel oder im Schuppen des Dorfschulzen, falls
dieser einen hat. Aber man kann ruhig behaupten, daß das Brunnen-
machen als ein Ereignis ersten Ranges gilt, an dem das ganze
Dorf reges Interesse nimmt, da es Gemeindesache ist, während das
Hausbauen nur den Einzelnen angeht. Hat der Gemeinderat be-
schlossen, einen neuen Brunnen zu graben, entweder weil der alte
wasserarm geworden ist oder für den Bedarf nicht mehr ausreicht,
so muß vor allem der richtige Platz ausfindig gemacht werden. Den
findet nur der Geomand, und man lädt einen solchen dann unter
vielem Ceremoniell ein, füttert ihn gehörig satt, und nachdem er
auch sattsam getrunken hat, geht er mit den Dorfältesten die Gegend
in Augenschein zu nehmen. Er läßt sich einige Stellen anweisen,
wo der Brunnen wohl am passendsten gelegen wäre und dem-
entsprechend trifft er seine Wahl. Den rechten Platz zu finden, ist
kein Leichtes. Das Wasser muß süß sein, der Erddrache darf in
seiner Ruhe nicht gestört werden, auch dürfen die Quellen nicht
allzu tief liegen, weil sich sonst die Auslagen für das Brunnenmachen
zu hoch belaufen würden.
Endlich ist der rechte Fleck gefunden. Er liegt auch zum
Glück ganz in der Nähe einer von dem Dorfältesten bezeichneten
Stelle. Sollte sich später herausstellen, daß der Brunnen nicht allen
Anforderungen entspricht, so hätte der Geomant wohl einen besseren
Platz dafür gewußt, aber der wäre dem Dorfe eben zu ungelegen
gewesen. Jetzt heißt es, ans Werk gehen. Doch muß man sicli
erst für eine so wichtige Arbeit gründlich stärken. Es wird eine
— 110 —
allgemeine Fre-^erei veranstaltet, wozu die \olIe Gemeinschaft boitra-
gen nuili: »Hr. die mitarbeiten, dürfen auch mite^en. und zwar iiit
man -ich recht satt, weil iii.ni nicht alle Tagt? dazu Gelegenheit
hat. Nach guter Beköstigung kann ilaun d.i> Werk beginnen.
Zunächst wird «mih* Stange aufgerichtet, an der ein rotes Fähn-
chen flattert und ''in Maulkorb hängt, den für gewöhnlich Ochsen
und K-fl tragen, dainir sie während dei Arbeit im Felde ihre
(redanken nicht auf das Freien richten. Das rote Fähnchen soll
di<* Teufel in der Luft ferne halten, der Maulkorb aber soll die
Arbeiter daran erinnern, dal* -ie jetzt keine miil)igen Reden führen
dürfen. Eine inüliige Rede wäre es z. IS., wenn jemand sagen
wollte: .An diesem Platze scheint keine gute (Quelle zu sein,
oder: Da- Wa^er ist noch ziemlich tief.- Derartige Heden könnten
überhaupt das (relingen des Brunnen«, in Frage stellen. Man hat
während der Arbeit zu schweigen oder *ich doch nur immer in
lobenden Ausdrücken über den Brunnen zu äuliern: dann wird er
auch zur allgemeinen Zufriedenheit ausfallen.
Das Graben de- Brunnen- ge>chieht verschieden, je nach den
< regenden, wo er gemacht wird und nach der Beschaffenheit des
Bodens. Bei uns hier in I'uoly stölit man in einer Tiefe von
wenigen Fuli auf Flugsand, l'm d;i- Kindringen desselben möglichst
abzuhalten, werden auf einem hölzernen Kahmen mehrere Schichten
Mauerwerk aufgeführt. Nachdem dasselbe mit Stricke;i und Leisten
möglichst fest zusammengeknebelt Ut, wird von innen heraus Erde
gehoben. Das Mauerwerk sinkt durch «las eigene Gewicht immer
tiefer in den Boden; ist man aher einige Fuß in den Flußsand
vorgedrungen, quillt der Sand von unten herauf und alle Arbeit ist
umsonst: da« Brunnengemäuer sinkt nicht mehr tiefer. Wird aber
dennoch Sand und Wasser weiter herausge^chöpft. dann fällt allmählich
der Brunnenrand zusammen, weil sich dort im Boden Höhlungen
gebildet haben. Bei derartiger Bodengestaltung ist das Brunnen-
machen in China allerdings keine leichte Arbeit, davon können wir
hier in Puolv auch unser Lied singen. Im Verlaufe von fünf Jahren
>ind bereits sieben Brunnen gegraben aber auch beim siebenten
^ind wir nicht tiefer gedrungen al> ehedem. Unser Puoly hat eben
das Geschick, entweder von Wasser überfüllt zu sein, so daß man
nur mit einem Schiffe mehr Einlaß finden kann oder aber in Trocken-
heit zu schmachten, dal) die (rärten ausdörren und kaum das notige
Element zu haben ist für Menschen und Vieh.
Für die Anfertigung von Gartenbrunnen und sedchen, die zur
Bewässerung von Feldern dienen, wie sie in einigen Gegenden
— 111 —
gebräuchlich sind, bestehen eigene Brunnenmachergilden. Der Alt-
meister (Laopa) untersucht zuvor den Boden und prüft ihn auf
seinen Wassergehalt, sowie die Eigenschaften des Wassers. Er bedient
sich dazu einer langen „ Nadel u (eiserne Stange), welche ruckweise
in den Bodea gestoßen wird. Je nachdem die Nadel „glatt oder
holperig" heruntergeht, fühlt man heraus, wie die verschiedenen
Erdschichten beschaffen sind. Stößt man auf Wasser, so wird im
Nadelöhr ein Bindfaden befestigt und die Stange wird von neuem
heruntergelassen. Nachdem sich der Faden voll Wasser gesogen,
wird die Nadel wieder herausgezogen und man kann die neue Quelle
auf ihre Güte prüfen. Allerdings handelt es sich nur um einige
Tropfen Wasser, die man aus dem Faden preßt; aber unser Brunnen-
macher ist eben ein Feinschmecker und versteht sein Geschäft. Für
den Fall aber, daß der Brunnen später nur salziges oder bitteres
Wasser spendet, hat eine „verkehrte Quelle u ihren Weg in denselben
genommen und das konnte natürlich der Laopa nicht voraussehen.
Besagte Altmeister verstehen es nicht nur, neue Brunnen zu graben,
sondern sie können auch alte wieder „aufimpfen", indem sie darin
neue Quellen aufsuchen. Auch hierzu bedienen sie sich ihrer Nadel,
welche auf dem Boden der ausrangierten Cisterne in die Tiefe
gestoßen wird. Solcherweise bohrt man mehrere Löcher hinein und
in diese Löcher werden Bambusrohren getrieben. Durch dieselben
sollen sich dann die neuen Quellen ergießen, und der neu aufge-
besserte Brunnen kann wieder dem Gebrauche übergeben werden.
In chinesischen Büchern (K'anghitsetien) ist zu lesen, das man
zur Zeit des Kaisers Huangti (3000 v. Chr.) schon Brunnen kannte.
Ferner erzählt man von einem Bauern, der unter der Regierung
des Kaisers Yao (2357 v. Chr.) lebte, daß er im Schatten eines
Baumes am Brunnen sitzend gesungen habe : „Ich bebaue meinen
Acker und habe zu essen, ich grabe mir einen Brunnen und habe
zu trinken; wozu gebrauche ich noch des Kaisers Hülfe? (Köng
tien öl sehe; tso zing öl jin: Ti li ho ju jü no tse?)" Dabei habe
er vergnügt auf den Boden geklopft und in den Brunnen geschaut;
wie es scheint, befaßte sich der Alte schon damals mit revolutio-
nären Gedanken.
Man kennt im allgemeinen nur Gemeindebrunnen ; sich einen
Privatbrunnen graben, ist dem gewöhnlichen Sterblichen nicht erlaubt,
es sei denn, er benutze ihn nur zur Bewässerung seines Gartens.
Diese Gemeindebrunnen liegen vielfach außerhalb des Dorfes, was
für den zeitreichen und wassergenügsamen Chinesen wenig Bedeu-
tung hat. In der Frühe holt er einen Krug voll Wasser und der
— 112 —
genügt uiiter gewöhnlichen Umständen für den ganzen Tag. Er
gebraucht ja nur Wasser zum Essenmachen und Teekochen. Das
Gesicht wäscht man sich nur gelegentlich und ausnahmsweise ;
ebenso die Kleider, und wenn sie einmal gewaschen werden, geht
man damit zum Dorfteich oder wartet bis zur Regenzeit, wo es
Pfützen in Menge gibt. Desgleichen werden die Tiere an den
Dorfteich geführt oder zum Brunnen. Aus dem nämlichen Eimer,
mit dem man Wasser schöpft für die Küche, wird auch das liebe
Vieh getränkt, die Reste aber werden aus Sparsamkeitsrücksichten
wieder in den Brunnen hinabgeschüttet ; das ist ganz selbstverständ-
lich und niemand nimmt Anstoß daran. Gewöhnlich ist es Sache
des Hausvaters, in der Frühe für den Tagesbedarf das Wasser zu
holen; hat er aber erwachsene Söhne, dann müssen es diese tun;
bisweilen tut es auch die Frau, falls der Mann ein Opiumraucher
ist oder ein Faullenzer. Brunnenreden werden bei dieser Gelegen-
heit nicht gehalten ; die Frauen gehen schweigsam ihrer Wege ; alle
ihre Aufmerksamkeit haben sie darauf zu richten, daß sie beim
Fortwatscheln die Krüge nicht zerbrechen. Das Brunnenloch liegt
zur ebenen Erde und das Schöpfgefäß, einen Krug oder Eimer, läßt
man mittels eines Strickes hinunter. Jeder muß sich seinen Strick
mitnehmen, denn wollte man einen Gemeindestrick am Brunnen
liegen lassen, würde er balt verschwunden sein.
Die Brunnen in China bilden für manche lebensüberdrüssige
junge Frauen ihre letzte Zutluchtstätte, worin sie sich das Leben
nehmen. Ursache dazu ist in der Regel die „böse Schwiegermutter".
Sonst aber hört man nur äußerst selten, daß jemand in den Brunnen
gefallen, selbst nicht einmal ein Kind; fällt aber ausnahmsweise ein
Hund hinein oder eine Katze, so merkt man das bald am Wasser
und wem am meisten davor ekelt, muß den Kadaver herausfischen.
Der Chinese verzichtet gerne auf das Gemächliche eines Privat-
brunnens; die Dorfbrunnen bieten einen für ihn nicht zu unter-
schätzenden Vorteil. Da die ganze Einwohnerschaft aus einem
Brunnen schöpft, erneuert sich das Wasser alltäglich und ist deshalb
immer frisch. Auch sind die Dorfbrunnen weit von Kloacken und
Pfützen entfernt und die Wasserzufuhr ist deshalb auch immer
rein. Diese allgemeinen Brunnen mögen auch wohl das ihrige
dazu mit beitragen, daß die Epidemieen in China keinen so frucht-
baren Boden finden, als m;in bei der Unreinlichkeit der Chinesen
erwarten sollte.
Will man das Volk aufwiegeln, so braucht man nur von Brunnen-
vergiftung zu sprechen. Mit Vorliebe streuen christenfeindliche
— 113 —
Literaten zur Zeit voü Verfolgungen derartige Märchen unter das
Volk, wie es bei den letzten Boxerunruhen erst noch der Fall war.
In allen größeren Städten enthalten die Brunnen vielfach kein
trinkbares Wasser; dieses wird deshalb aus der nächsten Umgebung
geholt oder aus vorbeifließenden Kanälen oder Flüssen. Hundert-
tausende arme Chinesen verdienen da mit Wasserverkauf ihr tägliches
Brot. Meistens kostet ein Eimer voll ein Viertel Pfennig, bisweilen
auch einen Pfennig. In Europa würde man allerdings mit derartigem
Wasser kaum ein Tier zu tränken wagen; die Chinesen aber setzen
Alaun hinzu, worauf es sich bald klärt, und gekocht wird es vollends
unschädlich. Wasserleitungen im Sinne, wie sie schon die alten
Römer kannten, gibt es in China nicht. Höchstens könnte eine
Wasserleitung in Peking, wo das Wasser aus den einige Stunden
entfernt liegenden Bergen zu den kaiserlichen Sommergärten geführt
wird, eine Leitung größeren Stils genannt werden. Wohl hat der
Chinese mancherlei Kanäle gebaut, aber diese dienen in erster Linie
nur der Schiffahrt. Wo ihm solche gerade an der Nase vorbeilaufen,
gebraucht er allerdings auch mit Vorliebe das Wasser derselben.
Aber Kanäle bauen nur des guten Trinkwassers halber, verursachte
zu viele Kosten und brächte zu wenig Vorteil, da behilft man sich
lieber und trinkt schlechtes Wasser.
Das chinesische Zeichen für Brunnen wird durch zwei senk-
rechte und zwei wagerechte Striche hergestellt, die sich in der Mitte
gegenseitig schneidend, ein Viereck bilden und heißt tsing. (In
Westdeutschland heißt so stellenweise der Brunneneimer.) Die
Gelehrten erklären das Zeichen dahin, daß zur Zeit, als Kaiser
Yao die Länder verteilte, in der Mitte des bezeichneten Komplexes
ein Brunnen gegraben wurde, um den sich das Dorf dann ansiedelte.
Auf einem Denksteine, der zur Ehre einer ehrsamen Witwe,
die eine zweite Ehe verschmäht hatte, errichtet war, fand ich die
Worte eingemeißelt: Sin ju ku tsing: „Ihr Herz glich einem alten
Brunnen/ Wie das Alte in China besonders in Ehren gehalten
wird, so auch die alten Brunnen. Die Chinesen scheinen da ähnliche
Anschauungen zu haben, wie die Samariterin am Jakobsbrunnen,
die sich sicherlich nicht ohne Hochgefühl dem Heilande gegenüber
darauf berief, daß ihr Altvater Jakob aus dem Brunnen getrunken
habe. Man mute* dem Chinesen zu das Heim, wo er nur notdürftig
seinen Unterhalt findet, zu verlassen und er wird antworten :
Mein Ur-Urgroßvater so und so hat hier gelebt und aus diesem
Brunnen getrunken und ich sollte in die Ferne ziehen und fremdes
Brot essen und wildes Wasser trinken! Erst wenn ihn die Not
K. Pieper, „Neue Büudel u . 8
- 114 —
unerbittlich forttreibt, verläßt er die Scholle und die Gräber seiner
Ahnen, aber immer mit dem Vorsatze heimzukehren, wenn bessere
Zeiten für ihn hereingebrochen sind.
s oceocceoo
Mm
Ahnentempel und -Tafeln.
Sbe man in China Götzen kannte und verehrte und ihnen Tem-
JH pel baute, wurden schon die Vorfahren mit fast abgöttischen
Öwy Fähren umgeben, und es erhoben sich allmählich Pracht-
"i^Siiä*! hüllen, in denen man ihr Andenken feierte. In den kano-
nischen und klassischen Büchern ist von einem höchsten Wesen
Schan-ti kaum die Rede, der Ahnen aber wird an vielen Stellen
gedacht und ihr Kult scharf und eindringlich ans Herz gelegt 1 ).
Zwar besitzt nicht jedes Dorf einen Ahnentempel, in manchem
ist nicht einmal eine Ahnentafel zu finden. Vor allem sind es nur
die reichen Leute von Rang und Ansehen, welche eigene Ahnen-
pagoden erbauen lassen und dieselben mit den Bildern oder Namen
der Vorfahren ausstaffieren. Der gewöhnliche Bauer begnügt sich
damit, daß er einmal im Jahre seine Altvordern (zumal die Eltern
und Großeltern, wenn selbige gestorben sind) zu einer Visite ein-
ladet und sie dann wieder heimführt, wenn sie sich satt gegessen
und getrunken haben. Das Gefährte, dessen er sich zum Abholen
vom Grabe bedient, besteht aus einem Besen. Die „ Alten u werden
eingeladen sich darauf zu setzen, und der pietätvolle Sohn zieht
dann den Besen hinter sich her. Zu Hause angelangt, heißt man
die Gäste willkommen, gibt ihnen Kou-t'ou, ladet sie zu Tische
ein und nötigt mit vielen guten Worten, sich doch recht satt zu
essen und zu trinken und ja nur „zu tun wie daheim". Glaubt
man, daß die Mahlzeit beendet sei, werden die Schattengäste unter
den nämlichen Komplimenten und auf dem nämlichen Gefährt wieder
zu Grabe begleitet.
l ) Es ist recht bezeichnend, daß in den ^klassischen Büchern 44 (Sü-schu),
welche hauptsächlich die Lehre des Konfuzius und seiner Schüler zur Darstellung
bringen, auch nicht einmal der Ausdruck Schang-ti („ höchster Herrscher 44 ) anzu-
treffen ist. Wohl aber fand ich 22 Stellen darin, welche auf die Verehrung der
Ahnen und die ihnen zu bringenden Opfer Bezug haben. In den „kanonischen
Büchern 44 (U-tjing) hingegen, die inhaltlich viel älter sind (wenngleich sie auch
durch die Hand des Konfuzius gegangen, ehe sie ihre endgültige Fassung erhiel-
ten), findet sich in jedem Werke vorerwähnte Bezeichnung Schang-ti („höchster
Herr = Gott"). Nur die Tsch'uin-tsiu („Frühlings- und Herbatannalen 44 ) maohen
wieder eine Ausnahme, da sie deu alten Philosophen zum Verfasser haben.
— 115 -
Bei anderen Totenfesten läßt man es mit einem Besuche am
Grabe bewenden; es wird dort Papier verbrannt, ein wenig geweint
und hat man Anliegen, werden sie den Verstorbenen vorgetragen.
An manchen Grabhügeln ist ein „Eingang" gebaut, meistens eben groß
genug, daß eine Katze durchschlüpfen könnte. Das soll die Wohnung
der dort weilenden Seele sein; sie soll sich daselbst sonnen können und
etwas abspannen, falls es ihr im Innern des Grabes langweilig wird.
Das Gebäude, in dem die Vorfahren verehrt werden, wird
Hauspagode (Tja-miau) genannt oder Tsü-tang (Tempel der Vorfah-
ren), im Gegensatze zu den Götzentempel, die allgemein unter dem
Namen Miau (Pagode) bekannt sind. Die Bezeichnung Haustempel
rühr! daher, weil man diese Art Tempel in unmittelbarer Nähe der
Wohnungen aufbaut, oft in der nämlichen Umfriedigung, in welcher
die Wohnung liegt, während sich die Tempel der Götzen meistens
außerhalb der Dörfer befinden oder doch auf einem abgelegenen
Platze. Man traut den Götzen eben nicht und „hält sie sich vom
Leibe, u was Konfuzius wahre Weisheit nennt. Besonders ist der
Wohnplatz hinter einer Pagode äußerst ungünstig. Der Geist in der
Pagode, sagen die Chinesen, sieht wohl, was vor ihm ist, was aber
hinter seinem Rücken liegt, das liegt auch außerhalb seines Gesichts-
und Sorgenkreises. Die Ahnen denkt man sich noch mit zur Familie
gehörig, und deshalb will man die Totenwohnungen auch in der Nähe
haben. Das um so mehr, weil man ihnen des öfteren einen Besuch
abzustatten hat. Besagte Pamilienpagoden dienen ausschließlich zum
Kulte der Ahnen und sind deshalb für Fremde nicht zugänglich,
wogegen die Pagoden zur Verehrung der Götzen für jedermann offen
stehen. Reiche, die nicht Geld genug haben, um sich einen
Ahnentempel bauen zu lassen, begnügen sich mit Ahnentafeln, die
an einem besonderen Platze im Hause, meistens hinter einem
Vorhange aufgestellt werden.
Das Verhältnis der toten Hausgenossen zu den Lebenden ist
jedoch keineswegs ein intimes. Sobald jemand gestorben ist, fängt
man an ihn zu fürchten, selbst wenn es der eigene Vater war oder
die Mutter. Jedermann ist bestrebt, sich die Toten gewogen zu
machen, denn Lebende und Tote stehen nach chinesischer Anschau-
ungsweise in Wechselbeziehung zu einander. Die Schatten der
Dahingeschiedenen können das Los der Lebenden durch allerhand
Spukgeschichten und Schabernak verbittern, ja unerträglich machen.
Die Lebenden aber können den Toten im Schattenreiche zu Hülfe
kommen in allem was Nahrung und Kleidung angeht und andere
Gegenstände. Solche Dinge benötigen sie dort noch gerade so
— 116 —
wohl, wie einstens auf der Welt. Damit sich die eigenen Auslagen
aber nicht zu hoch belaufen, wird alles in Papier verabreicht.
Dasselbe wird verbrannt und verwandelt sich im Jenseits allsofort
in brauchbare Ware. Von den Speisen begnügen sich die toten Gäste
mit dem Gerüche; das Verzehren besorgen die Lebenden dann selber.
Was nun die erwähnten Ahnentafeln betrifft, so unterscheidet
man zwei verschiedene Sorten. Die ersten stellen das Bild des
Verstorbenen dar, die zweiten nur die Schriftzeichen seines Namens.
Es ist aber nicht jedermann gestattet, sein Konterfei malen zu lassen,
sondern nur großen Männern, die hohe Ehrenstellen bekleideten
und deren Vorfahren schon während vieler Generationen den Glanz
der Tugend und Wissenschaft verbreitet haben. Nachdem man für
das wichtige Geschäft sich einen glücklichen Tag hat weissagen
lassen, wird ein Maler von Namen eingeladen und die abzukonter-
feiende Größe legt dann den Galaanzug an, mit allen Abzeichen
der Würde. Jetzt heißt es stillsitzen, nicht nur einen Augenblick
wie beim Photographieren, sondern meistens einen ganzen Tag lang,
und auch dann muß sich der Maler noch sputen, wenn er das Bild
fertig bringen will. Natürlich wird die ganze Persönlichkeit gemalt
und gewöhnlich in Lebensgröße mit allen Abstufungen der Farben-
skala. Es kommt nicht so sehr auf die Ähnlichkeit der Gesichtszüge
an, als vielmehr auf den Gesamteindruck, den das Bild machen muß.
Wenn dasselbe würdevoll aussieht, hat der Maler seine Sache gut
gemacht. Selbstverständlich wird zum Leibesumfänge ein Bedeutendes
hinzugegeben, desgleichen erscheint der Bart um die Hälfte verlängert.
Diese Porträttafeln werden Techuenjing genannt (Übermittler
des Schattes), sind aber keine Schattenbilder, und sie gelangen erst
beim Tode des Betreffenden recht zur Geltung. Denselben gebührt
der Ehrenplatz in den Ahnentempeln, und man erweist ihnen die
nämlichen Ehrungen, wie sie früher die Lebenden genossen. Selbst
der Mandarin hat sich beim Anblick eines solchen Bildes auf die
Kniee zu werfen und das Haupt zu neigen, wenn der Gemalte ehe-
dem höher im Range stand, als er. Für gewöhnlich aber werden
die Ahnenbilder verborgen gehalten, indem dieselben durch Vor-
hänge den Blicken entzogen sind. Nur bei freudigen und traurigen
Anlässen, d. h. bei Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeiten, treten
sie aus dem Dunkel der Verschleierung hervor, um den gebührenden
Zoll der Verehrung in Empfang zu nehmen. Mit dem Alter wächst
auch der Wert dieser Bilder. Gerne umgibt man sie dann auch
noch mit dem Nimbus des Geisterhaften und erzählt sich allerhand
Wunderdinge, die der Laoie (Großvater) so und so schon gewirkt hat.
— 117 —
Zu Neujahr, wenn papierene Türgeister (Menschen) auf den
Markt kommen, werden auch primitive Ahnenbilder feilgeboten, die
nicht gemalt, sondern gedruckt sind. Dieselben dienen mehr zur
Verschönerung des Hauses als zur eigentlichen Verehrung. Findet
man in den Zügen des Bildes Ähnlichkeit mit dem verstorbenen
Vater, wird auch wohl Weihrauch vor demselben verbrannt.
Weit verbreitet ist der Gebrauch von Ahnentafeln, wenn auch
nicht überall in gleicher Weise. Es gibt Dörfer, in denen fast jede
Familie ihre Totentafeln hat, und in größeren Städten findet man
ganze Straßen, wo an beiden Seiten Haus für Haus sich mit der
Anfertigung derselben beschäftigt. In den letzten Jahren kommen
die aus Amerika eingeführten Petroleumkisten diesem Industrie-
zweige besonders zugute. Die dünnen Brettchen sind vortrefflich
geeignet, um daraus die Umhülsung der Toten täf eichen zu schnitzen.
Petroleumblechschachteln werden, nebenbei bemerkt, hauptsächlich
zu Teekannen verarbeitet. Arme aber, die sich keine hölzernen
Ahnentafeln anschaffen können, begnügen sich mit einem roten
Streifen Papier, auf welchem der Name des Verstorbenen geschrie-
ben steht. Zwei Halme aus Sorghostroh werden in zwei Hälften
einer Rübe gesteckt, und dann wird der rote Papierstreifen auf-
gehängt. Vor diesem „Seelensitze" (Schenwei) wird dann geopfert
und der gebräuchliche Totenkult verrichtet.
Wenngleich man in Städten Ahnentafeln aller Art kaufen
kann, solche die mehrere hunderte Lot Silber kosten und andere,
die für einige hundert Sapeken zu haben sind, ziehen es die Reichen
doch vor, sich die Seelensitze nicht aus einem Geschäfte zu holen,
sondern sie lassen sich dieselben von einem Schreiner anfertigen.
Es ist aber verpönt zu sagen, sich eine Ahnentafel „ anfertigen „
(zuo) zu lassen, sondern man muß das Wort siu gebrauchen, was
„bauen u heißt. In der Vorstellung des Chinesen handelt es sich
eben nicht um ein winziges Täfelchen, als vielmehr um ein mächtiges
Gebäude, worin die Seele ihren Wohnsitz aufgeschlagen.
Besonders wichtig ist es, einen Schreiner zu gebrauchen von
unbescholtenem Rufe und reiner Gesinnung. Als Werkstätte wird
ihm ein abgelegenes stilles Zimmer hergerichtet, zu welchem niemand,
ja selbst der Hausherr nicht, während der Arbeitszeit Zutritt hat.
Die Hobelbank wird mit einer roten Decke belegt; der Schreiner
darf sich beim Arbeiten nur der Hände bedienen, nicht aber der
Füße, wie er es sonst beim Hobeln (durch Festziehen des Holzes)
zu tun gewöhnt ist. Die Beschäftigung bringt ihm gute Tage,
denn täglich werden ihm Mahlzeiten bereitet mit vielen Gerichten,
- 118 -
und überanstrengen braucht er sich auch nicht, da er von nieman-
dem überwacht wird. Sollte ein Fremder unverhofft in die Werk-
stätte kommen, wird die Arbeit schnell mit einer roten Decke
verhüllt. Wenn er dann endlich die letzte Hand angelegt und der
Seelensitz fertig ist, wird ein besonderes Fest veranstaltet, wozu
auch Bekannte und Freunde Einladung erhalten. Auf einer mit
roter Seide belegten Präsentierschüssel wird dem Schreiner sein
Lohn verabreicht. Und so knauserig sonst der Chinese mit dem
Auszahlen von Löhnen ist, darf er sich bei dieser Gelegenheit doch
nicht karg benehmen. Auch ist es dem Schreiner gestattet, ohne
Verletzung des Anstandes recht viel von dem Dargebotenen ein-
zustecken; dadurch gibt er nur zu erkennen, wie hochwertig er
den Verstorbenen eingeschätzt, dem er einen Seelensitz erbaut hat.
Neben der Bezeichnung Ahnentafeln, Seelensitztafeln, werden
dieselben auch Mutschu, „hölzerner Herr", genannt. Die eigentliche
Weihe erhalten sie durch das Tientschu, indem das Zeichen Uang
(König) durch einen Punkt, den man darüber setzt, in Tschu (Herr)
verwandelt wird. (Des näheren beschrieben im U. S. 287.) Auf
diesen Punkt soll sich die Seele des Verstorbenen niederlassen.
Durch ein zweites Täfelchen wird dann diese innere Fläche (Neihau),
welche nur den Namen des Verstorbenen, sowie das Datum seines
Todes trägt, verdeckt. Auf dem äußeren Täfelchen (Weihau) ist
der Name des Sohnes verzeichnet, sowie die Namen der Enkel und
anderer Verwandten.
Das Beschreiben der Ahnentafeln ist ein Ehrenamt, wozu nicht
jeder ohne weiteres beauftragt werden darf. Man erwählt dazu
einen Studierten, der einen Gelehrtengrad hat. Für das Tientschu
aber läßt man sich nicht selten einen Gelehrten aus der Ferne
kommen, der einen hohen Rangknopf trägt und dabei das Ansehen
eines tugendhaften Mannes hat.
Vor Jahren lebte in Yantschou ein Gewisser, den wir X. nennen
wollen, bekannt unter dem Namen eines Schildkröten Verkäufers.
(Schildkröte Uangpa ist ein arger Schimpfname und bezeichnet
Leute, die mit der Sünde Handel treiben oder sonst in schlechtem
Hufe stehen.) Zur Zeit als sein Vater starb, hatte er sich schon
längst einer ehrsamen Beschäftigung zugewandt und machte als
Großkaufmann glänzende Geschäfte. Nachdem er für den Verstor-
benen eine Ahnentafel hatte herstellen lassen, lud er den Haupt-
mandarin (Tschefu) der Stadt ein, auf der Tafel den Seeleupunkt
zu machen. Dieser aber wies das Ansinnen rundweg ab, weil er
es als Schmach betrachtete, einem ehemaligen Schildkrötenvorknufer
— Ü9 —
diesen Ehrendienst zu erweisen. X. verbiß den Arger und schob
die Beerdigung seines Vaters vorläufig hinaus.
Bald brachte er in Erfahrung, in der Provinz Schantung
wolle ein Großwürdenträger (Yükaolao) des Kaisers für seinen ver-
storbenen Vater die Begräbnisfeierlichkeiten veranstalten. Er machte
sich alhofort hin und bot Yükaolao seine Dienste an. Begräbnis-
feierlichkeiten veranstalten, ist in China immer ein außergewöhnliches
und großwichtiges Geschäft, das viel Geld und nicht weniger Mühe
kostet. Freunde und Bekannte bieten deshalb bei dieser Gelegenheit
ihre Hülfe an, indem der eine für die Zelte, ein anderer für Tische
und Bänke, ein dritter für Bereitung der Speisen, ein vierter für
die Musik, ein fünfter für das Schießen zu sorgen hat, usw. Yükao-
lao war allerdings Großwürdenträger beim Kaiser, stand aber finanziell
auf schwachen Füßen. Die höchsten Würden tragen in China
durchaus nicht immer das meiste Geld ein, sondern solche Amter,
bei denen es viele Nebenverdienste gibt. Mit Freuden nahm er
das Anerbieten des X. an, zumal sich jener bereit erklärte, er wolle
für die Ausstaffierung (welche die größten Ausgaben verursacht) auf-
kommen. Er reiste nach Yangtschou zurück, um die notwendigen
Einkäufe zu machen und Vorbereitungen zu treffen. Einige Tage
vor dem festgesetzten Termine, als das Begräbnis stattfinden sollte,
erschien er mit einer ganzen Reihe Wagen, beladen mit allem erdenk-
lichen Pomp, und zwar nicht aus Papier, wie es sonst gewöhnlich
der Fall ist, sondern aus Seidenstoff und Damast. In der Nähe
des Grabes wurden Burgen aus Seide erbaut, eine kleine Stadt mit
Häusern und Tempeln aufgeführt: eine Herrlichkeit, wie man sie
seit Menschengedenken noch nicht gesehen. Drei Tage lang blieb
alles stehen, und stundenweit kam das Volk herbeigeeilt, um zu
betrachten und zu bewundern. Als dann der Sarg in die Gruft
hinabgelassen war, wurde das Ganze angezündet und verbrannte
zu Asche. Die Lebenden hatten sich satt gesehen, jetzt ging die
Herrlichkeit in den Besitz des Toten über.
„Womit soll und kann ich dir danken" — das waren die
ersten Worte, welche Yükaolao am anderen Tage an X. richtete.
„Mir danken? Meine Bitte ist bescheiden, und dennoch liegt sie
mir sehr am Herzen. Auch mein Vater steht noch über der Erde,
und ich wollte demnächst die Begräbnisfeierlichkeiten für ihn hal-
ten. Ich bitte den großen Mann, auf die Ahnentafel meines Vaters
den Seelenpunkt zu machen, dann bin ich vollauf entschädigt. u
Mit Freuden stimmte Yükaolao zu, und in Bälde reiste man nach
Yangtschou ab.
— 120 —
Als es dort ruchbar wurde, der Groß Würdenträger des Kaisers
Yü komme nach Schantung, um dem Schildkrötenverkäufer beim
Begräbnis seines Vaters Dienste zu leisten, ja er wolle ihm sogar
den Seelenpunkt machen, da wagte niemand mehr den Großkauf-
mann Schildkrötenverkäufer zu nennen, und selbst der Mandarin
machte schleunigst seine Aufwartung bei ihm. Als dann die Bekann-
ten und Freunde kamen, um ein Amt zu übernehmen bei den
Vorbereitungen zum Begräbnis, erschien auch der Mandarin. Yü-
kao-lao hatte die Oberaufsicht und teilte jedem seinen Posten zu.
Am schlechtesten aber kam der Mandarin fort: er wurde beauftragt
die Trommel zu rühren, sobald jemand an der Bahre dem Toten
die Verehrung gab. — Der Schildkrötenverkäufer hatte sich gerächt,
und zwar gründlich; fortan galt er als Mann, der nicht nur Geld
hat, sondern auch einen Namen.
Am Neujahrstage werden in aller Frühe die Ahnentempel
geöffnet, und bevor man den Lebenden einen „neuen Frühling"
gewünscht, sucht man zuvor die Toten auf. Auch Verwandte und
Gäste, die von außen kommen, ihre Glückwünsche darzubringen,
werden zunächst in die Ahnentempel geführt. Aufgabe des ältesten
Sohnes ist es, schnell eine rote Decke auf dem Boden auszubreiten
und in gebückter Stellung nebenan zu stehen, wenn vor den Ahnen-
tafeln die Reverenzen gemacht werden.
Hat man den Verstorbenen ein besonderes Anliegen vorzutra-
gen, sie um Rat zu fragen, oder macht man ihnen Mitteilung über
die Verlobung eines Enkels und dgl., werden Weihrauchstengel vor
den Ahnentafeln verbrannt. Davon rührt ihr geschwärztes Aussehen
her, das aber nicht wenig dazu beiträgt, sie noch kostbarer zu machen.
Der Kult der Ahnentafeln ist für die Heiden ein mächtiges
Hindernis, sich dem Christentum zuzuwenden, für die Christen aber
vielfach eine Veranlassung, mit den heidnischen Verwandten in
Unfrieden zu leben. Geht ein Christ seinen heidnischen Verwand-
ten Neujahr wünschen, wie es üblich ist, soll er natürlich auch zuvor
den Ahnentafeln Kou-t'ou machen, was ihm aber die Religion zu tun
verbietet. Erst mit der Zeit, wenn die Heiden nämlich erfahren, wie
die Christen auch ihre Toten ehren und ihrer fast täglich im Gebete
gedenken, geben sie sich zufrieden und lassen ihre Vorurteile fahren.
CN^J^O
— 121 —
Der „heiligste Wald".
^^IS^^^hrsolH/jiL; lin, der „heiligste Wald", steht über einer
*£^B^e Ehrenpforte am Wege, welcher von der Stadt Tjü-fu zu
S^f-Ä^J f ' eni Q ra l* e des Konfuzius führt. „Wald" nennen die Chi-
J^aA^ BEBea ihw Begräbnisplätze, denn dort befinden sich in der
Regel die meisten Bäume zusammen ; einen Wald ohne Gräber gibt
es in China überhaupt nicht. Besonders sind es Lebensbäume und
Weiden, welche bei den Gräbern in Gruppen aufgepflanzt sind. Die
Lebensbäume sollen für die Gebeine der Verstorbenen von Vorteil
sein, da die Wurzeln dieser Bäume ein gewisses Tier abhalten, das
den Toten noch im Grabe beunruhigt ; auch der Glücksvogel Phönix
(Pung-huang) soll sich mit Vorliebe auf alte Lebensbäume niederlassen.
Die Weiden sind vielfach dem „Schmerzenstocke" 1 ) (Nge-tschang)
entsprossen, den die Leidtragenden am Grabeshügel einstecken,
wenn sie die Leiche beerdigt haben und das Grab verlassen.
Der Totenacker des Konfuzius ist denn in der Tat ein wahrer
Wald. Sonst wohl nirgendwo in Schantung finden sich so viele
Bäume zusammen als an dieser Stelle. Aber er ist nicht nur ein
Wald von Bäumen, sondern auch ein wahrer WalJ von Gräbern
und Gedenktafeln. Einen Totenacker von solchem Umfang wird
man in ganz China kaum anderswo antreffen. Bedeckt er doch eine
Fläche von 30000 Mu, das beiläufig 5000 preußische Morgen sind.
Und daß er der „heiligste" Wald ist, daran zweifelt kein Chinese,
zumal wenn er ein Studierter ist : ist er aber kein Studierter, dann
formt er eben seine Meinung nach der Meinung jener Leute, die
„das Denken tun und den Pinsel führen". Ist es doch der „Hei-
ligste", der in diesem Haine begraben liegt, „der Altvater allor
Gelehrten, ein Lehrer der Könige und Kaiser während tausend
Generationen". Als ich kürzlich in Begleitung eines Freundes den
gewaltigen Totenacker betrat und durchwanderte, wurde es mir
ganz eigenartig zu Mute. Ja das ist der älteste Friedhof auf der
ganzen Welt. Eine solche friedliche Ruhe wie sie die dort Ruhenden
genießen, ist sonst wohl keinem Sterblichen zu teil geworden. Als
man die Toten dort ins kühle Grab gebettet und der grüne Rasen
seinen Mantel darüber ausgebreitet, hat sie nie mehr eine frevelnde
Hand in ihrer Grabeseinsamkeit gestört.
Manche Sterbliche haben sich bei Lebzeiten feste Mausoleen
gebaut, und harte Steine wölben sich über ihren Gebeinen zum
l ) Vergl. U. Seite 289.
— 122 —
dauernden Monumente. Aber der Zahn der Zeit hat dennoch den
Stein zernagt oder vandalische Zerstörungswut hat selbst der Toten
nicht geschont. Wo einstens Tote ruhten, erheben sich jetzt viel-
fach Städte und Dörfer und die Asche der Entschlafenen ist im
Winde zerstreut. Der Totenacker von Tjü-fu ist noch jungfräuliche
Erde. Noch nie hat darin der Pflug seine Furchen gezogen, noch
haben dort Lebende je ihr Heim gegründet. Alles in dem „heiligen"
Walde wird denn auch heilig gehalten und als unantastbar. Bäume,
deren Alter über die Tausende gehen mag und die gleich einem
abgelebten Greise sich tief zur Erde bücken, läßt man ruhig absterben
oder aber gibt ihnen barmherzig eine Stütze, damit sie noch einige
Jahre länger leben. Und wenn sie dann endlich verdorren, bleiben
sie doch ungestört an ihrem Platze; wer wollte es auch wagen,
seine Hand daran zu legen und das Holz für „profane" Zwecke
zu benutzen ! Solche Baumskelette, welche ihre abgeblichenen Aeste
in die Lüfte strecken, sind ein Mahuzeichen der Vergänglichkeit
alles Irdischen. Das Buschwerk und Gras im „heiligen" Walde ver-
dorrt jeden Winter um im Frühling von neuem zu sprossen und
zu grünen. Hierher darf sich keine Sichel wagen, und wehe dem
armen Buben, der sich dorthin verirren sollte, um Brennmaterial
zu sammeln. Nur den Wahrsagern ist es erlaubt, hier ihr Wunder-
kraut (Sche-ts'ao = achillea ptarmica) zu suchen, „denn sonst wächst
es nirgendswo auf der Welt".
Die gewaltige Totenstadt ist mit einer hohen Mauer umgeben,
aber nur ein Tor öffnet dorthin seinen Zugang. Von diesem Tore
zweigen sich drei Wege in verschiedener Richtung auseinander; der
südliche führt zu dem Grabe des Konfuzius. Dasselbe befindet sich
in Mitte der Millionen Totenhügel, ist aber noch mit einer eigenen
Mauer umschlossen. Die nächsten Nachbaren des Konfuzius sind
sein Enkel und sein Sohn, welcher schon zu Lebzeiten des Vaters
starb. Das Grab an und für sich entspricht nicht den Erwartungen,
mit welchen man den „heiligen" Wald betritt. Ein einfacher Hügel
ist es, gerade wie die vielen Grabhügel ringsumher, nur ein wenig
größer. Und auch die Steinplatte, welche vor dem Grabe aufgerichtet
steht, ist höchst einfach und kunstlos. Da haben die Chinesen
mancher „ehrsamen Witwe" ein weit kostbareres Monument errichtet,
als ihrem Nationalheiligen. Es ist, als ob der große Philosoph noch
am Grabe des Lebens Einfachheit und die Vergänglichkeit des
Irdischen predigen sollte. Ein zwei Fuß hohes Weihrauchgefäß
aus Bronze, das vor dem Grabe aufgestellt ist, nimmt den Weih-
rauch auf, der zu Zeiten dort verbrannt wird. Die eigentlichen
— 123 —
Totenopfer werden dem hohen Yerstorbenen bekanntlich in den
ihm geweihten Pagoden dargebracht, wo sich sein „Seelensitz"
befindet, und somit ist für ein angemessenes Portkommen im Jenseits
doch genugsam gesorgt. In der Nähe des Grabes sehen wir eine
„Hütte", die zur Erinnerung an jene Hütte erbaut ist, worin die
Schüler des geliebten Lehrers sechs Jahre lang um ihren Meister
trauerten und Grabwache hielten. In fast gleichmäßigen Abständen
am Wege stehen drei Pavillons mit orangengelben Dachziegeln,
welche von verschiedenen Kaisern gelegentlich ihres Besuches dort
erbaut wurden. Dieselben dienten den „Himmelssöhnen 4 ', um darin
ihre Kleider zu wechseln; denn wer am Grabe Opfer darbringen
will, muß sich zuvor in Gala legen. Auch die kaiserlichen Herr-
scher taten das, so oft sie zum Grabe des „thronlosen Monarchen"
pilgerten. Der letzte Kaiser der Ts'ingdynastie, welcher seinen Be-
such am Grabe des Konfuzius gemacht hat, war der Kaiser Tj'enliung.
Den Eingang zur eigentlichen Grabstätte bewachen steinerne
Löwen, Nashörner, Kamele und steinerne Würdenträger, wie sie
meistens an den Gräbern hoher Persönlichkeiten zu finden sind.
Doch mit der steinernen Wache begnügt man sich wohlweislich
nicht. Auch Lebende wohnen bei den Toten und halten Wache,
damit nichts gestohlen oder zerstört wird. Es sind das einige Fami-
lien aus der Nachkommenschaft des heiligen Mannes, die sich dort
häuslich eingerichtet haben. Bei den meisten Gräbern ist eine
Steinplatte errichtet, worauf der Name des Verstorbenen eingemeißelt
ist nebst seinen Amtern und Würden, falls er solche besessen, und
vor allem das wievielte Glied er im Stammbaum als Nachkomme
des heiligen Mannes gewesen, denn das ist sein größter Ruhm.
Freilich, ein Stammbaum, der so alt ist und so viele Generationen
aufzuweisen hat, ist sonst wohl nirgends auf der Welt zu finden.
Ist doch der jetzige Nachkomme des Konfuzius bereits der sechs-
undsiebzigste Stammhalter, und über 2700 Jahre trennen ihn von
seinem großen Ahnen. „Ich will schlafen bei meinen Vätern",
ist auch der Wunsch eines jeden Nachkommen des Heiligen. Wenn
er deshalb in der Fremde stirbt, schafft man seine Leiche, wenn
nur eben möglich, herüber und begräbt sie im „heiligen" Walde.
Ein kleiner Fluß, der Süho, nimmt seinen Lauf durch den
Totenhain und bringt einiges Leben in die Grabeseinsamkeit. Eine
schöne Brücke verbindet die beiderseitigen Ufer. Ehe man aber
zum „heiligen" Walde Einlaß findet, hat man noch zwei andere
Brücken mit Ballustraden zu überschreiten, die jedoch keine Wasser-,
sondern Landufer verbinden. Die Chinesen belieben nämlich vielfach
- 124 —
dorthin Brücken zu bauen, wo kein Wasser ist, wo aber Wasser
fließt, die Brücken fortzulassen. So eine Lustbrücke soll ein beson-
deres Dekorativ sein, ähnlich den Toren ohne Häuser oder Mauern.
Auch dieser Tore gibt es zwei, welche den Weg zum Grabe des
Konfuzius überspannen, und die man zu durchschreiten hat. Es
steht aber nichts im AVege, sie zu umgehen, und wer sich einen
recht bescheidenen Anstrich geben will, tut das mit Vorliebe. Auf
einem dieser Tore finden wir die Zeichen eingemeißelt, welche
„ewiger Frühling" bedeuten, nebst anderen Sprüchen zur Verherr-
lichung des „Heiligen". — Im „heiligen" Walde, wo „ewiger Früh-
ling" blüht, da muß es sich wunderbar süß ruhen lassen, sollte
man glauben. Aber ach! Wie viele von den Hunderttauseuden, die
hier begraben sind, mögen die ewige Ruhe gefunden haben im
himmlischen Vaterlande! Konfuzius war Heide, und seine Nach-
kommen sind es heute, nach zweieinhalbtausend Jahren, auch noch.
Briefwesert.
^*ie Briefpost in China ist uralt. Spricht doch bereits der alte
Philosoph Konfuzius (Sü sohu: Mung-tse) „Der Ruf der Tu-
gend (es ist von einer weisen Regierung die Rede) eilt schnel-
JMBfttft ^ er dahin als ein kaiserlicher Postbote, sei es zu Fuß oder zu
Pferde." Und in seinen Plaudereien (Luin jü 7. Buch, 14. Kap.) erzählt
er von einem Prinzen des Fürstenhauses Tschöng, welcher einen Brief
zu schreiben hatte. Der Brief mußte, bevor er abgeschickt werden
konnte, zuvor die Zensur von vier Gelehrten passieren. Der eine ver-
faßte den Entwurf, der zweite prüfte selbigen auf seinen Inhalt, der
dritte feilte den Stil, der vierte endlich sorgte für eine geschmackvolle
bilderreiche Form. Es sind aus der alten chinesischen Literatur (ku uin)
Briefevorhanden, an deren schwungvoller tiefsinnigen Schreibweise
sich der Stil der Gelehrten jetzt noch bildet. An diese muß sich der
gemeine Mann wenden, wenn er den in der Ferne weilenden Eltern oder
einem Freunde ein Lebenszeichen von sich geben will. Wenn dann das
Schreiben endlich in die Hände des glücklichen Empfängers gelangt,
muß auch dieser wieder einen Gelehrten aufsuchen, wenn er den In-
halt desselben verstehen will. Selbstverständlich ist es unter diesen
Umständen kaum möglich, sich brieflich Geheimnisse mitzuteilen, abge-
sehen davon, daß sich die Chinesen nichts daraus machen, anderer Leu-
te Briefe zu öffnen und zu lesen. Es ist das um so leichter, da man als
— 125 —
Klebemittel zum Briefschließen weder Kleister gebraucht noch Gummi
arabicum, sondern die Zahnpilze, welche sich an die Ränder der
Zähne festsetzen. Der lange kleine Fingernagel wird als Abkratz-
instrument gebraucht, und wer täglich mehrere Briefe zu schließen
hat, darf ruhig auf eine Zahnbürste verzichten. Jeder Europäer
wird sich schon geekelt haben, nicht minder wenn er einen Chine-
sen seinen Brief schließen sab, als wenn er beim Empfang desselben
die gräulich weiße Masse am Rande des Kuverts öffnen mußte.
Briefsteller gab es seit unvordenklichen Zeiten. In denselben
finden sich die genauesten Anweisungen, wie man sein Schreiben
zu verfassen hat 1 ). Selbst über die Reihen der Zeilen, über das
Format des Briefes und des Umschlages gibt es die genauesten
Vorschriften. Auch fehlen in demselben nicht eine Anzahl Muster-
briefe für alle möglichen Fälle, nur eine Art Briefe fehlen, nämlich
die — Liebesbriefe.
Was zunächst den Briefumschlag betrifft, so gibt es verschie-
dene Arten desselben. Briefe der Beamten, z. B. eines Mandarinen
an seinen Vorgesetzten, werden in großen weißen Kuverts und festem
Papier verschickt. Andere Briefe offizieller Natur oder rein geschäft-
lichen Inhalts sind gleichfalls von weißer Farbe, haben aber eine
kleinere Form. Auf der Adreßseite tragen sie einen roten Papier-
streifen, der entweder eigens aufgeklebt wird oder aufs Kuvert
gedruckt ist. Handelt es sich um eine Todesanzeige, wird die
innere Seite des Streifens, welche grau ist, nach außen gekehrt. Ist
der Empfänger aber auch in Trauer, so muß ein blauer oder weißer
Streifen benutzt werden. Rechts von dem Streifen ist auf dem
Umschlage der Betimmungsort verzeichnet mit der Bitte, das Schrei-
ben gütigst an den „großen Mann" so und so gelangen zu lassen.
Schickt ein Sohn seinem Vater einen Brief, so ist es verboten,
dessen Namen zu bezeichnen; er begnügt sich deshalb damit, auf
dem roten Streifen ein sung ngan tja sin: „Gelegentlicher (eigentlich
friedlicher) Brief nach Hause u zu schreiben. Damit man aber wisse,
an wen der Brief zu schicken ist, fügt er rechts seinen eigenen Namen
bei. Links vom roten Streifen ist der Ort des Absenders bekannt-
gegeben. Auf der Umseite wird das Datum mitgeteilt, wann der Brief
„versiegelt" (Siegellack wird nicht benutzt) und abgeschickt wurde.
Außer diesen Umschlägen, welche meistens geschäftliche Schrei-
ben umschließen, gibt es noch eine Unmenge bunter Kuverts.
l ) Auch im Tsieii-tse-uin -Gedicht der zehntausend Buchstaben, zur Zeit der
Liang-Dynastie, 500 Jahre nach Chr., verfaßt) wird eine Regel über den Brief ge-
geben. Derselbe soll kurz gefaßt sein und nur über das Notwendige berichten.
— 126 —
Ebenso wie man in Europa Ansichtskarten sammelt, könnte ein
Liebhaber in China Hunderte verschiedener Briefumschläge sammeln,
die alle auf der Außenseite verschiedene Bilder und Embleme tragen.
Nicht immer ist es leicht zu enträtseln, was die Bilder bedeuten
und die Zeichen besagen wollen. Vor mir auf dem Tische liegt
eine Anzahl solcher Umschläge, von denen ich einige erklären will.
Auf einem sehen wir das Bild eines Greises, der auf einem
Hirsche sitzt und seine Augen betrachtend auf einen Pfirsich gerichtet
hält. Der Alte versinnbildet das Glück (süßes Ruhen, Nichtstun),
der Hirsch = lu, (gleichlautig mit lu = hohes Einkommen) ein Amt,
das gute Sportein abwirft ; der Pfirsich endlich soll ein langes Leben
andeuten (weil der Genuß von Pfirsichen den Menschen besonders
alt machen soll.)
Ein anderer Umschlag zeigt uns zwei breitgeschwänzte Fische.
Es hat damit folgende Bewandtnis. Ein Unbekannter, aus weiter
Ferne kommend, brachte jemandem Fische zum Geschenke. Als die-
selben hergerichtet wurden, fand sich im Innern eines Fisches ein
Brief auf Seide geschrieben. Derselbe kam von eine_m guten Freunde,
der den Fisch zum Träger seiner Empfindungen gemacht. Vielleicht
fürchtete er, das Schreiben könne unterwegs verloren gehen, daß
er auf dieses außergewöhnliche Mittel sann. Seitdem hat das Zeichen
für Fisch auch zugleich die Bedeutung für Brief. 2 )
Dasselbe gilt von dem Zeichen für Wildgans; und eine „Wild-
gans schießen" (sche-ien) heißt so viel, als einen Brief abschicken.
Deshalb findet man auch diesen Vogel oft auf Briefumschlägen und
Briefpapier. Ein chinesisches Geschichtenbuch (Han-schu-su-djan-
tschuan) gibt uns darüber folgende Aufklärung : Zur Zeit der Han-
Dynastie (206 n. Chr.) war einstmals Kaiser Sun mit seinem Gefolge
auf der Jagd. Das erste, was der Kaiser erlegte, war eine Wildgans.
Als man dieselbe aufhob, fand sich an ihren Füßen ein zusammen-
gelegtes Stück Seide festgebunden. Bei genauerer Untersuchung
stellte sich heraus, daß es ein Brief war, worin dem Kaiser wichtige
Kriegsnachrichten mitgeteilt wurden. Der Ausdruck „ein Fuß weiße
Seide" (su-tschi) hat in bezug auf dieses Ereignis seither auch die
Bedeutung von Brief.
Außer der Wildgans sieht man auch das Bild des „Geister-
Kranichs" (sien-ho) auf Briefen und Umschlägen. Dieser Vogel soll
sehr lanere leben oder gar unsterblich sein und auf seinem Rücken
2 J Auf einer Inschrift ist zu lesen:
Bringt das Fischlein einen Brief heran, vereinen sich die Herzen; Spielt ein
Spätzlein in der Pforte, wohnt Friede dort und Einigkeit.
— 127 —
nehmen die „Buddha-Heiligen" (sien-jin) ihren Einzug ins Nirwana.
Ein langes Leben aber gehört mit zu den meist erstrebten Glücks-
gütern der Chinesen. Wer seinem Freunde solches im Briefe
wünscht, tut es in Wort und Bild.
Ahnliches gilt von Umschlägen, die mit Fledermäusen verziert
sind. Fu heißt Glück, aber auch Fledermaus. Da der Ausdruck
Glück ein abstrackter Begriff ist, gebraucht man ein Bild, das mit
Glück den nämlichen Laut hat.
Einem Gelehrten wünscht man den höchsten Kangknopf, die
äußerste Sprosse auf der Weisheitsleiter. Ein Umschlag, der mit einer
goldenen Blume geschmückt ist, soll Vermittler unseres Wunsches
sein, weil der Glückliche, der das höchste Examen bestanden, am
Tage seiner Ehrung mit einer goldenen Lilie geschmückt wird. 3 )
Wer einen Brief nach Hause schickt, der auf der Außenseite
das Bild eines Pferdes oder Kamels trägt, kündet damit seine baldige
Heimkehr an. „Der Pferdehuf tritt auf Blumen, und duftend kehrt
der Reiter heim," heißt es in dem Text.
Auf einem anderen Umschlage finden wir eine Art Glückwunsch:
uen sehe ju ji. „Möge dir alles nach Wunsch gehen. u Oder wir
sehen das Bild einer Sonne, die soeben aus dem Meere emporsteigt.
Darüber ist zu lesen: Ju ji tschi schöng: „Möge dein Emporsteigen
(zu Würden und Aemtern) gleich dem der Sonne sein." Wieder andere
tragen ein Bild, das irgend eine Allegorie zur Darstellung bringt;
einige Textworte alter Schriftsteller dienen dabei als Erklärung. So
z. B. sehen wir einen Greis mit einem Krummstabe unter einer knor-
rigen Fichte sitzen. Vor ihm steht ein Knirbs, der mit der Rechten
nach Osten zeigt. Der Alte sucht seinen Freund, hat sich aber vom
Wege verirrt; der Kleine zeigt ihm denselben. Die Nutzanwendung
ist: Es gibt Zeiten, wo auch der Bejahrte noch die Jugend fragen muß.
9 ) Das Anheften der Blume (an den Hut) geschah in früheren Zeiten von
der Kaiserin selbst, imd jeder, der das höchste Examen (tsch'uan-juen) bestanden,
hatte das Recht, eine kaiserliche Prinzessin zu ehelichen. Handelte es sich um
einen Gelehrten, der das Zivilexamen gemacht, mußte derselbo bei der Zeremonie
der Kaiserin seinen Rücken zuwenden. Hatte er aber das höchste Militärexamen
bestanden, durfte er der Kaiserin gegenüberstehen und ihr sogar ins Gesicht
sehen. Es hatte das darin seinen Grund, daß er als höchster Militär Kaiser und
Kaiserin beschützen mußte, zurzeit von Kriegen aber in die Lage kommen konnte,
wo ihm das persönliche Kennen von Nutzen war. Während der Sungdynastie
(960 — 1126) stellte sich einst ein bemoostes Haupt von 82 Jahren, Lianhao mit
Namen, um sein Examen zu machen, das er denn auch glücklich bestand. Als
er dann um die Hand einer kaiserlichen Prinzessin warb, wurde ihm dieselbe
verweigert, mit dem Bedeuten, diese Gunst bestehe nicht mehr — sie war soeben
vom Kaiser aufgehoben und blieb es bis auf den heutigen Tag.
— 128 —
Aus der Monge anderer Symbole, womit vielfach die Brief-
umschläge geschmückt sind, nenne ich noch folgende: Bambus,
Pfirsichblüte, Pflaumenblüte, Chrysantemum, Schmetterlinge, Lotos-
blüte, Wohlgeruchsgras (hiang-ts'ao), ein Schiff auf bewegten Wellen
u. s. w. Die Erklärung des einzelnen würde uns zu weit führen.
Auch Schriftzeichen in alter Form und eine Art Monogramme sind
ein beliebtes Verzierungsmittel. Dieselben beziehen sich meistens
auf die Glückseligkeiten der Chinesen als da sind: langes Leben, gutes
Einkommen, Friede und Eintracht, eine Schar gehorsamer Söhne.
Schreibt man Briefe an Freunde und Bekannte, wird in der
Regel buntes Papier genommen mit allerhand Zierrat. Derselbe ist
ähnlich wie bei den Kuverts. Aber auch Schreiben an Vorgesetzte
und Höhergestellte dürfen derartigen Bilderschmuck tragen, falls es
sich um keine Kung-sche (Geschäftssache) handelt. Es gilt sogar
als vornehm, fünf Bogen zu benutzen, von denen jeder eine andere
Farbe hat. Schreibt man zu Neujahr einen Brief oder gelegentlich
freudiger Ereignisse, wird rotes Papier benutzt. Der Umschlag
solcher Briefe darf indes niemals von der gewöhnlichen Form und
Farbe abweichen.
Auch das Falten der Briefe hat nach bestimmten Regeln zu
geschehen. Für Sendungen an hochgestellte Personen gebraucht man
meistens einen sehr großen Umschlag, so das die einzelnen Bogen
nicht zusammengelegt zu werden brauchen. Außer dem Briefe liegt
auch eine Visitenkarte bei, weil der Brief selber den Namen des
Absenders nicht trägt. Zum Schlüsse ist nur bemerkt, daß man seinen
Namen auf einer Karle eigens beigefügt hat. Besonders schwierig ist
das Zusammenfalten von Briefen, die keinen Umschlag haben. Es
gehört viel Geschicklichkeit und Übung dazu, um einen solchen Brief,
wenn er geöffnet wurde, wieder in die alten Falten zu bringen.
Was die Beförderung von Briefen angeht, so gab es schon
seit grauer Zeit Regierungsbriefboten zu Pferde und zu Fuße. Die
Briefboten zu Pferde wechseln ihre Tiere auf bestimmten Zwischen-
stationen, der Reiter aber darf seine Sendung keinem andern anver-
trauen. Der „Briefsack" ist meistens ein viereckiges Paket und dem
Träger auf den Rücken geschnürt. In keinem Falle ist es erlaubt,
dasselbe anderswo zu befestigen. Vielleicht glaubt man, das Pferd
trüge leichter, wenn der Reiter sein Gepäck selber trägt. Es wer-
den von solchen Boten oft in einem Tage ganz unglaublich große
Strecken zurückgelegt, besonders wenn es sich um eine Eilsendung
handelt, die» durch eine daran befestigte Hühnerfeder erkennbar
gemacht ist (tji-mao-uin-schu). Dann wird keine Rücksicht genommen
— 129 —
auf Wind und Wetter, auf Tag oder Nacht. Unaufhaltsam geht es
voran, denn wenn das bezeichnete Ziel zur festgesetzten Zeit nicht
erreicht ist, wird der Postbote hart bestraft. Man erzählt, daß solche
Boten während 24 Stunden bisweilen Strecken von 800 Li zurück-
legen, d. h. einen Weg von 400 Kilometer = 80 Stunden.
Besagte Boten vermitteln den brieflichen Verkehr der Beamten
unter sich und besonders mit der kaiserlichen Hauptstadt. Dabei
ist nicht ausgeschlossen, daß gelegentlich gegen gutes Trinkgeld
auch ein Privatbrief mitgenommen wird, im übrigen aber mußte
sich bisheran der gemeine Mann selber seinen Boten stellen, wenn
er einen Brief zu schicken hatte. Erst in den letzten Jahren ist
eine Art regelrechtes Postwesen geschaffen, Fast in jeder Bezirks-
hauptstadt besteht eine Postagentur, welche auch den Verkehr mit
dem Auslande vermittelt. Für uns Missionare bedeutet das eine
ungemeine Erleichterung, da wir nicht mehr genötigt sind, weit aus
dem Innern Boten an die Hafenplätze zu schicken, um die Sendungen
aus Europa eigens abholen zu lassen. Freilich liegt das moderne
Postwesen der Chinesen noch ziemlich in den Windeln, aber der
Anfang ist doch gemacht. Ob das Kind gedeiht, hängt davon ab,
ob die Chinesen selber tüchtig Briefe schreiben und daran hapert
es eben. Viele Herzensempfindungen haben sie nicht auszugießen-,
dazu verstehen wie anfangs bemerkt, jetzt noch sehr wenige Zopf-
träger, zu schreiben; der Verkehr ist also so ziemlich nur auf die
Geschäftsbriefe der Kaufleute u. s. w. beschränkt.
Markt und Messe.
jie Chinesen feiern keinen Sonntag, aber sie haben ihre
Markttage, die für manche Zeiten der Ruhe und Erholung
'*% bedeuten. Auf dem Markte gibt es etwas neues zu sehen
§ und zu hören, und allerhand Leckerbissen werden feilgeboten,
die man daheim nicht immer erhalten kann. Zudem schleicht das
Leben in so einem Bauerndorf ungemein eintönig dahin; wenn es
obendrein nichts zu arbeiten gibt, fängt selbst der Chinese sich zu
langweilen an und bekommt das liebe Nichtstun satt. Doch in
nicht zu weiter Entfernung ist alle fünf Tage Markt ; dorthin lenken
sich dann die Schritte vieler, und die Wege zu dem Marktflecken
gleichen beinahe den Kirchwegen am Sonntage in Europa.
R. Pieper, „Neue Bändel". 9
— 130 —
Die großen Messen der Chinesen aber sind seine Festtage mit
Oktavfeier. Auch den religiösen Gefühlen wird bei dieser Gele-
genheit Rechnung getragen. Immer ist an solchen Plätzen irgend
eine Pagode, worin während dieser Zeit eine Anzahl Bonzen besonders
fleißig ihres Amtes walten. Ihr Werk besteht darin, daß sie die
Opfersapeken der Frommen in Empfang nehmen und eine Glocke
schlagen, wenn die Sapeken in die Kiste rollen. Dadurch soll der
Geist aufmerksam gemacht werden, andernfalls könnte er die Bitte
überhören, und der Arme hätte umsonst gefleht und geopfert. Nach
der Menge der Sapeken richten sicli die Glockenschläge, ganz
natürlich, denn je größer das Opfer, um so mehr Anspruch hat der
Chinese auf Erhörung.
Mit diesen Messen sind auch fast immer Theateraufführungen
verbunden, die gleichfalls in der Nähe der Pagode auf einer Bühne
gegeben werden. Selbstverständlich bildet das ein weiteres Moment,
durch das nicht nur fromme Seelen angelockt werden, sondern
alles, was nur Beine hat, denn schau- und hörlustig ist jeder
Chinese.
Die Messen fallen hauptsächlich in die Frühlings- und Herbst-
tage. Um diese Zeit baut der gemeine Mann sein Haus und auf
der Messe findet er das nötige Material an Holz; ja selbst Fenster
und Türen kann er in genügender Menge und nach Belieben aus-
suchen. Der Bauer findet an Ackergeräten, soviel er bedarf und
die Hausfrau kann alles Mögliche für ihre Küche kaufen, falls ihr
das nötige Geld nicht fehlt. Im Herbste werden Getreidekörbe
ausgestellt und sonstige Bedarfsartikel für den Winter. Überhaupt
gibt es kein Ding, das nicht auf dem Markte oder der Messe einen
Abnehmer fände. „Wird etwas verkauft, fehlt es nie an Kauflustigen,"
sagt ein chinesisches Sprüchwort.
Märkte und Messen sind vor allem ein Sammelplatz zweifel-
hafter Elemente. Darum schickt der Mandarin auch immer einige
Polizisten hin, die für Ordnung zu sorgen haben, Spielhöllen auf-
suchen müssen und dio Diebe erwischen sollen. Zudem steht jedem
Markte sowohl als ganz besonders der Messe ein „Haupt" vor,
welches verantwortlich gemacht wird für etwaige Störungen. Aber
das Markthaupt (Tsi-t'ou) und des Mandarinen Polizisten arbeiten
unter einer Decke. Gauner, Taschendiebe und Spielhöllenbesitzer
müssen eine Vergütung zahlen, und dann läßt man das Gesindel
nach Belieben walten. Schon vor Beginn der Messe stellt sich der
Diebekönig beim Tsi-t'ou vor, natürlich nicht mit leeren Händen.
Er wird gefragt, mit wie vielen „Gesellen" er diesmal das „Geschäft"
— 131 —
betreiben wolle. Ist die Bande gar zu groß, so können nicht alle
zugelassen werden, denn die Zahl der Diebe muß immer im Ver-
hältnis stehen zur Größe der Märkte.
Ist nun jemanden etwas gestohlen worden, wendet sich der
Bestohlene an das Markthaupt, falls er nicht von vornherein auf
Rückerstattung verzichten will. Handelt es sich um einen Mann
mit wenig Grütze, und an solchen werden Diebereien mit Vorliebe
verübt, so wird er mit guten Worten hingehalten. Andere aber,
die sich damit nicht zufrieden geben, bekommen am nächsten Tage
die ge'stohlenen Gegenstände zurückerstattet, natürlich gegen eine
„Vergütung" für die Mühewaltung. Deshalb dürfen die gestohlenen
Sachen erst nach drei Tagen verkauft werden, damit dem Eigen-
tümer noch Gelegenheit gegeben ist, wiederum in den Besitz seines
Eigentums zu kommen. Die Mühewaltungsgelder verteilt die noble
Bande unter sich. Handelt es sich um gestohlenes Geld, so wer-
den 20 bis 30 Prozent zurückbehalten. „Die ganze Summe war nicht
mehr zu haben, u sagt der Tsi-t'ou, „da die Lumpen bereits einen
großen Teil davon verbraucht hatten. u
Bemerkt sei noch, daß ein Dieb, der sich erwischen läßt,
nachher die empfindlichste Strafe von seinem Lehrmeister zu erwarten
hat, und diesen deshalb vor allem fürchtet. Er hat seine Sache
nicht gut gemacht und sich dadurch als ungelehriger Schüler erwie-
sen. Die Lehrzeit dauert meistens mehrere Jahre. Versteht er
es, mit einem halben Dutzend Schellen, die ihm an den Kleidern
befestigt sind, herumzutanzen, ohne daß die Schellen einen Ton
von sich geben, darf er sich allmählich an die Taschen seiner Mit-
bürger heranwagen, um daraus zu stibitzen, was der Mühe wert
ist. Meistens geschieht das im Gedränge, woran es auf Märkten
und Messen ja niemals fehlt.
Auf Märkten und Messen wimmelt es von Bettlern. Sie suchen
das Mitleiden der Mitmenschen zu erzwingen, weshalb sie sich nicht
selten das Gesicht mit Messern zerreißen und mit dem rieselnden
Blute waschen. Will auch das nicht helfen, schmieren sie von dem
Blute auf die ausgelegten Eßwaren, die ihnen dann unter Fluch-
und Schmähworten überlassen werden.
Zum Theater erscheinen auch die halbwüchsigen Töchter hei-
ratslustiger Mütter. Denn ob die Tochter selber heiraten will, ist
Nebensache ; will's die Mutter, dann hat die Tochter Aussicht dazu,
sonst muß sie sich gedulden. Heiratsvermittler, männlichen und weib-
lichen Geschlechtes, machen deshalb geflissentlich die Runde und
dabei spinnt ihre Phantasie die Fäden künftiger Heiraten.
— 132 —
Zur Messe gehen heißt im Chinesischen -k'an miao* zur Pagode
pilgern. Ahnlieh wie die Jahresmessen daheim einen religiösen
Ursprung haben, sind auch die Jahrmärkte in China durch Wall-
fahrten zu einer berühmten Pagode entstanden oder durch »wunder-
bare Begebenheiten", die sich irgendwo zugetragen haben. Dali
der geschäftssinnige Chinese da auch künstliche .Wunder* erfinden
kann, ist selbstverständlich, zumal das Volk zum Aberglauben neigt
und das Frauengeschlecht vielfach allerhand Nöten hat, die ein
berühmter neugebackener Gott ihm abnehmen soll. Zu den Andäch-
tigen und Frommen gesellen sich allmählich die Geschäftigen und
in kurzem ist ein Wallfahrtsort fertig und ein Markt damit verbunden.
Übrigens sollen die ersten Anfänge der Märkte sehr weit ins
Altertum zurückgehen. Die Geschichtsbücher berichten, daß des
Reiches Urahne, der große Kaiser Schinnung, zuerst mit der Ein-
richtung von «Zusammenkünften* Cchui) begonnen hat, zum gegen-
seitigen Austausch von Waren und Lebensmitteln. Es ist dort auch
die Rede von -Brunnenmärkten* (tsche-tsing). Da die Brunnen
von jeher Gemeingut des Dorfes waren, also ein Platz, an dem
sich täglich viel Volk in der Frühe einfand, benutzte man dieselben
zugleich als Yersammlungsstätte zum Kaufen und Verkaufen.
Frauen sollen sich von den Märkten (im Gegensatze zu den
Messen) fernhalten und deshalb ist ihr Geschlecht auf denselben
auch nur spärlich vertreten. .Alte Weiber und Witwen gehen zum
Markte,* sagt ein chinesisches Sprüchwort, -weil sie zu Hause weder
Geld haben noch einen Mann.* Sie warten meistens bis gegen
Abend, ehe sie ihren Gang dorthin machen, während die Bauern
s^erne die Morgenstunden wählen und Kaufleute die Mittagszeit.
Die Verzollung von Waren leitet Mentius von einem habsüch-
tigen Menschen ab, der auf den Märkten herumspionierte, billige
Gegenstände aufkaufte, um sie später wieder teuer zu verkaufen.
(Mengtse IL 2.)
Der so regelreiche Konfuzius (zumal reich an Regeln, die sich
auf das Essen beziehen) verschmähte Fleisch, das man auf dem
Markte gekauft hatte, fürchtend, daß es nicht rein sei. Wenn es
zu damaliger Zeit schon war wie heutzutage, hat der ^alte Heilige"
nicht ganz Unrecht gehabt, denn vielfach ist es zweifelhafte Ware,
die dort zum Verkauf feilgeboten wird.
— 133 —
Reklame.
er Durchschnittschinese betreibt die Reklanle noch in ihrer
ursprünglichen Form: er bedient sich der Stimme. Tag
- für Tag: Jahraus jahrein zieht er mit seinem „Warenlager
BSkoS ÜDer die Straße und schreit von morgens früh bis abends
spät, um das anwohnende und vorübergehende Publikum zu ver-
anlassen, bei ihm zu kaufen. Oft hat er sich schon müde geschrieen,
ehe jemand ihm etwas zu verdienen gegeben. Da klingt es denn
bisweilen aus dem Tone seiner Stimme, daß er heute keinen guten
Tag gehabt; fast so etwas wie vom Echo des Langohren Klage:
„Die Natur schuf mich im Grimme, aber sie gab mir eine schöne
Stimme". Hat er aber gute Geschäfte gemacht, war heute für ihn
ein Glückstag, dann singt er ganz melodisch und wonnig ; es hört
sich fast an wie das Gezwitscher einer Frühlingsamsel. Zumal sind
es die Kinder, oft Knirpse von 8 — 10 Jahren, die mit ihrer metall-
hellen Stimme Kleinigkeiten anpreisen, womit die Eltern sie auf
die Straße geschickt haben. Mancher kauft denn schon etwas um
des Kleinen willen, der so rührend singt. Aber es fehlt auch nicht
an heiseren Kräh- Krächz- und Knarrstimmen, die allen Klang ver-
loren haben, und auch ihren Inhabern wird etwas abgekauft — weil
man des Geschreies überdrüssig ist.
Der chinesische Straßenverkäufer betreibt seine Reklame nicht
nur mit der Stimme, sondern in der Regel handhabt er auch ein
Instrument. Bald ist es eine alte Trommel, bald ein zerbrochener
Topf, bald eine ausrangierte Pfeife oder zerknicktes Blashorn, nicht
selten begnügt er sich mit einem Stück Eisen oder Blech, an das
er mit einem Nagel schlägt: Geräusch zu machen ist die Haupt-
sache, und er wünscht, daß es ein originelles sei. Jedermann soll
sofort heraushören, der Verkäufer so und so ist da.
Lithaßsäulen zum Ankleben von Anschlägen gibt es in China
nicht. Indes werden in den Städten mit Vorliebe die Tore der
Umfassungsmauern benutzt, um dort meterlange Bekanntmachungen
anzuheften. Darauf ist zu lesen wo ein neues Geschäft eröffnet
und daß man dort unerhört billig und vorteilhaft kaufen kann.
An die Stadttore läßt der Mandarin auch seine Bekanntmachungen
kleben, sowie die Verordnungen seiner Vorgesetzten oder des Kaisers,
falls sie das Volk betreffen. Reichen die Stadttore nicht aus, dann
bieten die Außenwände großer Häuser eine beliebte Anklebefläche
oder die Mauern von Pagoden. Angesehene Geschäfte lassen auch
rote Zettel drucken, auf denen die Vorzüglichkeit der verkauften
- 134 —
Waren gepriesen wird; die Zettel werden in die Kisten oder Schach-
teln zu den Waren gelegt. Anderen Gegenständen ist der Firmen-
name angepinselt oder eingebrannt, wie z.B. den Schreibpinseln,
Tuschen, Fächern, Porzelanwaren und dgl.
Kino eigene Art von Reklame betreiben die chinesischen Bonzen,
wenn Hie oine neue Pagode bauen wollen und das Geld dazu nicht
Hießen will. Ein namhafter Asket läßt sich einen mit Nägeln voll-
genpiokten Kasten zimmern; worin er nur mit knapper Not sitzen
kann. Will er aufstehen oder sonst sich bewegen; so kommt er mit
den Nägeln in Berührung; zwei Riesennägel aber stehen seinen
Augen gegenüber und warten auf den Augenblick, wenn der arme
Bonze vor Müdigkeit zu nicken beginnt. Ist an den Nägeln Blut zu
Heben, ho gelten sie als Wundernägel und sollen eine Heilkraft besitzen
gegen tausenderlei Gebrechen. Deshalb dauert es denn auch gar
nicht lange, bis alle verkauft sind. Sobald der letzte verschwunden,
ist der Asket erlöst; er hat gute Geschäfte gemacht, und die Pagode
kann erbaut werden. Auf solche Pagoden besitzen die Bonzen ein
Eigentumsrecht, während die anderen, welche durch Beiträge von
Heiden erbaut wurden, den betreffenden Dörfern gehören, welche
zum Bau beigetragen haben. Besagtes Kastensitzen heißt zuo-kuen-
mu-hua, d. h. im Sarge sitzen und um Almosen bitten. Für den einen
oder andern Bettler wird der Kasten in der Tat ein Sarg, weil er
vor der Erlösung darin stirbt. Dafür gilt er denn aber auch als
Heiliger und wird als solcher verehrt. Falls es der fromme Bettler
aber nicht in seinem Sarge aushalten sollte, kann er mit Erlaubnis
seines Vorgesetzten sich daraus befreien lassen; er hat dann aber
auch sofort Abschied zu nehmen vor der Brüderschaft der Mönche,
muß sich das Haar wachsen lassen und in die Welt zurückkehren.
Auch verkaufen die Bonzen Reklamezettel mit Gebetserhörun-
gen. Da steht z. B. auf einem : Ich N. N. bin eine gläubige Seele
(sin-nü) und da habe ich der geliebten Göttin im Tempel N. N.
seßhaft, 300 Bekanntmachungszettel versprochen, auf denen ich die
mir angediehene Hülfe kundtue. Ich lasse dieselbe an allen Straßen-
ecken aufkleben, und jeder der in Not ist, eile zur nämlichen Göttin.
Solche Zettel haben meistens eine in die Augen springende Form
oder Farbe oder werden in auffälliger Weise schief oder über
Kreuz aufgeklebt, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu
fesseln. Wer das Anheften aber besorgt, macht es sich in der Re-
gel bequem; er zieht es vor, an einer Ecke mehrere Dutzend
zusammenzuleimen; die Hauptsache ist ja, daß das Gelübde erfüllt
wird, d. h. daß alle 300 Zettel verklebt sind.
— 135 —
Weithin schallende Reklame macht der chinesische Schmied mit
seinem Stahlhammer. Unsere bezopften Cyklopen haben nirgends
eine bleibende Stätte und sie müssen sich selber ihre Kunden suchen.
Sind sie irgendwo in ein Dorf eingekehrt und flott an der Arbeit,
schwingt der Altmeister seinen Stahlhammer und verarbeitet damit
das glühende Eisen. Dieser Hammer ist viel kleiner als die zwei andern,
welche Geselle und Lehrjunge handhaben; aber seinen Klang hört
man meistens schon im nächsten Dorfe. Dann wissen die Leute dort
auch, daß der Schmied seine Werkstätte aufgeschlagen hat und sie
bringen ihm Arbeit oder laden ihn ein in ihr Dorf zu kommen.
Einer Art blutiger Reklame bedienen sich chinesische Wund-
ärzte die Wundermehl verkaufen für Wunden. Um das Publikum
zu überzeugen, reißt sich der Verkäufer mit einem scharfen Messer
die Waden los, streut vom besagten Mehl in die Wunde, nimmt
einen großen Fächer zur Hand und fächelt so lange bis die Wunde
„vernarbt" ist; und das ist in wenigen Augenblicken geschehen,
wie sich die Menge augenscheinlich überzeugen kann.
Schrecken erregende Reklame betreiben die chinesischen Man-
darine. Die Eingänge zu ihren Tribunalen sind meistens mit aller-
hand Mord- und Quälinstrumenten verziert, und auf der Hauptein-
gangspforte erblickt man zwei mächtige Gestalten mit Glotzaugen
und gewaltigen Schwertern in der Hand. Der ganze Apparat soll
den Untertanen die nötige Achtung einflößen gegen ihre Obrigkeit
und sie daran erinnern, daß der Herr über Leben und Tod hier
seine Behausung hat. Haben die Mandarine einen armen Sünder
um Kopfeslänge kürzer gemacht, muß der Kopf als Warnungszeichen
am Orte der Tat oder vor dem Stadttore an einen Baum aufgehängt
werden, damit er stumm die unerbittliche Gerechtigkeit verkünde,
die ihn, — vielleicht den Unschuldigen — getroffen hat. Als ich
vor einigen Tagen in die Bezirksstadt Kuentnch'eng ritt, sah ich vor
dem östlichen Stadttore an einer Reihe Weiden 30 Köpfe baumeln :
ein schauerlicher Anblick. Es waren die Häupter einer Räuber-
schar, die es im vorigen Herbste gewagt hatte, am hellen Tage
in die Stadt zu dringen und einen reichen Mann auszuplündern.
Auch hatten die Räuber dabei die Waffen eines Militärmandarins
erobert, der sich bei Zeiten aus dem Staube gemacht hatte.
Wenn die gewöhnliche Reklame erfolglos bleibt, weiß der
findige Chinese andere Mittel auszuspintisieren, um seine Ware an
den Mann zu bringen. Hier ein Beispiel. Schreinermeister Laopa war
tüchtig in seinem Geschäft und verstand sich darauf, seine Kunden
zu befriedigen. Vor allem aber war er ein Meister darin, selbige
— 136 —
über die Ohren zu hauen, und dabei machte er die ehrsamste Miene
von der Welt. Leider brach eine Hungersnot aus; die Bauern hatten
wenig geerntet und darum auch wenig Geld. Anstatt sich Möbel
machen zu lassen, verkauften sie noch die unnötigen, und Meister
Lopa stand deshalb mit seinen Gesellen arbeitslos und brotlos da
und mußte auf Rat sinnen. Seinen noch vorrätigen Holzbestand
gebrauchte er, um Spinnräder daraus zu machen, und als er damit
fertig war, fand er zu seiner Freude, daß es mehr geworden waren,
als er anfangs zu bekommen gehofft hatte. Zweihundert Räder
standen in seiner Werkstatt fix und fertig aufgestapelt, aber jetzt
hieß es dieselben an den Mann zu bringen. Doch auch dazu fand
Meister Lopa ein Mittel. Er schickte seine Gesellen und Söhne,
vor denen jeder ein Spinnrad trug, mit den nötigen Unterweisungen
in die Stadt. Die Gesellen kehrten vorläufig in eine Herberge ein.
Einer der Söhne aber ging zu einem großen Allerleigeschäfte und
hielt Nachfrage nach Spinnrädern. „ Können damit leider nicht die-
nen," war die Antwort des Kaufmanns. Nun mußten auch die
andern Söhne in gemessenen Zwischenräumen bei dem Geschäfte
Anfrage um Spinnräder halten. Eigentümlich, so hatte schon der
Ladenbesitzer gedacht, daß die Leute jetzt alle Spinnräder kaufen
wollen. Das müssen wohl die schlechten Zeiten tun; die Weiber
wollen sich mit Spinnen etwas verdienen. Gerade, als er so dachte,
sah er jemanden über die Straße gehen, auf dem Rücken zwei
Spinnräder tragend. Schnell rief er ihn herein und erkundigte sich,
ob er die Räder verkaufen wolle. „Freilich,* antwortete jener,
„zahlt mir einen Tiao dafür, so überlasse ich euch beide.* „Ein
Tiao ist zu viel, ich gebe euch 500 Käsch, das ist mehr wie genug.*
„Nun gut, gebt mir das Geld, dann bekommt ihr die Ware." Es
dauerte gar nicht lange, da kam wieder jemand zum Laden herein,
um ein Spinnrad zu kaufen. „Da kann ich dienen," antwortete
der Besitzer. „Habe hier zwei Räder, sucht eines aus; jedes kostet
einen Tiao." „Einen Tiao kann ich dafür nicht zahlen; ich gebe
800 Käsch, mehr aber keinen." Der Kauf war abgeschlossen und
jener ging mit seinem Rade davon. Bald darauf kam wieder je-
mand, ein Spinnrad zu kaufen. Dieser aber mußte einen Tiao
zahlen, dann es war das letzte. Ein herrliches Geschäft, dachte der
Kaufmann ; habe ich da heute an zwei Spinnrädern, die gewöhnlich
nur das Stück 200 Käsch kosten, fast einen Tiao verdient. Ich
muß mich mit einem Schreiner in Verbindung setzen und mir eine
größere Anzahl Spinnräder bestellen ; damit ist ja ein vortrefflicher
Gewinn zu erzielen. Die Bestellung wurde bald abgeschlossen auf
— 137 —
200 Stück und zwar bei unserm Meister Laopa. Er bekam für jedes
Rad 400 Käsch ausbezahlt und hatte mehr als das Doppelte der
Herstellungskosten daran verdient. Der kluge Kaufmann aber war
auf den Leim gegangen. Nach Jahr und Tag waren noch die Spinn-
räder in seinem Hause aufgestapelt, denn es fand sich kein Abneh-
mer. Und als er schließlich damit auf den Jahrmarkt zog, mußte
er sie noch zur Hälfte verschenken.
Der chinesische Wagen und sein Lenker.
Jie viele Entrüstungsrufe sind nicht schon von Ausländern,
y^ die in China längere Reisen auf einem Karren gemacht
tt& haben, angestimmt worden über diesen „ Marterkasten ",
tfäxJSj'ffS diese „ Hundshütte ", „dies noch übrig gebliebene Folter-
stück aus der Inquisitionszeit", über so eine „ Buttermaschine u .
Letztere Bezeichnung stammt allerdings von mir selber und daß sie
nicht unzutreffend ist, wird jeder zugeben, der schon jemals in so
einem Ding reiste. Er wird mit mir dem Schöpfer Dank wissen,
daß es in China keine Milch zu trinken gibt. Wer damit seinen
Magen beschwert und dann in einer Karosse ä la Chinoise eine
Fahrt antreten müßte, dürfte bei der nächsten Mahlzeit ruhig auf
die Butter verzichten.
Dennoch geschieht dem Möbel viel Unrecht, wenn man so
sehr darauf schimpft, denn es ist ehrwürdig durch sein Alter. In
jener Urzeit, wo in unseren deutschen Gauen daheim die alten
Germanen noch im Dickicht der Wälder hausten und von einem
ähnlichen Beförderungsmittel noch nicht einmal eine Ahnung besaßen,
hatte sich der chinesische Wagen schon derart ausgereist, daß in
all der Zeit keine merklichen Änderungen oder Verbesserungen
mehr daran nötig waren. Jetzt freilich würde er sich tief in den
Boden schämen, wollte man ihn einem neumodischen Automobil
gegenüberstellen, das wie auf Geisterflügeln nur so dahinfliegt.
Doch sei guten Mut's, alter Kamerad, tröste ich ihn ; eines hast du
und behältst du für dich: lao t'e t'e zuo niu tsch'e, uin tanti chin:
„Sitzt die Matrone auf einem Ochsenwagen, ist sie gegen jeden
Unfall gefeit" (chinesisches Sprichwort). Und schließlich ist Sicher-
heit doch noch besser als Schnelligkeit, denn ins Jenseits können
wir noch immer früh genug befördert werden.
— 138 —
Ich habe mir die Mühe gegeben, in den kanonischen, klassi-
schen und anderen chinesischen Büchern den Wagenspuren nacli-
zustöbern und habe da mancherlei entdeckt, was selbst einen
europäischen Automobilisten noch interessieren dürfte.
Zur Zeit des ersten Kaisers, den die chinesische Geschichte
kennt, Huang-ti, soll bereits der Karren in Gebrauch gewesen sein.
Als Gespann wurden anfangs nur Ochsen gebraucht. Erst während
der Regierung des Kaisers Yü (2200 v. Chr.) kamen auch Pferde
in Benutzung. Als die Bauern das erste Mal einen Karren zu
sehen bekamen, sollen sie aufgejubelt haben, indem ihnen die
Nützlichkeit eines solchen Dinges gleich einleuchtend war.
Die ursprüngliche Gestalt des Karrens war viereckig. Sie sollte
die Erde vorstellen, welche nach der chinesischen Anschauungsweise
ein Viereck ist. Das darüber gepanntc Dach hatte die Form eines
Gewölbes und sollte den Himmel bedeuten. Die rollenden Räder
erinnerten an den Mond und die dreißig Speichen in jedem Rade
versinnbildeten die dreißig Tage im Monate (Tschouli IH, 5). Man
gebrauchte Wagen, die mit Rhinozerosfellen, Fischhäuten oder Matten
überdeckt waren, je nach der Würde dessen, der darin fuhr.
Schon im grauen Altertum unterschied man eine ganze Reihe
verschiedener Gefährte. Es gab fünf, welche nur zum alleinigen
Gebrauche des Kaisers dienten, desgleichen fünf für die Kaiserin
und ferner fünf für Beamten und das gemeine Volk. Unter den
kaiserlichen Wagen gab es goldene, mit Edelsteinen ausgelegte,
elfenbeinene, lederne und hölzerne. Die ledernen (d. h. mit Leder
überzogenen) dienten zu Kriegszwecken. Die Kaiserin benutzte
einen anderen Wagen, je nachdem sie beim Herrscher vorsprach,
Maulbeerblätter pflücken ging, den Göttern einen Besuch abstattete,
anderswo eine Visite machte oder sich von Eunuchen spazieren
fahren ließ. Die Wagen der Beamten hatten verschiedene Aus-
staffierung, welche sich nach den Würden der Insassen richtete.
Die Sitze waren mit Fellen oder Matten ausgepolstert; als Anstrich
wurde Firniß benutzt, bald schwarzer, brauner oder roter. Die
Kriegswagen waren mit Waffen ausgespickt. Als Abzeichen der
kaiserlichen Wagen thronte über denselben ein ausgepannter Schirm
und eine mächtige Fahne diente zur besonderen Zierde.
Besondere Erwähnung verdient noch der Leichenwagen und
das Gefährt mit der Magnetnadel. Ersterer war mit einer Art Thron-
himmel überdeckt, welcher viele Aehnlichkeit hatte mit der Über-
dachung unserer Leichenwagen. An den Seiten wurden sechs oder
acht fächerartige Schilder befestigt, mit verschiedenen Emblemen
— 139 —
verziert, der Würde des Verstorbenen entsprechend. Diese Wagen
durften nur durch Menschenkraft voranbewegt werden. Vorauf ging
ein Herold mit einem Fahnenwedel, durch dessen Bewegung er den
Wagenziehern die Beschaffenheit des Weges anzeigte, damit sich
kein Unfall ereigne.
Die den Weg zeigenden Wagen (tschi-naen-tsch'ä) sollen in
ihrer äußeren Form mit dem „Trommel wagen u (ku tsch'ä) Ähnlich-
keit gehabt haben. Eine hölzerne Statue auf demselben zeigte mit
dem Finger ständig nach Süden. Kompaß- und Trommelwagen
dienten besonders zu Kriegszwecken und bewegten sich dicht neben-
einander an der Spitze des Zuges. Der eine war das Auge der
Bewegung, der andere das Ohr. Die Kolonne marschierte nämlich
nach bestimmten Schlägen des Tambours, dem seinerseits der Kom-
paßwagen als Mentor diente.
Im Buche der Lieder wird die Tüchtigkeit der Kriegswagen
und der Rosse besungen:
Fest zeigten sich die Kriegswagen,
Man sah sie vorn wie hinten ragen (im Gleichgewicht).
Die Hengstgespanne waren stark,
Stark und geschult für alle Lagen.
Ebendaselbst ist auch die Rede von einem Fürsten Tschou Chi
(etwa 1000 J. v. Chr.), der tausend Wagen in den Krieg führte, auf
denen Speere und Bogen steckten, geziert mit roten Gürteln und
grünen Schnüren.
Im Buche der Riten (Li-ki) fand ich bereits unterschieden
zwischen Ein- und Vierspännern. Auf letzterem Gefährte mußten
die „Insassen" stehen; dasselbe scheint besonders zu Repräsenta-'
tionszwecken gebraucht worden zu sein. Der Einspänner heißt Ruhe-
wagen (ngan-tsch'ä) ; nur Siebenzigjährige durften ihn benutzen und
es sich bequem darin machen.
Zu Zeiten des Konfuzius waren schon Galawagen im Gebrauch,
denn der große Lehrer ermahnt seinen getreuen Schüler Jen-Huen, er
solle einen Wagen nach dem Muster des Tju benutzen, diese seine
einfach aber dauerhaft. (Luin-jü VIII, 5. 11.) Auch wird in dem
Luin-jü (V, 10. 16) erzählt, wie sich Konfuzius beim Hinauf- steigen
und Sitzen auf dem Wagen benommen habe. „In gerader Haltung
ergriff er das Wagenseil ; beim Sitzen schaute er nicht nach hinten,
sprach auch nicht vorlaut, noch zeigte er irgendwo hin mit dem
Finger. u Der alteMentius hingegen scheint seinerzeit recht vornehm
aufgetreten zu sein. Denn sein Schüler erlaubt sich die Frage, ob es
schicklich sei, mit mehr als zehn Wagen und hundert Mann Gefolge
bei Reichsbeamten vorzusprechen und auf deren Kosten zu leben.
— 140. —
Im Buche der Lieder ist meistens von Hengstgespannen die
Rede, deren Tiere zu vier angekoppelt waren; die zwei mittleren
liefen ein wenig vornauf, „wie im Kranichflug". Der Reichtum
eines Beamten wurde nach der Zahl seiner Wagen geschätzt. Vom
Beherrscher im Staate Tsin (gegen 900 n. Chr.) singt der Dichter:
Er hat viele Wagen, die rollen heran,
Hat manch' weißköpfiges Rossegespann.
Und nicht früher sieht man den hohen Herrn,
Es künd' ihn denn ein Verschnittener an.
Die Räder eines Wagens, der richtig gezimmert ist, sollen ein
Geräusch machen wie „ Trommelschall und Donnerrollen u . Heut-
zutage noch untersucht der Chinese einen neuen Wagen vor allem
auf diese Eigenschaft. „Die Achse ist nach einem vom Kaiser vor-
geschriebenen Modell angefertigt u y damit die Wagenspuren im gan-
zen Reiche die gleichen sind. Mit Bezug darauf sagt ein Sprüch-
wort: „Daheim wird ein neuer Wagen gemacht, draußen bewegt
er sich in den alten Spuren. u
Ein Mann, der nicht zuverlässig ist, wird mit einem Karren
ohne Deichsel verglichen, vor den sich weder Ochs noch Pferd span-
nen läßt. (Luinjü 1. 1. 22.) Fünf Wagen voll Bücher muß einer
studiert haben, will er Anspruch machen auf den Ruf eines Gelehrten.
Das nämliche Zeichen, welches Fahren oder Fuhrmann bedeutet (jü),
hat auch denn Sinn von regieren, den „Staatskarren führen". Die
Minister des Reiches werden mit Wagenrungen verglichen, welche
den Zweck haben, die Speichen zu schonen und verhüten sollen,
. daß der Wagen im Moraste umfalle. Grundlose Wege bedeuten die
Schwierigkeiten einer guten Regierung. Aus der Brust eines, der
des Staatsdienstes überdrüssig war, singt der Dichter:
Schiebe nicht den großen Wagen
"Wirst vom Staub verhüllt nur werden.
Denke nicht der hundert Plagen
Machst dir selber nur Beschwerden. (II. 6. 2.)
Besonders interessant sind allerhand Hegeln und Vorschriften,
welche in einem klassischen Buche (Li-ki, von Tschou-kung im Jahre
1122 v. Chr. verfaßt) dem Fuhrmann und seinen Wageninsassen
gegeben werden. Es heißt darin: „Wenn des Regenten Wagen
angespannt wird, soll 3ich der Fuhrmann mit der Peitsche in der
Hand den Pferden gegenüberstellen. Sobald alles in Ordnung ist,
gibt er ein Zeichen, schüttelt die Kleider, ergreift die Aufsteigeschnur
und kniet auf den Sitz nieder. Vorläufig fährt er nur fünf Schritte
weit, gleichsam zur Probe. Dann besteigt der Regent den Wagen,
indem der Fuhrmann mit der Hechten ihm die Schnur darreicht,
— 141 —
während die Linke zu den Zügeln greift. Die Bedienung begibt sich
dann ehrfurchtsvoll auf die Seite, während der Wagen davonrollt
bis zum großen Tore. Dort berührt der Fürst die Hand des Fuhr-
mannes und gibt dem Diener ein Zeichen. Dieser hat auf dem
Wege, wenn die Fahrt durch Dörfer geht, auszusteigen, desgleichen
wenn's über Flüsse oder Kanäle geht . . . Ein Gast soll nicht ohne
weiteres durch das Eingangstor fahren, eine Frau darf im Wagen
nicht aufrecht stehen. Hunde und Pferde soll man nicht mit ins
Gastzimmer nehmen. Der Fürst soll unterwegs alte Leute grüßen,
ebenso wenn er durch ein Dorf fährt. Begegnet ihm ein Würden-
träger, hat er auszusteigen; fährt er durch andere Reiche, soll es
mit Bedacht geschehen. . . . Fährt der Fuhrmann eine Frau, soll er
die rechteHand in den Aermel ziehen (damit sie die Insassin nicht
zu sehen bekommt!) und nur mit der Linken Zügel und Peitsche
halten. Der Regent soll beim Fahren nicht auffällig husten, auf
niemanden mit dem Finger zeigen; er soll seine Augen fünf Räder-
längen voraus auf den Boden heften, beim Begrüßen aber hat er
auf der Pferde Schweif zu sehen (wegen der Verbeugung), auch
wende er sich nur höchstens bis zur Wagenachse um (um nicht neu-
gierig zu scheinen). . . . Jeder Staatsbeamte hat den kaiserlichen
Pferden ein Kompliment zu machen. Wer das Heu derselben mit
Füßen tritt, wird mit dem Tode bestraft; desgleichen wer das Alter
dieser Tiere verrät (denn falls sie nicht mehr jung genug wären,
bedeute das eine Schmach für den Kaiser).
Es erübrigt noch, die Persönlichkeit des Fuhrmannes in Augen-
schein zu nehmen. Sein Geschäft wurde von jeher als Kunst
betrachtet, freilich als keine freie, denn auch er hat nach alther-
gebrachten Regeln sein Gespann zu lenken. Zudem ist Fuhrmann
sein ein Ehrenamt und ein Zeichen von Tüchtigkeit. „Befragt über
den Sohn des Herzogs sollst du antworten, er kann bereits fahren,
wenn er schon erwachsen ist. Ist er aber noch minderjährig, sollst
du sagen, er kann noch nicht den Karren führen. u (Li-ki.)
Als ein Fuhrmannsideal gilt Manlian, von dem Mentius in seinem
Buche erzählt. Er verstand es dermaßen, seinen Wagen zu regie-
ren, daß ein schlechter Schütze, auf demselben sitzend, dennoch
das Wild erlegte. (Mung-tse III, 2.) Einer, der noch nicht den
Wagen fahren kann, gilt als minderjährig, d. h. er ist noch keine
zwanzig Jahre alt.
Wer das erste Mal den Namen des berühmten Konfuzius Schü-
lers Mentius hört, sollte ihn schier für einen FuhrmaDn halten.
Mentius, „die Wagenachse, der Gelehrte auf dem Wagenkasten u
— 142 —
(Mang-k'o, tse-jü) heißt er. Die Literaten behaupten, es habe das
darin seinen Grund, weil das Schicksal des Weisen viele Aehnlichkeit
mit einer Wagenachse gehabt, die vom Rade getrieben wird und
nicht minder mit dem Wagenkasten, der über holperige Wege gefuhrt
bald hier bald dort gerüttelt und geschüttelt wird.
In bestimmten Zeitabschnitten, meistens wenn ein Weg von
dreißig Li zurückgelegt ist, muß der Wagen geschmiert werden.
Das ist ein Geschäft, das niemals versäumt werden darf: „Und wenn
du des Weges in Eile fährst, hast du doch Zeit zum Wagenschmie-
ren," sang schon vor dreitausend Jahren der chinesische Dichter.
Zum Schluß noch einen flüchtigen Blick auf den Fuhrmann
unserer Tage. Jeder Chinareisende hat mit diesem eigenartigen
Patron schon Bekanntschaft gemacht. Er trägt nicht seinen ganzen
Reichtum bei sich, läßt sich aber von ihm fahren. Wagen und
Tiere sind die Erwerbsquelle, aus welcher für ihn und die Seinen
der Lebensunterhalt fließt. Sitzt er da auf seinem Wagen, die
Peitsche in der Hand, so fühlt er sich wie ein König auf seinem
Throne, wenngleich die Untertanen nur zwei schäbige Maulesel
sind. Aber auch der Wageninsasse kann nicht immer nach Belieben
tun, sondern muß sich in vielen Fällen nach des Fuhrmanns Regeln
richten. Dahin gehört z. B. die Einkehr in ein Wirtshaus. Wann
das geschehen soll, bestimmt der Fuhrmann, desgleichen wann
abends in die Herberge einzukehren ist und wann am Morgen
abgefahren wird. Mancher Ausländer hat darob mit seinem Chine-
sen schon allerhand Streithändel ausgefochten, bis schließlich der
Chinese nach dem Grundsatz verfuhr, der Klügere gibt nach. Und
daß er diesmal wirklich klüger gewesen, gesteht der Europäer nach-
her selber ein : denn man hat lange in der Nacht umherirren müssen,
um einen Unterschlupf zu finden; und als man ihn gefunden, war
weder Futter zu haben für die Tiere noch Lebensmittel für die
Reisenden.
Der Kompaß.
jp „Nadel* bezeichnet der Chinese seinen Kompaß auch,
über nicht als Magnetnadel, sondern als die nach Süden
zeigende Nadel — 3§£ #§ ff t™Q naen tschin. Ehe die-
selbe als Wegweiser auf den Schiffen gebraucht wurde,
stellte man sie in den Dienst der Fuhrleute, wenn selbige weite
— 143 —
Wege zu machen hatten. Jeder, der längere Zeit in China gelebt,
wird schon des öftern von seinem Fuhrmann oder Begleiter auf
Reisen gehört haben, die Himmelsrichtung sei ihm verloren gegan-
gen: „tiao-lio chiang." Um wieder auf die rechte Fährte zu
kommen, können ihm weder Sonne noch Mond nützen; er muß
meistens seinen „ Dusel u erst verschlafen und wenn er am andern
Morgen aufsteht, vermag er sich wieder zu orientieren. In jenen
Zeiten nun, wo es noch keine Heerstraßen gab, Städte und Dörfer
noch spärlich zerstreut waren, mußte sich der Fuhrmann auf die
Himmelsrichtung verlassen um sein Ziel zu erreichen. Der Kompaß
war ihm der beste Wegweiser und bei großen Karawanenzügen
war der Anführerwagen immer mit einem solchen ausgestattet.
Jemanden zum Vorbilde dienen heißt deshalb heutzutage noch:
der Vorderwagen sei für den Hinterwagen ein Spiegel (]jjjf 3§f J$
«WS)-
Was den Ursprung des Kompasses betrifft, so bezeichnet die
Legende den Kaiser f|f ^ Huang-ti als den Erfinder. Er soll
einstens, als er in einer Rebellion seinem Gegner jg "jfc Tsche-ju
eine Schlacht lieferte, in sehr dichten Nebel gehüllt worden sein.
Selbiger war durch magische Künste herbeigeführt worden und
das Heer des Kaisers sollte, dadurch in Unordnung gebracht, den
rechten Weg verlieren und so dem Feinde in die Hände fallen.
Huang-ti stellte an die Spitze seines Heeres den Kompaß-Wagen
und entging dadurch der drohenden Gefahr.
Nach anderer Überlieferung wird ein gewisser Herzog Tschou
aus dem Zeitalter der Tschou-Dynastie (111 — 1078 J?SJJÄ3:) als
Erfinder des Kompasses bezeichnet. Tributäre aus dem Süden
Chinas (Annam), welche dem Kaiser weiße Fasanen als Geschenke
gebracht hatten, konnten den Rückweg nicht finden. Der Herzog
beorderte fünf Kompaß- Wagen, welche die Fremdlinge in der
Frist von einem Jahre zurück in ihre Heimat brachten. Während
der Wirren zur Zeit der Han-Dynastie soll indeß das Geheimnis
der nach Süden zeigenden Wagen abhanden gekommen sein, bis
ein Gelehrter, namens JB§ §fj •${ Ma-tjüin-tschuo, unter der Regierung
des Kaisers $j ^ Ming-ti (56 — 76) dasselbe wieder entdeckte und
dem chinesischen Kompaß die heutige Form gab.
Heutzutage benötigen die Fuhrleute keiner Magnetnadel mehr.
Haben sie die Richtung verloren, so sind überall genu^g dienst-
bare Geister zu finden, deren „ Glanz sie leihen u — fil :Jfc z * e "
kuang — indem sie nach dem rechten Wege fragen. Hier und
da findet man in Sänften einen Kompaß angebracht, der aber mehr
— 144 —
als Zierrat dient. Die Sänftenträger sind wegeskundig genuW;
im Zweifel aber bietet sich allerorts Gelegenheit zu fragen.
Auf Schiffen bediente man sich anfangs nur des .Wasser-
Kompasses", bei dem die Nadel in einer Flüssigkeit schwimmt;
die auf einer Spitze vibrierende ^trockene Nadel* soll erst später
von Seeräubern in Gebrauch genommen worden sein.
Ungleich mehr als für die Schiffahrt wird heutigen Tages der
Kompaß in China als Wegweiser zum Glück benutzt. Fast jedes
Dorf hat einen Geomanten, der mit Hülfe seiner „Süd-Nadel* ganz
genau zu sagen weiß, in welchem Erdwinkel das Glück verborgen
liegt. Um seiner habhaft zu werden, brauchen nur die Häuser
recht gebaut und die Toten am rechten Fleck begraben zu werden.
Begreiflicherweise wird da kaum eine Hütte errichtet, es sei denn,
man habe sich zuvor vom Erdwahrsager eine gute Stelle bezeichnen
lassen. Desgleichen muß er auch für den Toten das letzte Ruhe-
plätzchen ausfindig machen, falls derselbe die Lebenden nicht
chicanieren soll.
JBf ü Luo-tjing ..Siebspiegel* nennt der Geomant sein Instru-
ment, das die runde Form eines Siebes hat. In der Mitte desselben
ist eine kleine Höhlung von einem Glas überdeckt, in welcher sich
eine winzige Magnetnadel bewegt. Die Scheibe ist in 364 Grade
eingeteilt, entprechend den Tagen des Jahres. Der Magnet wird
im Gehirn einer Fischart (^ jjg JS huo t'ou jü, Feuerkopffisch)
„genährt*. Besagter Fisch hat die Eigentümlichkeit sich im Wasser
stetig nach Süden zu richten, mag er nun schwimmen oder sich
ruhig verhalten. Diese Eigenschaft wird auch dem Eisen mitgeteilt,
falls man es längere Zeit in die Gehirne einiger Feuerkopffische
niederlegt. So behaupten die Chinesen — was Wahres daran ist,
vermag ich nicht zu sagen, da ich selber ein derartiges Experiment
noch nicht angestellt habe. Es verhält sich auch damit wohl ähnlich
wie mit der Behauptung S "F ffi »H ts'an tse tsch'u jü: „Aus den
Eiern des Seidenspinners entwickeln sich Goldfische. u Diese Über-
zeugung ist dermaßen landläufig und festgewurzelt, daß der Chinese
selbst dann noch daran glaubt, wann er den Versuch schon öfter
vergeblich angestellt hat.
— 145 —
Die Blinden in China.
jm dritten Tage im dritten Monat des chinesischen Jahres
wurde dieses Jahr hier in der Nähe von Puoly ein Jahr-
markt abgehalten, und ich wette, der freundliche Leser
wird nicht erraten, wem derselbe galt. Da wurden keine
Kälber und Kühe feilgeboten, auch fanden sich keine Kaufleute ein,
um Geschäfte zu machen, oder ein schaulustiges Publikum, um sich
zu amüsieren, sondern es war ein Markt, zu dem nur die Herren-
welt freien Zutritt hatte. Diese „ Herren u heißen im Chinesischen
sien schöng (Frühgeborene), wer ihnen aber diesen ihnen von
Rechtswegen zukommenden Titel vorenthalten will, n ennt sie einfach
chia-tse = Blinde. Also, es war ein Markt von Blinden, und zu
Hunderten zählten die „ Herren ", die sich dort eingefunden. Bekannt-
lich bilden die Blinden in China eine Gilde für sich, und alljährlich
feiern sie irgendwo in einem großen Dorfe der einzelnen Provinzen
das Fest ihrer Zusammenkunft, chia-tse chui „Blindenmarkt" genannt.
Jeder Blinde muß eine bestimmte Summe Geldes mitbringen, welche
an den Kassenführer abgeliefert wird. Davon werden die Auslagen
bestritten, welche der Pesttrubel verursacht. Jeder neue Ankömm-
ling hat sich dem Oberhaupte vorzustellen, dem Blinden-Mandariu,
der aber gerade so gut nicht sehen kann, wie seine Untertanen.
Hat sich irgendeiner im Laufe des Jahres nicht brav aufgeführt, so
werden bei dieser Gelegenheit Strafen diktiert und ausgeteilt, die
für gewöhnlich in Bambusprügeln bestehen. Freilich sind die prü-
gelnden Schergen auch blind, aber sie sollen trotzdem den rechten
Fleck meisterhaft zu treffen wissen. Das Oberhaupt der Blinden
richtet dann von einer Empore herunter Worte der Ermahnung
an seine Untergebenen: sie sollen niemand belästigen, sie sollen
fleißig ihr Geschäft betreiben, sie sollen ihre Kunst nicht zu billig
ausüben, u. s. w.
Worin das Geschäft der Blinden besteht, werden wir gleich
sehen ; die Kunst betrifft das Wahrsagen, und dafür wird alljährlich
eine bestimmte Taxe festgesetzt, an die sich jeder halten muß, denn
die „Kunst" darf nicht betteln gehen. Auch wird der nächstjährige
Versammlungsort bestimmt, sowie das Datum festgesetzt, wann sich
jeder einzufinden hat.
Ist der geschäftliche Teil der Versammlung erledigt, so beginnt
der gemütliche. Die Lösung der Magenfrage ist dabei die Haupt-
sache, und wenn das in befriedigender Weise geschehen ist, fängt
man an lustig zu werden. Da beim Essen auch Schnaps verabreicht
B. Pieper, „Neue Bündel". 10
— 146 —
wird, ist das nicht mehr allzuschwer. Jeder gibt seine Kunst-
stücke zum besten, und dann finden sich auch draußen genug
schaulustige Sehende ein, umsomehr, da kein Eintrittsgeld erhoben
wird, denn die Straße und der offene Marktplatz bilden die Vor-
stellungsräume. Allerdings ist auch ein Theater aufgeschlagen, auf
dem nur „gelernte Künstler* Zutritt haben. Und auch dem reli-
giösen Gefühle wird Rechnung getragen, da ein Altar errichtet ist,
auf dem die drei Hauptpatrone der Blinden stehen und von ihrem
Schutzbefohlenen mit Kniefall und Weihrauch verehrt werden. Der
Hauptgott heißt Tung-fan-schuo, und seine zwei Gefährten w r aren
Schüler von ihm, sind also Gottheiten niederen Ranges. Tung-fan-
schuo ist ein verkappter Heiliger gewesen, der ehemals als gemeiner
Bonze auf den Bettel ging. In jener Zeit war es um die Existenz
der Blinden noch traurig bestellt, denn das Recht dazu war ihnen
vom Kaiser abgesprochen worden, und so mußten denn alle lebend
begraben werden. Eine Mutter nun hatte ein Knäblein geboren, das
erste nach sechs Töchtern, die ihm vorangingen, aber der Kleine war
blind. Trotzdem war er der Mutter Liebling, die das kaiserliche
Verbot mißachtend, ihr Kind versteckte und aufzog. Da kommt eines
Tages Tung-fan-schuo heran und bittet um ein Almosen. Die Frau
gibt ihm Brot, das er jedoch nicht nimmt. „Ich suche blinde Kinder
auf", sagt er. Die Mutter erschrickt bei den Worten und glaubt, sie
sei verraten. Doch der Bonze tröstet sie. „Sei nur zufrieden ", er-
mahnt er, „von nun an wird kein blindes Kind mehr sterben. Gib
mir deinen Sohn zur Erziehung ; ich werde ihm die Geheimnisse der
Zukunft entschleiern lehren; dann kann er später als Prophet sein
Brot verdienen, und niemand wird mehr sagen, die Blinden seien auf
der Welt unnütz. u
So geschah es denn, und der kleine Bünde wurde ein geleh-
riger Schüler seines Meisters. Der erste, an dem er seine Kunst
erprobte, war der Kaiser selbst. Dieser, erstaunt über das Wahr-
sagetalent des Blinden, gab Befehl, fortan keinen Blinden mehr zu
töten. Seit dieser Zeit wird Tung-fan-schuo als Schutzpatron und
Retter von allen Blinden verehrt und angerufen.
Und nun ist es für die des Augenlichtes entbehrenden. „Herren*
nicht mehr sonderlich schwer, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Bei uns heißt es: „Blinder Mann, anner Mann", was in China nicht
ganz zutrifft. Man sieht die Blinden meistens reinlich gekleidet,
und sie verursachen bei weitem nicht den abstoßenden Eindruck,
den die ungewaschenen, zerlumpten Bettler machen. Wohl aber
sind sie im allgemeinen sehr gefürchtet, und anstatt ihnen etwas
— 147 —
in den Weg zu legen, geht der zu allerlei losen Streichen aufge-
legte chinesische Bube lieber in einem weiten Bogen um sie herum.
Wer mit ihnen anbindet, zieht in der Regel den Kürzeren. „ Einen
Bettler magst du als Freund erkiesen", sagt ein chinesisches Sprich-
wort, „den Blinden aber halte aus deiner Nähe." Wer einen dieser
„Herren" beleidigt hat, wird tagelang verflucht, und solches haben
die Chinesen mehr auf dem Strich, als eine Tracht Prügel. Recht
fatal aber wird die Sache erst, wenn ein Blinder seinem Beleidiger
mit einer Eskorte von 50 bis 100 Mann „auf die Bude steigt" —
dann muß er, ob schuldig oder unschuldig, schwere Sühne leisten.
Sollte aber ein Bube, der den Blinden geneckt, diesem in die Finger
geraten, dann kann er noch von Glück sagen, wenn er nur mit
gebläuter Haut, und mit geschundenen Gliedern davonkommt. Mit
Vorliebe gebraucht so ein Wüterich seine Zähne als Waffen, oder
dem armen Buben werden die Glieder verrenkt. „Hat ein Blinder
den Esel ergriffen", sagt der Volksmund, „so läßt er sich lieber zu
Tode schleppen, als daß er den Strick los ließe."
Die ganze Sippe der Blinden gilt als unbeständig, wetterwen-
disch, hinterlistig und verschlagen, und für empfangene Wohltaten
zeigen sie wenig Dankbarkeit. Während ein Bettler für geringe
Liebesbeweise für seinen Wohltäter durch Feuer und Wasser läuft,
spielt sich der „ große Bruder" gern als den Herrn auf und verlangt
alle möglichen Rücksichten. Überhaupt haben auch in China alle
die sogenannten „Gottgezeichneten" ihre Untugenden : „Der Kahl-
kopf ist ein Schwätzer; der Blinde geht dreist drauf los ; der Einäu-
gige hat einen störrlischen Charakter."
Jeder Chinese betrachtet es als Lebensberuf, zu heiraten, und
deshalb sieht sich auch der Blinde nach einer Lebensgefährtin um.
Dafür hat er natürlich ebensowenig die Augen nötig, wie jeder
andere, da ja der Heiratsvermittler als Zwischenperson das Suchen
und Erwählen besorgt. Für den blinden Mann wird natürlich eine
ebenfalls blinde Frau zum ehelichen Gespons erkoren. Das junge
Paar geht dann mitsammen auf die Walze. Das Glück wird aber
erst voll, wenn ein junger Weltbürger später den Führer machen
kann. Schon unzählige Male habe ich blinde Eltern ihres Weges
ziehen sehen ; hatten sie aber Kinder, so waren diese immer sehend.
Zu dem Blindenjahrmarkte wird selbstverständlich auch die „alte
Hälfte" mitgenommen. Der Chinese betrachtet sich selbst als die
„bessere Hälfte", seine Frau aber benennt er ungalant die „alte
Hälfte." Zur Zeit des Essens sitzen diese „alten Hälften" von den
übrigen Gästen abgesondert an eigenen Tischen. Was nun die
10»
— 148 —
Beschäftigung der viersinnigen „Herren" angeht, so widmen sie sich
entweder der edlen Musik, ziehen als Wahrsager über Land, oder
verdienen sich das tagliche Brot mit irgend einem Kleinhandel
Jene aber, die zu all dem nicht tauglich sind, machen es dem Samson
nach, d. h. sie drehen die Mühle. Dabei ist nur das Mahlen ihre
Aufgabe, das Beuteln tun andere: „Tei muo bu kuen luo." Die
gewöhnlichsten Dinge, welche die Blinden als Kleinhändler über die
Straße tragen, bestehen in Salz und Spielkarten. Salz ist bekannt-
lich kaiserliches Monopol in China, und es stehen schwere Strafen
auf den Schmuggel mit demselben. Die 'Blinden aber dürfen sich
solchen Schmuggel erlauben, da der Mandarin wohl weiß, daß der
kleine Betrag, den der Blinde für Salz einnimmt, für seinen großen
Beutel von wenig Belang ist. Unser Kleinhändler verkauft wohl-
weislich nicht nach Gewicht, sondern nach Maß, und seine Hand
wacht darüber, daß er nicht betrogen wird. Während die Rechte
den Sack festhält, streicht die Linke über den kleinen Pfundbottich,
und die dargereichten Geldstücke werden alsogleich im festen
Beutel am Leibe verborgen. Das Chinesische Gesetz verbietet das
Kartenspiel, und somit ist auch der Verkauf von Spielkarten nicht
gestattet. Die Blinden machen auch hier wiederum eine Ausnahme ;
hat ein Spieler seine Karten verbraucht, so sucht er die Blinden-
bude auf, wo solche stets in genügender Anzahl vorhanden sind.
Was die Musik angeht, so wird dem Blinden außergewöhnliche
Feinhörigkeit nachgerühmt, dermaßen, „daß ein von ihnen veran-
staltetes Konzert die Götter im Himmel ans Tanzen bringen soll."
Von allen diesen Beschäftigungen wird aber die Wahrsage-
kunst zumeist von den „Herren" bevorzugt, wohl deshalb, weil sie
sich am rentabelsten erweist. Natürlich will das Wahrsagen auch
erlernt werden, „denn niemand wird als Prophet geboren." Zu
diesem Zwecke werden blinde Kinder einem Wahrsager in die
Lehre gegeben, dem sie gewöhnlich als Wegweiser dienen. Freilich
ist der kleine Führer selber blind, weil er aber vorangeht, fällt er
zuerst in die Pfütze. Gerade wie anderswo auf der Welt sind
die chinesischen Evastöchter in hohem Grade von der Neugierde
geplagt und sie möchten gar zu gerne den Schleier der Zukunft
gelüftet sehen. Ist der Mann nicht zu Hause, und zieht ein Blinder
daher, so wird er sicherlich bei der Frau gute Geschäfte machen.
Die Laute, welche er seiner Zymbel entlockt, klingen so vielsagend
und geheimnisvoll, und auch das arme Chinesenweib, an der Korn-
mühle schwitzend, hofft noch auf bessere Tage. Geriebene Frauen
stellen bisweilen erst eine Probe an auf die Echtheit des Propheten,
— 149 —
denn es gibt auch „Blinde", die nur geschäftshalber die Augen
zuzwicken, in Wahrheit aber damit sehen können. Es wird daher
dem Ankömmling eine Schüssel voll Wasser in den Weg gestellt ;
geht der „Blinde" an derselben vorbei, oder schreitet er über sie
hinweg, ist es nichts mit seiner Kunst und aus mit seinem Geschäfte,
und anstatt sich von ihm die Zukunft enthüllen zu lassen, hetzt
man den Hund auf ihn. Stolpert er aber über die Schüssel, dann
setzt es freilich einige chinesische Donnerwetter ab, und er verlangt
nunmehr zu seinem Prophetenlohn noch neue Strümpfe und Schuhe
oder einen Ersatz für seine durchnäßten Pedale. Aber was läßt
man es sich nicht alles gern kosten, wenn bereits das Morgenrot
einer 'glücklichen Zukunft zu dämmern beginnt! Arme Seele du!
wiederum bist du um eine Handvoll Käsch ärmer geworden, und
deine Zukunft bleibt so grau wie vorher.
Einem, der vergeblich Geld und Talent verschleudert, bezeich-
net man im chinesischen Sprachgebrauch als einen „Blinden mit
der Laterne" ; umsonst verbrennt er Docht und Öl. Von einem
Schlaumeier, der wenig spricht und viel denkt und sich täppisch
benimmt, sagt das Sprichwort; „Der Blinde weiß auswendig, wieviel
Klöße er gegessen." Lügen werden als „blinde Worte" bezeichnet
(chia chua) und die Phantasie als „Herzensauge" (sin mu). Als
Führer benutzt der einzelne Blinde einen langen Stab, den er
„Lichtstütze" nennt; er selbst gilt in den chinesischen Schriftzeichen
als ein Mann, „für den die Sonne untergegangen ist, der Mond sich
aber versteckt hat." Confuzius soll jedem Blinden der ihm begegnete,
ein Zeichen der Hochachtung gegeben haben, und von ihm sollen
sie die ehrende Bezeichnung sien-schöng, „Herr", bekommen haben.
Da es in China verhältnismäßig sehr viele blinde Kinder gibt,
werden dem Missionar oft genug solche arme Wesen angeboten.
In unserer Missionsstation Puoly haben wir deren nicht weniger
als fünfzehn, alt und jung, männlichen und weiblichen Geschlechts.
Die alten werden zumeist in der Mühle beschäftigt; die jungen
müssen spinnen, Rosenkränze ketten und ihre Lektion lernen. Sie
können das um so leichter, da ihr sehender Nebenmann die Lektion
laut aus dem Buche vorliest, bezw. herunterschreit.
— 150 —
Schmuckgegenstände.
SÄ^pJinger. Hände und Ohren waren fast bei allen Volkern schon
^■Tgj' v.tn alters her die Hauptträger der menschlichen Eitelkeit.
r^BjH» ' Vl,n »iwrs ner aie riauprirager aer mensciinciieii rriieiiteii.
*YM^5 * n **™gen lindern, wo die Füße unbedeckt sind, werden
J?5J<5§H3 iiuch diese noch mit in ihren Dienst gezogen und an den
Gelenken mit einem oder mehreren Ringen geschmückt. Die Chniesen
nun sind im Tragen von Schmuckgegenständen von jeher ziemlich
nüchtern gewesen, ähnlich wie im Kleidertragen.
Was zunächst die Ohrringe angeht, so ist wohl keine Frau
und kein Mädchen zu finden, das nicht ein Öhr im Ohr hätte,
ob aber immer ein Ring darin hängt oder ein sonstiges Gehänge,
ist eine andere Frage. Dem Kinde wird schon beizeiten das Ohr
durchlöchert, dann nämlich, „wann es noch nicht wehe tut". Die
Mutter oder Großmutter nimmt zwei kleine Bohnen (|ft£ lü tou),
legt das Ohrläppchen dazwischen und reibt dann eine Zeitlang die
Bohnen gegeneinander. Dadurch soll das Blut von der zu durch-
stechenden Stelle weichen. Tatsache ist denn auch, daß bei der
Manipulation kein Tröpfchen Blut vergossen wird; ich habe mich
selbst davon überzeugen können. Damit das Loch nicht wieder
zuwächst, wird ein seidener Faden hindurchgezogen. Später muß
das Kind dann selber sehen, womit es seine Ohrläppchen schmückt.
Findet es ein Stück Draht oder einen krummen Nagel, so sind das
schon taugliche Dinge dafür. Natürlich tragen in besseren Familien
die Mädchen auch in jungen Jahren regelrechte Ohrgehänge von
Silber oder gar von Gold. Doch auch das Kind aus armer Familie
muß wenigstens einmal im Leben seine Ohren schmücken, wenn
es nämlich als junge Braut die Hochzeit feiert. Wenn eben mög-
lich, kaufen die Eltern versilberte Ohrringe; fehlt aber dafür das
Geld, so werden solche geliehen von Freunden oder Nachbarn. Im
allgemeinen haben die Ohrringe eine große Form und sind primitiv
gearbeitet. Da es das ausschließliche Recht des weiblichen Geschlech-
tes ist, sich die Ohren mit Ringen zu schmücken, so tun es die
Männer nur höchst selten, nämlich dann, wann sie einem bösen
Dämon weismachen wollen, der junge Weltbürger, der so eben das
Licht erblickt, sei ein Mädchen. Es wird ihm deshalb auch ein
Mädchenname beigelegt und ein Loch ins Ohr gestochen, und er trägt
so lange ein Ringlein darin, bis man ihn seines Lebens sicher glaubt.
Weniger wichtig und heutzutage auch weniger gebräuchlich
ist das Tragen von eigentlichen Fingerringen. Eine Mannsperson wird
damit überhaupt höchst selten gesehen. In früheren Jahren, als das
— 151 —
Bogenschießen noch recht in Brauch war, bedienten sich die Schüt-
zen eines breiten Daumenringes aus Silber, Elfenbein, Schildpatt,
Fischbein oder Jade. Derselbe diente zum Straffziehen des Bogens
und wurde paen tsche Jß fä genannt. War jemand im Besitze
eines recht kostbaren Bogenspanners, dann trug er ihn stets am
Pinger, aus Furcht, er könne ihm anderswo abhanden kommen.
Kostbar wird das Ding meistens durch sein Alter, „wenn die Kraft
des Daumens hineingezogen ist". Auf derartigen Ringen entstehen
durch das ständige Tragen bisweilen ähnliche Gebilde, wie wir sie
auf alten Pfeifenköpfen aus Meerschaum sehen können. Es ist da
erklärlich, daß auch der Bogenschütze a. D. noch seinen Ring bis
ins hohe Alter hinüberträgt als Schmuck und als Erinnerung.
Außer dem Bogenspanner tragen die Männer nur mehr „Ab-
stinenzringe u . Es handelt sich dabei um solche Leute, die früher
entweder dem Übermaße im Trinken fröhnten, arge Spieler waren
oder dem Opiumgenusse huldigten. Wenn nämlich die Vorstellun-
gen und Ermahnungen von Seiten der Verwandten nicht mehr
fruchten, wenden sich diese an die Freunde des Unverbesserlichen.
Diese sollen das letzte Mittel versuchen, damit der Sünder sein
Lasterleben aufgebe. Die Freunde lassen einen silbernen Ring
schmieden, auf dem zwei Charaktere eingraviert sind: tjä ziu, tjä tu
oder tjä ien Jß 8S, ?fi 8S> JÖ5 5@l — Abstinenz vom Wein, Abstinenz
vom Spiel oder Absiinenz vom Opium. Dann wird ein Fest ver-
anstaltet, auf welchem der zu bessernde Freund die Hauptpersön-
lichkeit bildet. Und bekanntlich geht auch bei den Chinesen der
Weg zum Herzen über den Magen. Haben sich alle bei Speise
und Trank gütlich getan und ist man in gehobener Stimmung, so
wird der Abtinenzring hervorgeholt und dem nichts ahnenden
Freunde an den Finger gesteckt. Doch er ist jetzt zu allen Opfern
bereit: hoch und heilig verspricht er, hinfüro keinen Wein mehr
anzurühren, keine Spielhölle mehr zu besuchen, dem Opiumgenuß
vollends zu entsagen. Aber man will auch Beweise, daß es ihm
Ernst ist mit seinem Versprechen. Er muß sich verpflichten, sobald
er seinem Gelübde untreu geworden, alle Freunde zu einer Mahl-
zeit einzuladen oder eine bestimmte Summe Geld zu zahlen. Man-
cher wird durch das Mittel geheilt, mancher aber übertritt seine
Vorsätze wieder, obschon der Ring an seinem Finger einen
beständigen Appell an sein Ehrgefühl und nicht minder an seine
Kasse richtet.
Heiratsringe werden nur an der Frauenhaud gefunden. Die-
selben werden tjä tsche J$ fä oder tjä liu JjJ fg genannt : „Meide
— 152 —
das Hinzeigen" — „hüte dich vor dem Herumspazieren ". Das
weibliche Geschlecht soll immer gesittet sein, und dazu gehört vor
allem, daß es seine Augen in Obacht nehme und bescheiden vor
sich hinschaue. Wollte eine Frau aber gar mit dem Finger auf
etwas oder jemand zeigen,
dann würde sie als lose Per-
son gelten. Überhaupt soll
sie sich daheim aufhalten, d.
h. innerhalb der vier Wände
des eigenen Hauses; daran
wird sie schon durch ihren
Namen erinnert : Tja-Li,
Hausfrau (wörtlich : „drin-
nen im Haus"). Aber auch
der Fingerring „Meide das
Herumspazieren" soll sie
beständig an ihre Pflicht
ermahnen. Begreiflicherwei-
se haben die Fingerringe
da weniger den Charakter
eines Schmuckgegenstandes
als vielmehr eines Erinne-
rungzeichens.
Während in Europa die
gefürchteten Schwiegermüt-
ter meistens nur eingebildete
„Hausdrachen" sind, ist die
lao nian (äg Ig Schwieger-
mutter) der Chinesen nicht
selten ein solcher in Wirk-
lichkeit. Unzählige arme
Frauen haben sie zur Ver-
zweiflung und damit in den
Brunnen getrieben. Erst recht übel ist aber die arme Frau dar-
an, wenn die Zeit kommt, wo ihr die Arbeit schwer zu fallen
beginnt. Um nun die Schwiegermutter auf ihren Zustand aufmerk-
sam zu machen, wurde in früheren Zeiten an den kleinen Finger
ein Eing gesteckt. Nach Verlauf eines Monats wurde der nächst-
folgende Finger mit einem Ringe versehen. Die Schwiegermutter
sollte dadurch aufmerksam gemacht werden, daß die junger Frau
mit mehr Schonung zu behandeln sei und daß sie ihr die Arbeit
Waisenmädchen aus Puoly.
— 153 —
erleichtern möge und zwar um so mehr, je zahlreicher die Ringe
an ihren Fingern sind. Nach dieser Version soll sich das Jß tjä:
„enthalten" nicht so sehr auf die Frau beziehen, als vielmehr auf
ihre Umgebung. Soweit uns die chinesischen Schwiegermütter
bekannt sind, wäre nur zu wünschen, daß auch heutzutage eine
derartige Einrichtung noch zu Ehren bestände.
Die Hauptschmuckgegenstände des „schönen Geschlechts " in
China bestehen in der Kopfbedeckung am Hochzeitstage und in der
kleinen Fußbekleidung zeitlebenslang. Besagte Kopfbedeckung heißt
Fung-kuen, gji, jfä „Phönixmütze", und hat Ähnlichkeit mit der
Krone, wie sie in früheren Zeiten die chinesischen Kaiser trugen
und wie sie heutzutage vielfach noch die Häupter der Götzen
schmückt. Vom obern Rande hängen Perlschnüre herunter, welche
die Stirne und teilweise auch das Gesicht der Braut verdecken.
Für gewöhnlich aber trägt die chinesische Frau nur einen Haar-
halter; will sie sich besonders fein machen, so wird eine Blume
ins Haar gesteckt. — Jede Dame verfertigt sich selbst die Schuhe.
Es ist das auch selbstverständlich; weiß doch jede am besten, wo
sie der Schuh am meisten drückt, und für die chinesischen „Lilien"
wäre überhaupt kein einheitlicher Leisten zu finden. Der Schuh
bildet denn auch besonders den Hauptgegenstand, an dem die chi-
nesische Frau ihr Künstlertalent erproben kann, wenn sie solches
besitzt, zumal in der Kunststickerei. Wenn sie etwas Hervorragen-
des darin leistet, tut sie sich nicht wenig darauf zu gute. Anders
wird es, wenn kleine Kinder die Muttersorgen in Anspruch nehmen.
Aber auch für das kleine Baby liefern wieder Kopfbedeckung und
Schuhe die vorzüglichsten Verschönerungsmittel. Die Mutter ver-
fertigt beide Dinge selber, und man gebraucht weder Meister Fips
noch seinen Kollegen, den Schuhmacher. Verfügt sie über genü-
gende Phantasie, so verwandelt sich der Hut des kleinen Knirpsse
nicht selten in einen Löwenkopf, die Schuhe aber tragen am vor-
deren Ende das Bild der „Mies". Als gewöhnlicher Schmuck für
die Kindermütze wird ein kleiner Spiegel darauf genäht. Ist dem
Kinde noch eine „trockene Mutter" beigegeben, so legt ihm diese
alsobald ein silbernes Kettchen um den Hals, das nicht eher abge-
nommen werden darf, als bis das junge Wesen zur Braut oder zum
Bräutigam herangewachsen ist. Tags vor der Heirat wird dann
das Kettchen von der „trockenen Mutter" abgenommen, und die gegen-
seitigen Beziehungen nehmen hiermit ein Ende. Knaben tragen gele-
gentlich am Fuße einen silbernen Ring, nicht allein zum Schmucke,
sondern auch als Talisman zum Schutze gegen böse Geister.
— 154 —
Mit Monokel oder Kneifer schmückt der vornehme Zopfträger
seine Nase nicht: diese Dinge passen nicht für ein Chinesenauge
und eine Stumpfnase; aber eine gewaltige Hornbrille mit dunklem
Krystall soll die Denkerstirn kennbar machen und zugleich der
Visage den gewünschten Schönheitsstempel aufdrücken. Pfeife und
Fächer geben, abgesehen vom praktischen Werte, auch noch Gele-
genheit, einen Schmuckgegenstand daraus zu machen, und darum
fächelt sich mancher Geck ohne daß es ihm heiß ist; er will nur
seinen kunstvollen Windflügel bewundern lassen. Und gar mancher
Nichtraucher trägt die Pfeife mit sich herum, weil sie viel Geld
gekostet hat und in die Augen sticht. Zur Vervollständigung des
Schmuckes gehört dann endlich noch ein Bündelchen Miniaturgerät-
schaften, die meistens aus Silber gearbeitet sind und am obersten
Knopfe des Bockes glänzen. Ohrlöffelchen, Zahnstocher, Augenpin-
cette und ein Bartkämmchen sind die gewöhnlichsten Gegenstände
dieser Art, welche zwar für den Gebrauch wenig Wert haben, aber
zur Ausstaffirung eines chinesischen Gentleman gehören. Wer sich's
leisten kann, kauft sich heutzutage eine Taschenuhr, um damit
Großtuerei zu treiben, wie es auch wohl anderswo geschieht. Osten-
tativ wird sie in einem fein gestickten seidenen Säckchen am Gürtel
getragen, und fragt man den Besitzer, wie spät es sei, so fühlt er
sich geschmeichelt. Wer die Windbeutelei aber voll machen will,
schmückt seinen Gurt mit einem Riechsäckchen, das ebenfalls aus
kostbarer Seide gestickt ist. Drinnen ist Moschus und allerhand
Duftiges eingenäht, das aber für eine europäische Nase durchaus
nicht immer angenehm zu riechen ist.
Die Ziegelbrennerei.
\*k> chinesischen Geschichtsbücher berichten, daß der Myten-
kaiser Schen-Nung seinem Volke die Bereitung von Ziegel-
jjK steinen zuerst gelehrt habe. Zur Zeit des Kaisers Schao-
ÖtÖVfö * Kin soll die Anlage von Ziegelöfen besonders am Laufe
der Flüsse gemacht worden sein, und als Material soll man den
Flußschlamm verwendet haben. Die Gebrauchsgegenstände aus
damaliger Zeit seien deshalb besonders stark, ja sogar unzerbrechlich
gewesen. Jedenfalls haben die Chinesen seit vordenklicher Zeit so-
wohl Ziegelsteine und Dachziegeln, als auch mancherlei Geratschaf-
— 155 r-
ten zu formen und zu brennen verstanden, so daß die Gefäße aus
alter Zeit uns heute noch Bewunderung abnötigen.
Was die Herstellung von Backsteinen und Dachziegeln betrifft,
so steht diese auch jetzt noch auf äußerst primitiver Anlage. Wo
man geeignete Lehmerde findet, wird mitten im Felde der Ofen
gebaut. Er bildet ein Tonnengewölbe und wird in der Weise her-
gestellt, daß man die Füllung des zu erbauenden Ofens zugleich
mit der Außenwand emporführt. Als Material gebraucht man große
Luftziegel; die unterliegende Füllung dient dem Gewölbe zunächst
als Stützpunkt. Wenn dann die Steine gar gebacken sind, können
sie ohne irgend welche Gefahr fortgenommen werden, und der Ofen
ist fertig. So sind die Chinesen ungemein praktisch und erreichen
mit äußerst einfachen Mitteln ohne besondere Auslagen ihr erstrebtes
Ziel. Damit recht wenig Wärme nach Außen verloren geht, wird
der Ofen mit einer mehrere Fuß dicken Erdschicht überdeckt. Er
sieht von weiten wie ein kleiner Hügel aus.
Auf dem Scheitel des Ofens wird eine Fläche hergestellt, die
mehrere Meter im Durchmesser hat. Ein bequemer Weg führt von
außen in Schlangenwindung hinauf. Ist die Fläche gut geebnet,
wird sie einige Zentimeter hoch mit Ofenasche bestreut. Sobald
nun die Heizung so weit vorangeschritten ist, daß die Steine durch
und durch erglühen, werden die beiden Offnungen des Ofens (Feu-
erung und ßauchfang) mit Erde hermetisch abgeschloßen und gut
verschmiert. Sofort beginnt dann das Wassertragen. Ein Dutzend
Arbeiter müssen stundenlang in Eimern das Naß zum Scheitel des
Ofens schleppen, wo es auf die mit Asche bestreute Fläche gegossen
wird. Die Asche hat den Zweck, daß sie das Wasser nur ganz
allmählich durchsickern läßt. Auf diese Weise wird das Feuer
gelöscht, und daher stammt die graue Farbe der chinesischen Ziegel.
Als Grund dieses Verfahrens wird meistens angegeben, es sei dem
gewöhnlichen Manne verboten, gelbe oder rote Steine zu benutzen.
Der eigentliche Grund ist aber der, daß man durch diese Art des
Löschens die Steine um vierzehn Tage früher aus dem Ofen tragen
kann und nicht auf ein allmähliches Erkalten zu warten braucht.
Den Ziegelbrennern liegt nämlich sehr viel daran ihre Zeit gut aus-
zunutzen, da die zum Brennen günstige Zeit nur kurz bemessen ist.
Während zwei bis drei Monate im Frühjahre und im Herbst müssen sie
sich sputen. Sommer und Winter sind wegen der Witterungs Verhält-
nisse zum Ziegelbrennen nicht geeignet. Tatsache ist freilich, daß
für kaiserliche Bauten und Pagoden meistens gelbe oder rote Steine
und Dachziegel benutzt werden. Die Farbe besteht aber in einer
— 156 —
Glasur, die eigens aufgetragen wird. Von Natur aus rote oder
gelbe Steine backt der Chinese überhaupt nicht.
Ist die Ernte gut gewesen und haben die Getreidekörbe ein
behäbiges Aussehen, so gibt es auch Baulustige. Entweder will
man massiver bauen lassen, oder die im Sommer baufällig gewor-
dene Wohnung nötigt eine bessere an deren Stelle zu setzen. Oder
ein Sprößling will in Bälde eine Lebensgefährtin zu sich nehmen,
(d. h. die Eltern wollen es), und da muß für das neue Paar auch
ein neues Heim geschaffen werden. Falls nun die Ernte gut aus-
gefallen ist, baut man solide und gebraucht wenigstens zum Fun-
damente Backsteine. Andernfalls „behilft man sich". In Erwägung
dieser Umstände betreiben die Ziegelbrenner ihr Geschäft. Ist das
Feld abgeerntet, so wird ein Ofeninhaber aufgesucht und mit diesem
verakkordiert. Will er selbst das Oberhaupt machen, so muß er
vorläufig für die Beköstigung der Leute sorgen, während diese
die Luftziegel machen und den Ofen in Stand setzen. Ein guter
Arbeiter kann am Tage achthundert Luftziegel herstellen, die nach
einigen Tagen mauernweise aufgeschichtet und mit dem Brennmaterial
überdeckt werden. Dieses besteht aus Hirsen- und Weizenstroh,
Sorgho- und Maisstengeln. Am Meisten bevorzugt ist das Weizen-
stroh; es soll die klangvollsten Steine liefern. Sind so viele Steine
getrocknet, daß ein Ofen damit angefüllt werden kann, beginnt das
Brennen. Mit dem Herstellen der Luftziegeln fährt man fort, bis
der Frost einsetzt. Die Feuerung dauert in der Regel acht Tage lang,
der erste Ofen aber muß noch einige Tage länger geheizt werden.
Sind die fertigen Steine herausgetragen, so stellen flieh allmä-
lich Käufer ein. Yon jedem Zehntauend Steine erhält das Oberhaupt
ein Tausend. Zudem werden ihm jetzt die Auslagen für die Bekö-
stigung der Arbeiter vergütet. Stellt sich heraus, daß man nicht auf
die Unkosteu kommt, weil Kost und Brennmaterial zu teuer gewor-
den sind, so nehmen die Arbeiter nicht selten Reisaus und lassen
das „Oberhaupt" in der Patsche sitzen. Überhaupt ist bei der
Ziegelbrennerei der Verdienst nicht sonderlich groß ; es sind gewöhn-
lich arme Schlucker die sich damit abgeben. Es gilt als sprichwörtlich,
daß das Oberhaupt einer Ziegelbrennerei sich auf Ungemach gefaßt
machen muß. „Wer sich Verdrießlichkeiten aufhalsen will, der kaufe
ein Kopfkissenland 1 ), mache einen Ziegelofen oder er nehme sich
eine zweite Frau" sagt ein Sprichwort.
l ) Kopfkissenland wird ein schmaler Streifen genannt, der der Länge nach
zwischen den Lftndereien anderer Leute liegt. Diese werden dann beim Pflügen
auf diesem Streifen kehrtmachen und die Frucht vertreten.
— 157 •—
Falls der Ofeninhaber aber nur die Benutzung des Ofens sowie
den Lehm freistellt, woraus die Ziegeln gemacht werden, so kommen
für jedem Ofen drei bis fünf Tiao in Auszahlung je nach der Menge
Steine, die der Ofen fassen kann. In diesem Falle stellt sich ein
anderer als Oberhaupt an die Spitze und nimmt die Beköstigung
der Arbeiter in die Hand.
Kleinbauern, die mehr Brennmaterial geerntet haben, als sie
verbrauchen, tauschen den Überfluß desselben an Ziegelöfen gegen
Steine aus. Zu Hause mag Niemand gerne einen großen Haufen Stroh
und Sorghostengel aufbewahren, denn der Chinese sucht sich mit Vor-
liebe dadurch an seinem Feinde zu rächen, daß er ihm den roten Hahn
aufs Dach setzt. Bei der Ziegelbrennerei muß deshalb auch immer
während der Nacht Jemand wachen, und man hütet sich ja, das
Bettelvolk zu beleidigen. Die Ziegeleien sind daher eine Zuflucht-
stätte für die Bettler während der Nacht.
Als Schutzheiligen verehren die Ziegelbrenner den Lao-tse.
Bevor der erste Ofen angezündet wird, bringt man ihm Opfer und
verbrennt Weihrauch und sein Bild hängt irgendwo in einer
kleinen Nische. Lao-tse soll nämlich fünf Schüler gehabt haben,
von denen einer ein Ziegelbrenner war.
« ceoccc w
Der Chinesenköter.
jjchon Manchen, die einige Zeit in China waren und sich bei
Land und Leuten umhergeschaut, werden die schäbigen
Hunde geärgert oder viellieicht auch gedauert haben. Ja,
ANSI wen s °Ute auch ein so elendes Geschöpf nicht dauern, das
da mit eingezogenem Schwanz und scheuem Blicke umherschleicht,
meistens dort, wo es am meisten stinkt. Es scheint nur eine Be-
schäftigung zu kennen, nämlich etwas zu erhaschen oder zu naschen,
um seinen Hunger zu stillen. Gute Tage hat die arme Kreatur
noch nicht viele gehabt, das sieht man ihr an, und bei ihrem An-
blicke kommt einem so recht zum Bewußtsein, wie verschieden
das Loos hienieden verteilt ist, selbst bei den Tieren. Wäre der
elende Köter neidischer Gedanken fähig, ganz gewiß würde er sie
bekommen, wenn er das Loos von manchem Teckel mit dem seinigen
vergliche. Jener hat sogar einen Namen, auch scheint er höhere
Bildung genossen zu haben, da sein Herr bisweilen englisch mit
ihm spricht oder französisch — er muß sich mit dem allgemeinen
— 158 —
n lcou u begnügen, was Hund heißt und Niemand würdigt ihn eine«
freundlichen Worte» oder Blicke». Nur wenn er al» Braten feil
geboten oder von »einem harten Herrn »elb»t ver»pei»t wird, heißt
er n tjuen u , das allerding» auch Hund bedeutet, aber doch der vor-
nehmen Sprache entnommen i»t,
So ein chine»i»cher Hund i»t denn auch taub und stumm gegen
alle Lieben»würdigkeiten, und wenn man ihm »olche erweisen will,
bezieht er »ie nicht auf »ich. Kuhig hält er »einen Schwanz zwischen
den Beinen, die Wedelmu»keln sind bei ihm überhaupt nicht aus-
gebildet. Bei Tage liegt er an der Straße oder noch öfter mitten
darauf, und es ist ihm wenig daran gelegen, ob er überritten oder
überfahren wird, denn an dem Leben hängt er durchaus nicht.
Während der Nacht allerding» waltet er »einer Geschäfte, er bewacht
Hau» und Hof und bellt mit, wenn andere Hunde e» ihm vormachen.
So verdient er die »pärlichen Brocken, die von seine» Herrn Ti»che
fallen. In der Regel aber fällt nichts herunter, denn Knochen gibt
e» in den Bauernküchen gewohnlich nur zu Neujahr, und dann haben
die Kinder »eibige schon abgenagt, und die Hausfrau hat sie zer-
schlagen, um das Mark zu bekommen, so daß »elb»t ein Hundezahn
nicht» mehr daran zu nagen findet. Er muß »ich mit Spülwa»ser
begnügen und Häckselbrot {„Kang-uo-w"), im Übrigen aber ist er
auf seine eigene Erfindungsgabe angewiesen, um seinen Lebens-
unterhalt zu fristen.
Armes Tier Du, nein doch nicht, denn je elender und
räudiger Du bist, um so mehr hast Du Au»»icht, der Träger großer
Kostbarkeiten zu »ein.
In den chine»i»chen Apotheken gibt es ein Heilmittel, das
unter dem Namen „h/u prw u bekannt i»t. Kou pao heißt Hunde-
Kostbarkeit und diese Medizin wird dann in der Tat als Kostbar-
keit für schwere» Geld bezahlt. Sie wiegt ungefähr Gold auf im
Gewichte und soll ein unfehlbares Heilmittel sein gegen Krankheiten,
die tief eingewurzelt und schlecht zu heilen sind. Besagte Medizin
aber entstammt eben dem Schädel eines Koters, — absichtlieh sage
ich Koter, denn bei wohlgenährten und schonen Hunden ist sie
nicht zu finden — der obendrein noch recht alt »ein muß. Er-
fahrene bewährte Aerzte können es meistens dem Hunde ansehen,
ob »ich in seinem Kopfe so eine Kostbarkeit ausbildet, und wenn das
der Fall ist, suchen »ie ihn zu kaufen, sollte er auch hoch im Preise sein.
Um aber die kostbare Medizin zu bekommen, muß noch der
rechte Augenblick abgewartet werden. Der Hund muß heulen.
Heulen tut aber nicht jeder Hund; die meisten tun es nur dann,
— 159 —
wenn sie Vorgeschichten oder Spukbilder sehen oder Musik hören,
und deshalb muß oft lange gewartet werden, bis die ersehnten
Laute gehört werden. Sobald der Hund aber zu heulen beginnt,
ist der Augenblick gekommen, die wertvolle Medizin in Empfang
zu nehmen, und damit hat denn auch die letzte Stunde des armen
Köters geschlagen. Während er seine Schnauze in die Luft streckt
und recht jämmerlich heult, schleicht sich der bewährte Lebens-
Terlängerungs-Praktikant von hinten heran und schlägt ihn mit
einem Knittel in den Nacken. Husch — die Hunde-Kostbarkeit
rollt in Gestalt einer roten Kugel dem Tiere aus der Schnauze:
das ist die „Kou pao" ; der „Kou" aber stirbt sofort, selbst wenn
der Schlag nicht tötlich war, denn er kann ohne die pao nicht
mehr leben. —
Also man verachte nicht zu sehr das chinesische Hundevieh,
denn es ist bisweilen Inhaber seltener Schätze. Wer aber Zweifel
an der Geschichte hat, besuche nur einmal eine chinesische Apotheke
und verlange „kou pao" und lasse sich die Genesis des Wunder-
mittels erzählen; er wird das Nämliche hören, was er hier gelesen
— falls der Chinese nicht noch Neues dazu schwindelt.
Das Pferd,
wie es von den Chinesen betrachtet und beschrieben wird.
Jer arm werden will, braucht nur mit lebenden Drachen
tjh zu spielen. Das ist eine Regel, die jenen zur Beher-
f^h ^g un & empfohlen wird, die passionierte Pferdeliebhaber
C^ä^§?gFi3 sind und große Summen daran verschwenden, um mit
Pferden prahlen zu können. Unter „lebenden Drachen" wird näm-
lich ein Pferd verstanden, denn jedes Pferd soll eine halbe Drachen-
natur haben. Handelt es sich aber um einen Durchgänger, der acht
Fuß in der Höhe mißt und in der Zeit von vier und zwanzig
Stunden einen Weg von tausend Li zurücklegt, so gilt er als eigent-
licher Drache. Daß es solche Drachenpferde gibt, ist natürlich
eine Fabel, aber die chinesischen Bauern glauben fest daran.
Vor mir liegt ein Buch betitelt : fg JE$ f§£ (siang-ma-king)
„ Betrachtung über das Pferd". Darin sind viele Belehrungen ent-
halten, die sich auf die Behandlung der Pferde beziehen und
— 160 —
Unterweisungen, die bei ihrem Kauf zu beobachten sind. Es werden
mancherlei Ratschläge darüber unterbreitet wie das Tier in gesunden
und kranken Tagen verpflegt werden soll und dergleichen mehr.
Zunächst lernen wir die Eigenschaften kennen, die ein gutes
Pferd auszeichnen müssen. Der Verfasser scheint über eine reiche
Phantasie verfügt zu haben, und der Leser muß bisweilen die
eigene schon etwas anstrengen, will er die richtige Vorstellung von
einem rechten und echten Pferde bekommen.
Die Augen sollen wie ein hängender Spiegel sein; erscheint
die ganze Gestalt des Menschen darin, so ist das Tier noch jung
an Jahren; je älter es wird, um so weniger erblickt man darin vom
eigenen Bilde. Kupferbraune Augen werden am meisten bevorzugt :
ein Tier mit kleinen Augen ist furchtsam, große Augen sind ein
Zeichen von Mut. Der Leib gilt als Pestungsmauer, die unten breit,
sich nach oben hin verjüngt. Der Kücken stellt den Feldherrn dar,
der tapfor im Streite, die schwersten Lasten zu tragen sich nicht
scheut. Der Kopf ist wie ein König vom Ganzen ; er habe markierte
Formen und sei kräftig gebaut. Das Zahnfleisch sei rot und glänzend,
die Kniee rund wie Quitten. Ein Füllen, das ohne Haare zur Welt
kommt, entwickelt sich zu einem „ Drachenpferde u und läuft in
einem Tage tausend Li weit. Tut es aber beim Wasser lassen nach
Hundeart, macht es nur die Hälfte des Weges. Die Brust sei breit
und voll, die Hüftenknochen dürfen kaum hervorragen, die Beine
seien vier Säulen gleich. Beim Laufen dürfen die Füße kaum den
Boden berühren und keinen Staub aufwirbeln.
Ein Pferd, das den Kopf hoch trägt, ist kräftig ; je weniger Fett
im Gesicht hängt, um so mehr Kraft ist in den Beinen. Sind die Ohren
klein, so ist auch die Leber klein, und das Tier vermag den Willen seines
Herrn zu erraten. Große Ohren werden leicht taub und sind schlecht
beweglich. Eine große Nase setzt eine große Lunge voraus, und diese
befähigt zu schwerer Arbeit und schnellem Lauf. Auch beim bestge-
nährten Tiere sollen die Knochen noch sichtbar sein, aber niemals darf
es so mager sein, daß man kein Fleisch mehr daran entdecken kann.
Als vorzügliche Pferdefarben gelten schwarz und weiß; ein
weißes Tier aber, das schwarze Füße und einen schwarzen Schweif
hat, wird am Meisten bevorzugt. Besondere Beachtung verdienen
die Haarwirbel. Je nach der Stellnng die sie einnehmen, hat das
Tier mehr oder weniger Wert. Mag das Tier sonst in jeder Bezie-
hung einwandsfrei sein, so verliert es ganz bedeutend an Wert,
wenn sich auf den vorderen Hüften die Haare zu einem Wirbel
vereinen. Dasselbe gilt, wenn die Haarlinien beim Ansätze des
— 161 —
Schweifes einen Wirbel zeigen. Erstere werden jgg $j* (lei-chun)
„Tränenwirbel* genannt, weil sie bestimmt sind, die Tränen der
schwergeprüften Schwiegertochter aufzunehmen, wenn diese ihre
Mutter besuchen geht. Eine junge Frau wird deshalb weder Pferd
noch Esel besteigen, die mit Tränenwirbeln behaftet sind. Am Kopfe
soll der Haarwirbel in Mitte der Stirne sein; stehen zwei dem
Steigbügel gegenüber, so bedeutet das Glück für den Reiter.
Beim Laufen ist darauf zu achten, daß der Schweif schlank
herunterhängt ; ein Renner, der das Schweifende nach Kuhart etwas
emporhebt, hat weniger Wert. Noch größer aber ist der Fehler,
wenn der Schweif schief gewachsen ist; dann muß durch Stechen
in die Haarwurzel nachgeholfen werden. Bleibt das ohne Erfolg,
so bindet man einen Backstein an das äußere Ende der Haare und
läßt ihn so lange hängen, bis die Krümmung verschwunden ist, und
der Schweif ein schneidiges Aussehen bekommen hat.
Begleiten wir unsern Gewärsmann auf den Markt zum Pferde-
kauf. Zuerst muß man die Mängel kennen, von denen ein gutes
Pferd frei sein soll. Es werden deren acht aufgezählt, nämlich:
großer Kopf auf kurzem Halse ; schwacher Rücken auf dickem
Bauche; kleiner Kopf und große Hufe; großer Kopf mit steifen
Öhren; langer Hals mit ungelenkigem Rumpfe; spitzer Rücken,
weiter Bauch; lange Rippen, kurze Flanken; räudige Haut, eckige
Knochen. Von Weitem gesehen macht der Klepper einen großen
Eindruck; erst wenn man ihn vor sich sieht, bemerkt man, daß er
klein und dürr ist. Bei einem guten Rosse ist das Gegenteil der
Fall. Für den Kauf gilt folgende Hauptregel:
Aus der Ferne schau auf die Farbe j§£ ;jj — £g )fc.
Nah bei, nimm die vier Füße in Augenschein j£ If BJ ÖL ffif •
Große Augen, kleine Ohren, platte Schnautze B$ ^ 3J >J* ^ Bjf $F-
Die Vorderfüße sollen stramm gleich zwei Säulen stehn fjjf |$ fä
Die Hinterbeine müssen gekrümmt sein wie ein Bogen g£ $§ jfc
Alle vier zusammen stehen in gerader Linie ßj J$R pg fj.
Bas n Siang-ma-tjing a gibt des Weiteren Vorschriften über die
Verpflegung des Pferdes. Es liebt einen trockenen Stand, in Feuch-
tigkeit oder Nässe geht es leicht ein. Man vermeide Reisstroh zu
füttern, denn davon wird das Pferd ungelenkig in den Beinen. Drei-
mal im Tage verabreiche man ihm seine Portion in Wasser, Stroh
und Getreide. Im Herbste oder Winter aber ist das Stroh mit
Wasser anzufeuchten, während eine einmalige Tränkung am Tage
H. Fiep er, „Neue Bänder. 11
— 162 —
genügt. Wenn das Tier Wasser genommen hat, soll es eine Zeit
lang herumgeführt werden, dadurch werden die Lebensgeister an-
geregt, und es bleibt flink auf den Beinen.
Es wird eine ganze Reihe Krankheiten aufgezählt, von denen
das Pferd befallen werden kann ; aber jedesmal sind auch die Mittel
vorgesorgt, die zur Heilung dienen. Ein gedörrter Frosch z. B. der
mit Alaun zu Pulver zerrieben ist, soll bei wunden Stellen auf dem
Bücken mit wunderbarem Erfolge angewendet werden.
Schließlich werden noch einige Aufklärungen über die Ver-
wandbarkeit des Fleisches gegeben, die einen Pferdemetzger in-
tressieren dürften. Die Natur des Pferdefleisches ist herbe. Es
soll nur kalt genossen werden. Hat es einen sauren Beigeschmack,
so ist es giftig; dasselbe gilt von dem Fleische unter dem Sattel.
Weiße Pferde mit schwarzen Kopfe oder schwarzen Füßen dürfen
nicht gegessen werden, denn das Fleisch ist schädlich. Der Genuß
von Zelterfleisch ist besonders jenen zu empfehlen, die schwach in
den Hüften sind. Wer giftiges Pferdefleisch genossen hat, kann durch
Schnaps und Essig die schädlichen Wirkungen wieder gut machen.
Soll ein Tier für die Rennbahn abgerichtet werden, muß es
zuvor eine Entfettungskur mit durchmachen. In früheren Jahren
wo das Militärexamen noch in Ehren bestand, und es viel von dem
Pferde abhing, ob der Kandidat einen Rangknopf bekam oder nicht,
mußten die Tiere erst tagelang eingedrillt werden. Mancher war
selbst zu arm um ein eigenes Pferd zu halten; für solche standen
Leihpferde zu Diensten, Ein Übungsritt wurde mit zweihundert Sa-
peken bezahlt; beim Examen aber kostete der Ritt einen Tiao.
Eine Entfettungskur besteht darin, daß unter das Futter eine
Hand voll Teeblätter nebst etwas Alaun gemischt wird. Das Fressen
wird nur einmal am Tage verabreicht und zwar gegen Abend. Das
Tier wird aber von morgens früh bis gegen Sonnenuntergang herum-
geführt und zwar so langsam wie möglich. Dadurch wird es der-
art ermüdet, daß die Beine allmählich nicht mehr mitwollen. Zur
gegebenen Zeit legt es sich sofort nieder und streckt alle Viere von
sich. Diese Ruhe tut ihm besonders wohl. Denn es ist eben das Gute
solcher Müdigkeit, daß sie nicht lange andauert. In kurzer Zeit
wird das Tier wieder munter, und wenn ihm nun das Futter gereicht
wird, frißt es wie ein Wehrwolf. Um aber den Appetit noch mehr
zu reitzen, wird ein Korb mit Hexel so gehängt, daß derselbe immer
auf die Seite weicht, wenn es mit der Schnautze daran will. Je
reicher der Schaumabfluß aus dem Maule stattfindet, um so besser
für das Tier. Das mit Schaum untermischte Futter soll ihm nicht
— 168 —
gut bekommen. Nachdem dann die Krippe gereinigt ist, beginnt
das Futter. Hat es sich sattgefressen und dann wieder geruht,
sind am Morgen alle Lebensgeister dermaßen erwacht und frisch,
daß das Pferd „dahinsaust wie ein fliegender Drache. " Nach kurzem
Ritt beginnt dann wieder das langsame herumführen bis gegen
Abend. Nach Verlauf von drei Tagen ist das Roß gebrauchsfähig :
„Das Fett hat sich in Fleisch und Sehnen verwandelt; alle Müdigkeit
ist für immer verschwunden; Mut und Ausdauer werden seine
stetigen Begleiter sein und Appetit hat es immer mehr als zu stillen ist.
Ein junges Pferd, das nicht parieren will, wird hauptsächlich
durch Beißen in die Ohren gezähmt. Und so ein Chinese hat meistens
gute Zähne und „giftig" kann er auch schon werden. Dann werden
die Ohren oft gebissen, daß das Blut herunterläuft. Der „Racker"
aber ist dann t'ing-schuo (parierend) und folgsam wie ein Lamm.
Eine Stute ist während der Tragezeit gut in Acht zu nehmen,
daß sie nicht mit Ochsen an einer Krippe das Futter nimmt, denn
in diesem Falle würde das Füllen ein hervorstehendes Unterkiefer
bekommen und dadurch bedeutend an Wert verlieren.
Die Pferde der Bauern vom Lande machen in der Regel einen
klepperhaften Eindruck. Es sind das bejahrte Stuten, die man an
erster Stelle der Mauleselzucht wegen hält. Mit Vorliebe werden
alte dafür benutzt weil diese am tragfähigsten sind, ^g S$ ff 3 M
„Ein altes Pferd macht drei Familien reich," gilt als Bauerngrund-
satz. So ein Mauleselfüllen ist natürlich eine gute Einnahme neben-
bei, denn die Stute muß auf Feld und Hof ihre Arbeiten ebenso-
wohl tun, wie Bruder Ochs oder Esel, die meistens ihre treuen
Gefährten sind. Und wenn das junge Füllen in den Flegeljahren
des Vergnügens halber mit auf den Acker geht, erfreuen sich alle
drei an seinen tollen Sprüngen. Der Bauer aber hat die größte
Freude, wenn er das Tier für einen guten Preis verhandelt hat und
wo möglich hundert Tiao dafür in die Tasche stecken kann. Und
sein Sümmchen wird verhältnismäßig leicht verdient, da die Füllen
verkauft werden, wenn sie noch jung an Jahren sind. J^ g $( if gfy
Tse mä uja tjü gilt da als Regel: „Erwerbe nur ein zahnloses Füllen"
(d. h. eines, das nur Milchzähne hat.) (7 M fö 3F8I) pu mä Hang
ja lü „Einen Esel mit zwei Zähnen meide zu kaufen." Das Zahnen
macht die Tiere mager, darum ist besser, sie mit Milchzähnen zu
verkaufen. Wenn die Zähne aber einmal ausgewachsen sind, dann
verstehen es die Chinesen einen alten Veteranengaul als „jungen
Studenten" zu verschachern. Die Zähne werden mit Feilen bear-
beitet wenn sie zu lang sind, und mit kleinen Bohrern macht man
— 164 —
künstliche Kunden (Vertiefungen) hinein. Einige Dosen Ansenik
machen das Tier äußerlich blank und drall, und dermaßen sieht
ein alter Klepper aus wie ein Junker auf Freiersfüßen. Doch hat
die Freude des glücklichen Erwerbers nur kurze Dauer. Bald wird
offenbar, was an der alten Haut gelegen ist. Aber der Betrug wird
erst bemerkt, wenn es zu spät ist. Begreiflicherweise traut beim
Handel keiner den andern und jedermann ist von vornherein der
Überzeugung, daß er es mit einem Schelme oder Halunken zu tun
hat, vor dem man sich in Acht nehmen muß.
Je nachdem das junge Tier der Mutter voraufgeht oder nach-
läuft, weiß der Chinese zu beurteilen, ob es bei Tage zur Welt
gekommen oder während der Nacht:
„Das Tagesfüllen spaziert vorauf, das Füllen der Nacht geht
hinterher«. « % £ *, * B £ «•
Ein echtes Mongolenpferd muß drei Tage fasten können, ohne
daß es Schaden leidet oder den Marsch versagt. Die Fastenkur
wird meistens vorgenommen, wenn das Tier aus dem Norden in
das Innere Chinas geführt wird. Die Fütterung ist dort verschieden.
In der Überzeugung nun, daß auch für ein Pferd Hunger der beste
Koch ist, wird dem Tiere während der ersten drei Reittage über-
haupt kein Futter verabreicht, es muß sich mit Wasser begnügen,
das man ihm nach Belieben anbietet. Wenn dann aber noch drei
Tage sich die Krippe mit Stroh füllt, schmeckt ihm das weit besser
als das Gras der Steppe, und fürderhin verspürt es kein Verlangen
mehr darnach. Je besser überhaupt ein Pferd frißt, um so wertvoller
ist es. Die Aufnahme des Futters muß schnell von statten gehen, und
man sieht es nicht gerne, wenn sich das Tier wählerisch dabei zeigt.
Sicher ist, daß die Chinesen schon seit undenklicher Zeit das
Pferd in ihren Dienst gestellt haben. Im Wörterbuch des Kaisers
K'ang-chi befinden sich vierhundertzweiundfünfzig Schriftzeichen,
die uns das Pferd in allen möglichen Eigenschaften, Altersstufen und
Farben vorführen. Es begegnet uns da das mutige Pferd, das zor-
nige Pferd, das Pferd mit weißen Füßen; das eine sehen wir
springen, das andere wihern, ein drittes den Kopf tragen. Hat das
Tier einen weißen Bauch, einen weißen oder schwarzen Schweif,
einen Flecken auf der Stirne oder auf dem Bücken, so findet es
eigene Benennung und Bezeichnung u. s. w. Mit dem Begriffe Pferd
verbindet man auch den der Schnelligkeit. 1$ _£ (Ma-schang, zu
Pferde) heißt: sofort; das Stichwort in Reclammeanoncen heißt ffe ££
wodurch bezeichnet wird, daß sich der Ruf von der Güte des ange-
priesenen Artikels mit der Schnelligkeit eines Pferdes bereits auf
— 165 —
der ganzen Welk verbreitet hat. Einen talentvollen Knaben nennt
man ft g$ Lung-tjä „ Drachenfüllen u . Als einen (2£ ÄJ Wu-ma)
„Fünf-Pferdigen" wird der Mandarin bezeichnet, und die höchste
Gelehrtenakademie in Peking, das Han4in-yüan wird ^ j$ f*] (Kin-
ma-men) „die Türe mit einem goldenen Pferde u geheißen. Die
Beamten in ihren Zeremonienkleidern tragen B| KJf |& (ma-ti-siu)
„Pferdehufärmel, da die Umschlagsenden derselben (Vorderende) die
Form von Pferdehufen haben. Über eine lange Toga zieht der
Chinese bei feierlichen Gelegenheiten eine Rsffi^p (ma-kua-tse) einen
„Pferderock," der bis an die Lenden reicht. Was man sich über
den Ursprung dieser Kleidungsstücke erzählt, bedeutet heute freilich
einen Spott auf die Zopfträger selbst. Ehemals als man die Mon-
golen aus dem Reiche der Mitte vertrieben und zum Schutze gegen
sie eine große Mauer aufgerichtet hatte, wurden die Besiegten
behandelt wie das Vieh. Das waren ja keine zivilisierten Menschen,
sondern Wilde, gleich den Pferden, die sie ritten. Zum Spotte wur-
den ihnen denn (ma-kua-tse) „ Pferdekleider u angezogen, die den Sat-
tel vorstellen sollten. Die Vorderende an den Ärmeln bedeuten (ma-
ti-siu) die Hufe der Rosse, ein roter Haarbusch auf dem Hute sollte
an die Pferdemähne erinnern; den Zopf in Mitte des glatt rasierten
Schädels bezeichnete man den Pferdeschwanz. Und damit auch der
Schmuck nicht fehle wurde eine Perlenschnur, (heutige Mandarinen-
kette!) um den Hals gelegt, die das Schellenband vorstellen sollte,
das die Reitpferde gewöhnlich tragen. Die Besiegten mußten sich
das gefallen lassen; die Spottkleidung wurde allmählich National-
kleidung. Als dann später die Mandschu den Drachenthron zurück-
eroberten, behielten sie die Kleidung bei ohne sich weiter um die
Philosophio derselben zu kümmern.
Das verflixte Chinesisch.
|icht nur europäische Ohren müssen beim Chinesischspechen
gut „gespitzt" werden, wollen sie immer das Richtige hören:
auch der Chinese versteht oft genug ganz etwas anderes,
als was der Sprechende gemeint hat, und allerhand Miß-
verständnisse sind gar keine Seltenheit.
Da erscheint eines Tages, so erzählt eine chinesische Fabel,
ein Gelehrter, der zeitlebens bei einer Schar Buben Lehrer gewesen
war, vor dem Konige der Unterwelt, Jenwang. Dieser erkundigte
— 166 —
sich über die Verdienste und Verschuldungen des Mannes. Die
„kleinen Teufel" traten mit seinem Sündenregister vor — das Ver-
zeichnis der Tugenden war dem armen Manne verloren gegangen
— und beschuldigten ihn vor allem, daß er während seines Lebens
den Schülern so viele falsche Charaktere (Schriftzeichen) beigebracht
habe. „Das ist eine recht schwere Sünde ", sprach Jenwang, „dafür
mußt du in einen Hund verwandelt werden/ — »Ach, gnädiger
Herr", flehte der arme Gelehrte, „wenn ich doch einmal zum Hunde
verurteilt bin, dann laßt mich wenigstens eine Hündin werden." —
„Eine Hündin, weshalb denn grade das?" — »Ach ich mochte
gerne eine Hündin werden, denn im Litji (Buch der Ceremonien)
steht geschrieben; Ist Reichtum im Anzüge, so schnappt ihn die
Hündin fort: naht Ungemach heran, so geht ihm die Hündin aus
dem Wege." Als Jenwang dieses hörte, schrie er in hellem Zorne:
„Deine Dummheit hat keine Grenzen ! Selbst in meiner Gegenwart
liest du noch die Bücher verkehrt. Für einen Hund bist du viel
zu dumm, du würdest niemals richtig bellen; ein stummer Fisch
sollst du werden!" Der arme Sünder wurde dann in Schuppen
gekleidet und ins Meer geschickt.
Der Text heißt im Ceremonienbuche : „Lin tz'e mu kou tei;
lin naen mu kou mien. u Die Laute mu kou heißen Hündin; die
Zeichen aber im Texte, welche auch mu kou gelesen werden, be-
deuten sich nicht überstürzen, und dann kommt freilich ein ganz
anderer Sinn heraus : „Ist Reichtum im Anzüge, so überstürze dich
nicht, ihn fortzuschnappen; naht Ungemach heran, so überstürze
dich nicht, ihm aus dem Wege zu gehen."
Ein Chinese aus dem Süden wollte gern die Mandarinensprache 1 )
erlernen. Sein Name war Mingpei ; da er jedoch nichts weniger
als ining-pei (klug) war, nannte ihn jedermann Hutu, d. h. dumm.
Das gewöhnliche Platt des Landvolkes war für seinen hohlen Kopf
nicht gut genug; er wollte gern mit den höheren Kreisen verkehren
können, mit Gelehrten und Mandarinen und vor allem der Welt
zeigen, daß er mit Fug und Recht seinen Namen trage. Da war
es aber nötig, die Gelehrtensprache ordentlich zu verstehen und zu
sprechen. Ein kleines Bündel mit wenigen Habseligkeiten war bald
geschnürt, die Hauptsache darin waren einige Lot Silber; damit
l ) Unter Mandarinensprache versteht man hauptsächlich das höhere Chine-
sisch, wie es in den nördlichen Provinzen und besonders in Peking gesprochen
wird. Der Dialekt im südlichen China ist davon vollständig verschieden, und
deshalb versteht ein Südchinese den Nordchinesen in der ersten Zeit ebensowenig
wie ein Franzose den Engländer.
— 167 —
gedachte Hutu seinen Lehrer, der ihm die Mandarinensprache bei-
bringen werde, zu besolden. Ein Schiff brachte ihn nach wenigen
Tagen ati( einen großen Hafenplatz. Dort war viel Volk versammelt,
hauptsächlich Kaufleute und Kulis. Keinem fiel es ein, den „sim-
pelen Südländer" (Naenmaentse) zu beachten, denn Fremde gab es
dort alle Tage zu sehen. Hier werde ich schwerlich einen Lehrer
finden, dachte Hutu; hier scheint die Weisheit keinen rechten Bo-
den zu haben. Er nahm deshalb sein Bündel auf den Rücken und
zog des Weges zu Fuß weiter.
Als er einige. Tage marschiert war, kam er in ein kleines
Dorf, . darin warv^j still und friedlich. Hier ist Ruhe und Einsam-
keit, dachte unser Held, da kann ich ungestört der Weisheit dienen.
Eben sah er eine Anzahl Leute aus einem niedrigen Hause kom-
men, in schmutzigen und zerlumpten Kleidern, während andere vop
gleichem Aussehen dort einkehrten. Da muß wohl eine Hochschulfe
sein, murmelte Hutu still vor sich hin uud ging oh^e.^eitereB
hinein. Der Ort war aber keine Hochschule, sondern eine Kneipe für
Kartenspieler und loses Gesindel. „Vorsicht! kein As noch zwei!"
rief ein Spieler in erregtem Tone. Das ist sicher Mandarinendialekt,
dachte Hutu, näherte sich den Spielern und flüsterte mit beschei-
dener Stimme: „Was sprecht ihr denn da?" — „Fort von hier!*
schrieen ihm die Spieler zu, denn sie merkten wohl, daß er aus
fremder Gegend kam. — „Ich habe Silber in meinem Bündel",
sprach Hutu. — „Willst du denn auch mit einsetzen in unser
Spiel?" — „Ich kann nicht spielen, aber ich möchte gern die
Mandarinensprache lernen und bin auf der Suche nach einem Lehrer."
Das ist ja ein dummer Südländer, dachten die Spieler bei sich, den
müssen wir einmal etwas leichter machen. „Einen Lehrer suchst
du, dann kommst du gerade recht. Du brauchst auch nicht viel
Geld auszugeben und große Auslagen zu machen. Wir alle sind
Lehrer der Wissenschaft, such dir beliebig einen aus, mache ihm
Zuo-j (Manipulation mit den Händen beim Begrüßon) und begrüße
ihn. Dann kaufst du einen Krug Wein, läßt eine Schüssel Fleisch
herrichten, deinen Lehrer zu bewirten. „Ich", sprach der Haupt-
spieleiy .»verzichte auf eine Mahlzeit mit vier Schüsseln, acht Tellern
und einem großen Topfe Fleisch. (Eine Mahlzeit, die einigermaßen
etwas sein soll, muß wenigstens acht verschiedene kleine Gerichte
in Tellern haben und vier größere Gerichte in Schüsseln.) Ich will
dir die Weisheit lehren als Freund und gebe die Versicherung,
wenn du in die Heimat zurückkehren wirst, wird niemand so gut
die Mandarinensprache verstehen als du." Wie sich der Südländer
— 168
3
JZ
U
<Si
C
<ü
x:
o
TS
x:
u
"35
0)
c
c
s
so glücklich fühlte, als ihm derartige glänzende Aussichten gemacht
wurden! Sogleich ging er auf die Straße, kaufte Schnaps und eine
Schüssel voll Fleisch, warf sich vor dem Spieler auf den Boden und
begrüßte ihn als seinen Lehrer. Dieser ließ sich Fleisch und Schnaps
gut schmecken, während Hutu zur Seite stand und bediente. Der
— 169 —
Schnaps brachte den „Lehrer" bald in fröhliche Stimmung, und ehe
er fertig gegessen, sprach er zu seinem Schüler: „ Jetzt, Junge,
geht das Lernen los. Was ich dir vorspreche, mußt du schön
nachsagen. Sprich: Ich." — „Ich" wiederholte Hutu. — „Sprich:
Zum Spaß." — „Zum Spaß," antwortete wiederum Hutu. — „Jetzt
kommt der letzte Vers; gib wohl acht, damit du ihn gut behältst.
Sprich: Jawohl." — „Jawohl", wiederholte gehorsamst unser Hutu.
„Hast du jetzt alles behalten? Sprich das Ganze einmal zusammen."
— „Ich — Zum Spaß — Jawohl" (Uo nao tschao uöl schi). „Recht
so; jetzt kannst du mit jedem Mandarine verkehren und in deinem
Dorfe den Aeltesten machen. Kehre nun heim, damit deine Weis-
heit auch anderen zu gute komme." Freudestrahlend zahlte Hutu
seinem „Lehrer" die Hälfte des mitgebrachten Silbers, schnürte von
neuem sein Bündel und machte sich auf den Heimweg. Kaum
konnte er den Augenblick erwarten, wo er die Seinen wiedersehe.
Ein günstiger Wind brachte ihn in einigen Tagen über das Meer.
Noch hatte er zehn Stunden zu gehen, aber auch diese legte er
ohne Rast zurück. Eben war es Mitternacht, als er vor der Türe
seines elterlichen Hauses stand. Mit einem Steine, den er vom
Wege aufhob, schlug er recht unsanft gegen die Türe: ku-tung,
ku-tung! klang es durch die stille Nacht. Die Hunde stimmten ein
allgemeines Geheul an, als ob ein Trupp Räuber gekommen sei.
Die Mutter hatte zuerst den Lärm vernommen, und sie eilte schleunigst
an die Tür. „Wer ist das?" fragte sie ein wenig schüchtern. „Ich",
antwortete Hutu. (Von hundert Chinesen, welche klopfend an der
Türe stehen, wird kein einziger seinen Namen nennen auf die Frage :
wer da sei. Alle antworten mit „Uo u (ich). „Wer ist das Ich?"
(schemno uo?) — „Ich." — „Nenne deinen Namen." (Sing sehe-
muo?) — „Ich." — (Merkwürdig, daß niemand auf der Welt gern
seinen Namen nennt.) „Weshalb klopfst du so schrecklich gegen
die Tür?" — „Zum Spaß", antwortete er da daußen. Die Mutter
verstand das nicht und lugte deshalb durch die Türritze, um den
Ruhestörer zu erkennen. Als sie ihren Sohn erblickte, machte sie
schleunigst auf, und ihre erste Frage war: „Mein Sohn, bist du
wieder da, hast du jetzt die Mandarinensprache erlernt?" — „Ja-
wohl", antwortete der gelehrige Sohn. Im Nu war das ganze Haus
auf den Beinen. Groß und klein hüpfte vor Freude, alle taten, als
ob sie trunken seien. An ein Schlafen war nicht mehr zu denken.
Jetzt ging's ans Beratschlagen, wie man den Helden des Tages
am besten feiern könne. Es wurde beschlossen, alle Bekannten
und Verwandten und alle Nachbarn der „vier Ecken und acht Winkel"
— 170 —
zu einem gemeinschaftlichen Schmause einzuladen, damit sich der
Ruf des gelehrten Sohnes recht weit verbreite. Die Eingelade-
nen freuten sich dann königlich an dem Schmause und noch mehr
darüber, daß man jetzt einen „Aeltesten" im Dorfe habe: jetzt
dürfe der Mandarin nur mal getrost kommen, jetzt sei jemand da,
der mit ihm reden könne. Die Gelegenheit hierzu sollte sich denn
auch bald bieten.
Im Dorfe war ein Mord vorgefallen. Als der Mandarin davon
Kunde erhielt, machte er sich sofort auf zur Leichenschau. (Vergl.
U. S. 165.) Als er sich nach dem Tatbestand erkundigte und die
Umstehenden befragte, verstand aber auch kein einziger ein ein-
ziges Wort von allem, was der Beamte gesprochen hatte. „Was
seid ihr doch für einfältige Leute! Habt ihr denn niemanden hier
im Dorfe, der die Mandarinensprache versteht?" — „Ja doch", er-
widerte der Vorsteher und ging sofort unsern Hutu suchen. Als
dieser angekommen, fragte ihn der Mandarin: „Weißt du, wer diesen
Mann hier umgebracht hat?" — ,Jch", antwortete Hutu. — „Du
hast den Mann ermordet? Weshalb hast du das denn getan?" —
„Zum Spaß", erwiderte Hutu entschlossen, gerade wie er es ge-
lernt hatte. — „Zum Spaß jemanden morden, das nennt man Lust-
mord (Chi-scha). Dieses Verbrechen wird gemäß den Vorschriften
des kaiserlichen Gesetzbuches mit dem Tode durch den Strang be-
straft, nach vorhergegangener Kerkerhaft." — „Jawohl", sprach
Hutu und glaubte nun was wunders er geleistet habe. Die Ge-
richtsdiener aber, welche der Manderin mit sich geführt hatte,
ergriffen sogleich den armen „Sprachenkenner", legten ihm die
Fesseln an und führten ihn mit sich ins Gefängnis. Der Mandarin
berichtete den Vorfall an den Kaiser, welcher die Todesstrafe be-
stätigte. Als das kaiserliche Schreiben angekommen war, wurde
Hutu durch das Westtor 1 ) zur Stadt hinausgeführt und dort an
einen Galgen gehängt — die „Mandarinensprache" hatte ihm das
eingebracht.
-) Der Westen gehört zum Jin (Prinzip des Todes, der Finsternis, des
Bösen usw.). Die Exekution wird gewöhnlich zu Winteranfang vorgenommen,
weil der Winter gleichfalls zum Prinzip des Jin gehört. (Vergl. U. S. 706).
Zweiter Teil.
Erinnerungen aus Peking.
China ist ein großes Land und die Chinesen sind ein zahlrei-
ches Yolk. Die Hauptstadt Chinas heißt Peking und als Hauptflüsse
werden der Huang-ho und der Jang-tse-kiang genannt.
So viel und vielleicht noch etwas mehr Geographie hat man
schon in seiner Jugend gehört „selbst wenn es nur eine Yolksschule
war die wir besuchten. So ein bischen vergißt man auch nicht leicht
mehr, zumal wenn des öftern die Rede von einem Lande gewesen
ist und darüber geschrieben wurde, wie es in dem letzten Jahren
besonders zur Zeit der Boxer über China der Fall gewesen.
Aber nicht jedem ist es beschieden, je in seinem Leben nach
China zu kommen und der Hauptstadt des „himmlischen Reiches"
einen Besuch abgestatten. Auch ich hätte mir das in der Jugend nicht
träumen lassen. Das es dennoch geschehen, brachten die Umstände,
so mit sich. Als Missionar in Süd-Schantung jahrelang tätig, wurde
ich von meinem Bischöfe beordert für einige Zeit die Stelle eines
Militärseelsorgers bei der deutschen Besatzungstruppe in Peking,
Lang-fang und Jantzuin zu vertreten. Während meines halbjährigen
Aufenthaltes daselbst nun, habe ich mir denn zur gelegenen Zeit
die Hauptstadt des Chinesenreiches selber ein wenig angesehen.
Allerdings nur oberflächlich und was ich gesehen, ist auch nicht
viel. Es gibt in Peking weder eine Tramway noch eine Elektrische
oder sonst ein Beförderungsmittel mit dem man schnell vom Flecke
kommt. Die Stadt aber ist sehr weitläufig und ehe man am gewünsch-
ten Ziele ist, dauert es oft stundenlang.
— 172 —
In Folgenden will ich dem freundlichen Leser meine Pekinger
Eindrücke in Form einer losen Plauderei unterbreiten. Vielleicht
können ihm dieselben zur Zeit der . langen Winterabende etwas
Abwechselung verschaffen. Bemerkt muß noch werden, daß seit-
dem einige Jahre verflossen sind und daß sich die geschilderten
Verhältnisse unterdcß in mancher Beziehung wohl verändert haben
mögen. Peking steht ja auch stark unter den modernen Einflüssen,
die nicht verfehlen selbst dem Stadtgebilde allmählich eine ver-
änderte Physiognomie aufzudrücken. Ich lade zunächst ein zum
Spaziergang auf die Mauer der Hauptstadt
des himmlischen Reiches.
jlso gleich in höhere Regionen aber vom Himmel doch noch
weit genug entfernt. Aber wir haben hier oben den nicht
zu unterschätzenden Vorteil Pekings Staub weit unter den
Füßen entfernt zu wissen und nur die allerfeinsten Molo-
küle schwingen sich zu unserer Nase empor.
Nicht doch auf die Mauer, höre ich ein schwaches Gemüt bitten ;
ich leide an Schwindel und könnte ja herunterfallen. Nur ohne
Sorgen und rein gar nichts gefürchtet. Auf der ganzen Welt gibt
es wohl keine Umfassungsmauer in derart massiven Verhältnissen,
wie sie die Stadtmauer von Peking aufweist. Man kann sich dort,
wo die Aufstiege sind (es gibt deren sechszehn), gemütlich in einem
Wagen hinauffahren oder in einer Säefte tragen lassen, kann auch hin-
aufreiten per Esel oder Pferd, gerade wie es beliebt. Nur die Chinesen
dürfen sich solches nicht gestatten; ihnen ist es in der Regel nicht
einmal erlaubt, still bescheiden zu Fuße eine Stadtmauerpartie um Pe-
king zu machen, da die Mauer zum Schutze der Bürger dienen soll,
nicht aber, damit diese ihre Promenade darauf machen. Die Ausländer
nun freilich sind anderer Ansicht und ihnen bietet der hohe, luftige
Weg ein beliebtes Sanssouci, zumal während der heißen Jahreszeit.
Voriges Jahr hatten gar mehrere Italiener eine Kneipe dort aufgeschla-
gen, die ungemein starken Zuspruch hatte, besonders von den Solda-
ten, und die Kneipianer sollen gar nicht erbaut gewesen sein, als eines
guten Tages von Polizeiwegen mit der Bude aufgeräumt wurde. Die
Chinesen sollen sich über den Unfug geärgert haben und die gesitteten
Europäer noch mehr. Wer jetzt eine Runde auf der Mauer macht,
nimmt sich etwas Proviant mit und eine Flasche Wein oder Bier und
in der Regel stellt sich der Appetit schon ein, ehe man die halbe Runde
— 173 —
vollendet. Eh bedarf nämlich fünf voller Stunden und wenn man es
gemütlich tun will und sich hier und da etwas aufhält, kann man
ungefähr auf einen Tag rechnen.
Die Mauer in der Nähe betrachtet, macht einen ernsten trot-
zigen Eindruck; doch geben ihr die gewaltigen Dimensionen und
das grauschwarze Gestein auch ein altehrwürdiges Aussehen. Unwill-
kürlich denkt man beim Anblick derselben an die XJnsume von Zeit,
Mühe, Arbeit und Geld, welche da zusammengeschichtet ist. Wie
viele Millionen Hände haben sich regen müssen, und wie viele
Schweißtropfen mögen nicht die schweren Steine benetzt haben.
Und all die Hände haben längst zu arbeiten aufgehört und auch
jene sind zu Staub zerfallen, die das imposante Werk ersonnen
und ins Dasein gerufen. Es war das an erster Stelle der Kaiser
Yung-luo (1406 bis 1437), einer der berühmtesten Monarchen aus
der Ming-Dynastie. Er war es auch, welcher aus der südlichen
Kaiserresidenz Nan-king seinen Hauptsitz zum Norden nach Pei-king
verlegte, während er in Nan-king seinen Sohn als Kegent zurück-
ließ. Unter Yung-luo wurde Pei-king zu dem gemacht, was e.s in
seinen Hauptzügen jetzt noch ist. Von ihm rühren auch der Glocken-
und Trommelturm her, sowie die bedeutendsten Pagodenanlagen,
die wir jetzt noch bewundern.
Das unterste Fundament der Mauer besteht aus einer Misch-
ung von Kalk und Kieselerde, die in einer Mächtigkeit von mehreren
Fuß festgestampft ist und eine steinartige Härte erlangt hat. Auf
dieser Schicht liegen die gewaltigen Fundamentquadersteine, von
denen einzelne Blöcke nicht selten mehrere Meter lang sind. Auf
dieser Quarzsteinmauer, die einen Meter hoch sein mag, erhebt sich
dann die Mauer aus gebrannten Ziegeln. Dieselben entstammen
der Kaiserlichen Brennerei; jeder einzelne wiegt 60 Pferd und ist
mit einem Siegel versehen. Außer den Kaiser!. Bauten dürfen
selbige für andere Zwecke nicht verwandt werden. Das Material ist
von besonderer Güte und Festigkeit und ich konnte bei Gelegen-
heit einer Mauer-Reparatur beobachten, wie solche Steine aus einer
Höhe von 20 Fuß auf den Boden geworfen, heil und unbeschädigt
blieben. Es wäre ein interessantes Rechenexempel, zu untersuchen,
wie viel Steine zum Baue der Pekinger Mauer verbraucht worden
sind; wäre ich lange genug in Peking gewesen und ein Rechen-
meister, hätte ich mir sicher die Mühe gemacht, solches herauszu-
finden. Die Aufeinanderschichtung der Steine ist derart, daß jede
Schicht nach oben um einen Fingerbreit nach innen rückt ; ein guter
Kletterer könnte somit wohl hinaufkrabbeln, falls er nicht das
— 174 —
Gleichgewicht verlöre. Sollen es doch chinesische Diebe verste-
hen, sich an platter Wand mit Händen und Fußen hinaufzubewegen ,
ähnlich wie die Fliege an der Wand. 1 )
Doch da wird's dem Leser wieder seh windlich, ehe wir über-
haupt die Mauer einmal bestiegen ; auch habe ich ihm so Mancherlei
vorgeplaudert, daß es jetzt die höchste Zeit wird, den Aufmarsch
zu wagen. Wir schlendern gemütlich den sanft aufsteigenden breiten
Weg hinan. Derselbe ist an der Außenseite mit einer starken Brust-
wehr versehen, die das Herunterfallen unmöglich machen soll. Oben
angelangt, vergeht der Schwindel vollends, denn wir haben da nicht
mehr die Empfindung, als befänden wir uns auf einer Mauer, sondern
vielmehr auf einer gewaltigen Promenaden-Straße, die mit gebrannten
Steinen säuberlich gepflastert ist. Aber auch die Natur hat sich
dort eingenistet. Wir finden die ganze Mauer stark mit Strauch-
werk bewachsen, dessen Wurzeln sich in die Fugen der Steine
eingeklemmt haben. Nur in der Mitte ist ein schmaler Gehweg.
Auch an der Außenseite der Mauer haben hier und da Bäume und
Sträucher ein Plätzchen gesucht und wo sie ein solches gefunden,
ihre lebende Kraft gezeigt. Bisweilen ist das starke Gemäuer in
die Höhe gehoben, mächtige Steine haben die Wurzeln zersprengt
oder aus den Fugen gedrängt; kleine Bäumchen sind aber allge-
mach zu starken Bäumen emporgewachsen. Die Chinesen lassen
die Natur an solchen Stellen nach Belieben walten und Keiner denkt
daran, daß sie das Mauerwerk beschädigt. Wir finden deshalb z. B.
auf Pagodendächern ganze „Waldungen", die selbst monumentale
Bauten zum Falle bringen.
Dort, wo die Gesandtschaftsviertel sind, hat man mit der Natur
an der Mauer aufgeräumt und oben einen passablen Weg hergestellt.
Die Mauer ist so breit, daß drei Gespanne neben einander Platz
finden, ja man kann sagen, einem vierten noch ausweichen können.
Da ich kein Metermaß bei mir hatte, schritt ich die Breite der Mauer
ab und fand, daß dieselbe 25 Schritt beträgt. Alle 117 Schritte sind
bastionartige Ausbreiten, die 18 Schritt im Gevierte haben. Die
Mauer ist also an diesen Stellen 43 Schritt breit. — Nun kann sich
der verehrte Leser ungefähr eine Vorstellung machen von der Größe
des Pekinger Promenadenweges : Eine Mauer, die zur ebenen Erde
41 Fuß hoch ist und oben eine Breite von 25 Schritt hat; alle
*) Die italienischen Bersagliere, erzählt man sich, verstehen es auch, an
alten Mauern emporznklettern, falls Finger- nnd Zehenspitzen sich nur irgendwo
anhaken können, ähnlich wie der Specht am Baume. Die Chinesen haben es
also in derartigen Kunststücken noch eine Stufe weiter gebraucht
— 175 —
117 Schritt gegliedert von Kanonentürmen; kreneliert von manns-
hohen Schießscharten ; an den vier Ecken gefestigt durch burgartige
Ausbauten; belebt durch neun palastartige Tortürme und eine Fläche
umschließend, die mehr als vier Stunden im Quadrat hat. Und
geradezu überwältigend ist der Ausblick zumal von den südlichen
Mauern, wo wir den Aufstieg unternommen. Man glaubt sich da
in Mitte zweier Städte versetzt und ist es in der Tat. Rechts
haben wir die Tartarenstadt mit den Kaiserlichen Palästen, den vielen
Pagoden, den modernen Bauten der Gesandtschaften, den herrlichen
Türmen der katholischen Kathedrale. Links liegt die Chinesenstadt
und hart an der Mauer hören wir das Dampfroß vorbeischnauben,
links nach Tientsin, rechts nach Pao-ting-fu. Das Haupttor der
Tartarenstadt (Tsien-men) ist flankiert von zwei Bahnhöfen; einer
besorgt den Verkehr zum Osten, der andere zum Westen. Aus der
Chinesenstadt bemerken wir als Hauptsehenswürdigkeit in der süd-
lichen Ecke den Himmelstempel emporragen ernst und feierlich,
und azurn glänzen seine Dachziegel gleich dem blauen Himmel,
den er vorstellt. Auch die Chinesenstadt ist mit einer ähnlichen
Mauer umgeben wie die Tartarenstadt, nur ist selbige etwas niedriger;
doch wollten wir auch diese in den Bereich unseres Spazierganges
ziehen, würden wir an einem Tage nicht fertig Vwerden.
Verfügen wir uns zunächst zur Tsien-men. Auf dem Wege
dorthin fällt uns als erste Sehenswürdigkeit der deutsche Gesandt-
schaftsgarten in die Augen. Wenn in denselben anfangs Mai die
vielen Fliedersträucher ihr Aroma ausströmen, vergißt man für eini-
ge Zeit, daß man in Peking ist von wegen des ungewöhnlichen
Wohlgeruches. Der Garten ist seit der Boxerzeit um ein gutes Stück
vergrößert worden. Vor allen anderen Gesandtschaftsgärten hat er
den hohen Vorzug, daß man aus demselben direkt auf die Mauer
steigen und somit bequem die Gartenpromenade mit der Mauer-
promenade verbinden kann. Und hat man sich dort oben an den
beiden Städten rechts und links satt gesehen,^ dann schweift der
Blick hinaus in die Ferne zu den Bergen, die Peking in Huf-
eisenform amphi theatralisch umgeben. Ein herrliches ^Panorama
das, und wenn auch sonst nichts auf der Mauer unseren Blick
fesselte, lohnte sich schon der Aufstieg. Nur schade, daß die Berge
vielfach von einem Dunstschleier umhüllt sind und ihre Konturen
weniger scharf hervortreten. Im Winter aber, wenn die Luft rein
und der Himmel wolkenlos ist, erscheint das Gebirge gleich
einer Kiesenmauer in seinen äußeren Formen und Umrissen klar
und deutlich.
— 176 —
Ja das war wahrhaftig ein Platz, geeignet für eine Kaiser-
8tadt als Metropole des „Himmelssohnes." Von drei Seiten durch
die Natur geschützt, sollte sie auch noch durch Menschenhand ge-
festigt zu einem Bollwerke gemacht werden, an dem die Feinde
vergebens ihre Macht erprobten. Der Gedanke, in einer wohlum-
festigten Stadt zur Zeit der Not Schutz und Asyl zu finden, beflügelte
den Mut des Volkes und hunderttausende fleißige Hände regten sich
jahrelang und schufen ein Werk, das uns heute noch in Bewunder-
ung setzt; Puscherei und Überarbeiten bei dem Baue gab es da
nicht, denn jeder wußte, daß der Schade des Ganzen auch seinen
eigenen Schaden bedeute. Überdies galt es ja dem Himmelssohne
eine Feste bauen und für den war eben das Beste gut genug.
Gleich an den Gesandtschaftsgarten stößt das deutsche Post-
haus, ein stattlicher zweistöckiger Bau. Auf dem Schilde über dem
Eingangstor sehen wir den preusischen Adler seine Fänge spreizen.
— Und das chinesische Post- Verwaltungsgebäude ? Das ist beschei-
den in einer alten Pagode untergebracht. Man sieht, das Verkehrs-
wesen liegt in China noch in den Windeln und es wird erst
größeren Aufschwung nehmen, wenn die Chinesen gelernt haben,
Briefe zu schreiben und die Lust dazu verspüren. Jetzt ist wohl
fraglich, ob von 500 Zopfträgern (von den Frauen gar nicht zu
reden) auch nur einer die Empfindungen seines Herzens zu Papier
bringen kann. Im Übrigen beschäftigt er sich auch nicht viel mit
Herzensempfindungen und huldigt dem Grundsatze : Aus den Augen,
aus dem Sinn; es sei denn, ein in der Ferne weilender Freund
oder Bruder habe vorrätige Batzen und sei geneigt, solche zu ver-
schenken. Dann aber geht er selber hin und holt sie sich, ohne
einer postlichen Beihülfe zu benötigen. Die deutsche Post versorgt
auch größtenteils den Verkehr für die in Peking weilenden Ita-
liener und Österreicher und hat sich seit ihrem Bestände (drei Jahre)
schon gut rentiert.
Dem Postgebäude gegenüber ist in der Stadtmauer ein neuer
Durchgang geschaffen zum Bahnhofe Peking-Tientsin. Die alte
Riesenmauer wurde von oben bis unten eine Strecke weit bloßge-
legt, dabei kam auch ihr Innerstes zum Vorschein. Der Kern
besteht aus festgestampfter Erde, aber stellenweise verbindet sich
das beiderseitige Mauerwerk der äußeren Umhüllung zu einem
Ganzen. Nachdem der tunnelartige Durchgang fertig gestellt, ist
die Mauer nach oben wieder in ihrer früheren Form aufgeführt.
Peking ist aber um ein neues Tor bereichert worden: die Pforte
der Ausländer.
177 —
K. Pieper, „Neue Bündel*
12
— 178 —
Gehen wir weiter voran, erblicken wir zur Rechten ein freies
Terrain. Es ist das der Exerzier-, Renn- und Spielplatz der Ame-
rikaner, die dort ihre Gesandtschaft und Schutztruppen haben. Finden
militärische Übungen statt, dann hat sich an der nördlichen Straße, die
nur durch Pallisaden abgesperrt ist, regelmäßig eine Schar Chinesen
postiert, welche mit großem Interesse das Treiben der Ausländer
betrachtet. Zumal ist das beim Pferderennen der Fall und erst
recht, wenn Damen daran teilnehmen. Nur will es den Chinesen
nicht praktisch erscheinen, daß die Frauen so „Überzwerg" auf den
Pferden sitzen und sie betrachten es als ein halbes Wunder, daß
dieselben bei schnellem Reiten nicht herunterfallen. Die chinesi-
schen Damen, zumal junge Frauen, wenn sie „Muttern besuchen
gehen", reiten auch mit Vorliebe ein Tier, in der Regel aber einen
Esel, und dann muß der Mann auch gewöhnlich noch den Escls-
führcr machen. Sie setzen sich aber auf das Tier gerade wie die
Männer. Damensättel sind in China unbekannte Dinge.
Dicht beim amerikanischen Anwesen liegt die holländische
Gesandtschaft. Dieselbe ist in einem Pagodenhofe untergebracht,
und die Götzentempel dienen dem Vertreter der holländischen Nation
als Aufenthaltsort ; auch die Soldaten haben es sich in den Tempeln
wohnlich gemacht, nachdem sie die Götzen auf die Straße gesetzt.
Jedenfalls waren mehr Götzen darin als jetzt Soldaten : im Ganzen
soll es ein Dutzend sein, bestimmt den Chinesen den nötigen Re-
spekt einzuflößen und den Gesandten zu beschützen. Wenn es
darauf ankäme, würde wohl das eine ebenso schwierig sein, wie
das andere. Die Hauptsache ist wohl, daß die Holländer auch
sagen können: ecce nos: „wir sind da" — ebenso wie die Spanier,
Italiener und Österreicher, die wie man sagt, in China alleweile
doch noch bitterwenige Interessen zu vertreten haben. Wenn aber
„Wilhelminchen" mal einen Spaziergang machte da oben auf der
Mauer und an dieser Stelle ihre Blicke nach rechts schweifen ließe
und dann die rot-weiß-blaue Fahne in den Lüften flattern sähe —
dann würde sie zweifelsohne Befehl geben, entweder Holland „stan-
desgemäß" zu vertreten oder lieber gar nicht. Der ganze Tem-
pelhof ist ein wahres Tohuwabohu von alten Steinen. Ziegeln und
allerhand Gerumpel. (Wie ich später erfahren, hat man bereits
begonnen, ein eigenes Gesandtschaftsgebäude u. dergl. aufzuführen).
Wir befinden uns jetzt „im Herzen Pekings". Der Platz,
wo wir stehen, war noch vor einigen Jahren überbaut von der
Tsien-men (vorderes Eingangstor) auch Tschöng-gi-men (wahres
Sonnentor) genannt, die von der Chinesenstadt in die Tatarenstadt
— 179 —
führt. Würde uns das gegenüberliegende mit vergoldeten (?)
Nägeln beschlagene rote Tor geöffnet, dann ständen wir in wenigen
Minuten in Mitte der Mysterien der kaiserlichen Residenz. Doch
wird durch dieses Tor keinen gewöhnlichen Sterblichen Eingang
gewährt; nur wenn der „Himmelssohn" selber die Stadt verläßt,
knarren die schweren Tore in ihren Angeln um sich allsogleich
zu verschließen, wenn der Herrscher wieder heimgekehrt. Ich sah
dieselben einmal geöffnet bei Gelegenheit der Frühlingsopfer, als
der Kaiser zu den Begräbnisplätzen seiner Ahnen in die westlichen
Berge (si~ling) gewallfahrtet war. Der alltägliche Verkehr zur ver-
botenen Stadt bewegt sich durch Nebentüren, die stetig von Soldaten
strenge bewacht werden. Vor dem Eingangstore zur Kaiserstadt
ist ein großer, mit Pfahlwerk abgetrenntes Karree, „Schachspiel-
brett" genannt (chia-tji-paen) und obgleich drei Hauptstraßen auf
demselben münden und der direkte Durchgang eine bedeutende
Verkehrserleichterung bedeuten würde, darf weder Tier noch Wagen,
ja nicht einmal der stille Wanderer gerade ausgehen, sondern muß
den freien Platz in weitem Bogen umkreisen. Uns Ausländern
kommt das rätselhaft, ja lächerlich vor: der Chinese findet solches
selbstverständlich, weil es alleweile immer so gewesen ; und als zur
Zeit der provisorischen Regierung in Peking die Europäer den
Pallisadenzaun bei Seite geschafft und ihren Weg geradeaus ge-
nommen, wurde der „Abusus" sofort eingestellt, als die Chinesen
das Regiment wieder in die Hand genommen. Es scheint, der
Kaiser will „keinen Lärm vor der Türe haben" und zu diesem
Zwecke ist ein weitläufiger abgesperrter Platz vor die Türe gelegt,
der alle Lärmmacher abhalten soll. Nur den Torwächtern und ihren
Kindern ist es erlaubt auf dem mächtigen „Kaiserschachbrette" ihr
Spiel zu treiben, freilich mehr als todte Schachfiguren; denn jugend-
licher Übermut paßt nicht zum feierlichen Ernste der mystischen
Umgebung. Trotzdem wird genug Unruhe die Einsiedlerruhe des
Regenten stören: selbst das Rollen der Eisenbahnzüge und das
Pfeifen der Lokomotive wird den Himmelssohn und seine Frauen
täglich an die abendländische Kultur erinnern und an die Gegen-
wart der verhaßten Ausländer.
Der Überbau der Tsien-men ist während der Boxerzeit abge-
brannt. Es muß das ein grausiges Schauspiel gewesen sein, als
der mächtige Bau vom Feuer ergriffen, lichterloh in Flammen stand,
gleich einer gewaltigen Fackel, die die Riesenstadt und besonders
auch die Stadt des Kaisers im Dunkel der Nacht geisterhaft erhellte.
Das verheerende Element fand reichliche Nahrung, denn die Torbauten
12*
— 180 —
sind mit Ausnahme des Daches nur von Tannenholz gezimmert.
Und als der hohe Bau in sich zusammenstürzte und Feuergarben
und Funken in weitem Umkreis herumflogen, sollen viele Chinesen
schmerzerfüllt geweint haben. Der Kaiser auf der Flucht, die Kaiser-
stadt in Händen der „Barbaren": da regte sich doch bei vielen so
etwas wie Patriotismus. Jetzt ist von der ganzen Herrlichkeit nichts
mehr zu sehen außer den Fundamenten der Säulen, worauf der
Bau ruhte. Wir zählten sechs Reihen, in jeder Reihe zehn Stück;
also ein Wald von sechzig Säulen stützte ehemals den stolzen
Riesenbau.
Ein phantasievoller Franzose hat gemeint, Peking von der
Mauer aus betrachtet, sehe im Sommer aus, wie eine Riesenschüssel
Spinat, bekränzt mit Rieseneiern. Darunter verstand er die gelben
Dächer der Kaiserstadt, die aus dem Grün vieler Bäume freundlich
hervorlugen. In der Tat ist von sonstigen Gebäuden außer den
Spitzen einiger Pagoden und den gelben Dächern der verbotenen
Stadt nicht viel zu sehen, das die Kronen der Bäume überragte.
Macht man in den Straßen Pekings einen Spaziergang, so fallen
die Bäume weniger in die Augen, da sie meistens in den inneren
Gehöften stehen. So etwas wie Straßenalleen gibt es aber nicht;
das ist für das alte Kambolick zu modern und zudem würden die
ständig auf den Straßen verkehrenden Esel und Maultiere die Rinde
der Pflanzungen bald abgenagt haben. Zur Zeit der provisorischen
Regierung säumten die Franzosen in der Nähe der Pei-tang eine
ganze Straße zu beiden Seiten mit herrlichen Akazien ein, die sich
schon im ersten Jahre prächtig entwickelten. Jetzt sind nur noch
verdorrte Strünke übrig, die wie wehklagend ihre entblätterten
Zweige in die Lüfte recken. Aber von der Mauer aus betrachtet
hat im Sommer die Stadt mehr das Aussehen eines Parkes oder
Waldes denn das einer Stadt, und gewährt in dieser Beziehung
ein freundlicheres Gesicht als unsere modernen Großstädte mit ihren
„ Himmelskratzern u und Fabrikschloten.
Gegen die Abendstunden, wenn die Sonne allmählich hinter
den westlichen Bergspitzen verschwindet und der Himmel dieselben
gleich einer Riesen-Coullisso im feurigen Rot scharf abhebt, nimmt
mancher Europäer in Peking hierher seinen Spaziergang, um sich
von den Anstrengungen des Tages zu erholen. Erst recht effectvoll
und anziehend wird das Bild, wenn sich nach dem Regen weiße
Wolkenschleier um die altersgrauen Häupter der Bergkuppen legen
und ein sanfter Wind die vom Staub gereinigte Luft aus der Ferne
herüberfächelt. Das Rendezvous der Ausländer ist meistens in der
— 181 — *
Nähe der Tsien-men. Um diese Zeit kommen auch die Züge ferne
von Tientsin und Pautingfu, und von der Stadtmauer aus kann
man mit einem Blick die reisende Welt überschauen und sich ver-
gewissern ob Bekannte darunter sind. Hat der Kaiser aber mal
die verbotene Stadt verlassen um im Himmelstempel oder sonst wo
Opfer zu bringen, muß er sich's gefallen lassen auch von hier aus
als Beschauungsobjekt der Europäer zu dienen, während sich die
Chinesen in die vier Wände ihrer Wohnungen einsperren lassen.
Wenn der noch im Bau befindliche Schienweg der Lu-Han Eisen-
bahn, welcher Peking mit Hankou am Jangtse verbinden soll, ein-
mal fertig gestellt sein wird, dürfte dem „Herzen" Pekings noch
mehr Blut und Leben von Außen zugeführt werden. Dann wird
sich das Riesengerippe der Außenmauer, die jetzt noch so viele
leere Flächen umschließt, vielleicht auch immer mehr anfüllen mit
Wohnungen und vielleicht auch noch mit — Fabrikschloten. Wäh-
rend unsere Städte Daheim im Allgemeinen zu klein werden und
das Leben immer mehr nach außen flutet, sind fast alle chinesischen
Städte zu groß geworden, so daß ganze Flächen brach liegen oder
höchstens als Gartenfeld benützt werden.
Von der Tsien-men bis zum westlichen Ende der Mauer finden
wir den ganzen Weg mit Buschwerk dicht bewachsen. Nur ein
schmaler Pfad für Fußgänger ist offen getreten. In unbewachten
Augenblicken wagen sich Ziegen und Schafe auf die Mauer um
das Blättergrün abzuweiden. Im Herbste aber, wenn an dem
Strauchwerke die schleenartigen Beeren reif geworden, werden sie
von Kindern abgepflückt und gegessen ; wer aber recht viele gesam-
melt hat, läßt Schnaps daraus brennen.
Beim Passieren des Huen-u-men (Tor des gewaltigen Militärs),
welches den letzten Durchgang in der südlichen Stadtmauer bildet,
habe ich vergessen, meinen Begleiter auf die Trümmer der Naen-
t'ang 1 ) aufmerksam zu machen. Dieselbe lag ganz in der Nähe des
Huen-u-men und es war für die Boxer ein leichtes, dieselbe von
der Stadtmauer aus zu bombardieren. Jetzt sind die Trümmer
ziemlich wieder aufgeräumt und aus denselben sind bereits einige
Wohnungen für Arbeiter und Katechisten eingerichtet; auch das
Gotteshaus soll demnächst in seiner früheren Pracht neu erstehen.
Durcheilen wir die westliche Strecke der Mauer, so springt
uns als Hauptbauwerk die Pei-t'ang in die Augen mit den vielen
zugehörigen Residenzhäusern. Die Pei-t'ang macht mit ihren zwei
gothischen Türmen einen gefälligen Eindruck. Dieselbe liegt mitsamt
l j -Naen-t'iuig = Bildliche Kirche; Pei-t'ang = nördliche Kirche.
— 182 —
den Missionsanstalten innerhalb der verbotenen Stadt. Grund und
Boden wurden im Jahre 1887 vom Kaiser eingetauscht, gegen den
früheren Platz nebst Kirche und Residenzgebäude. Das ehemalige
Besitztum war ein Geschenk des Kaisers Khang-hi. Da es aber
b£
c
CS
5
SC
n
CL
hart an die kaiserlichen Palaste grenzte, war dem Hof die allzunahe
Nachbarschaft der Missionare schon längst unbequem gewesen und
seit vielen Jahren suchte man nach einer Gelegenheit, sie zu ent-
fernen, am Liebsten aus dem Bereiche der verbotenen Stadt. Da
aber Rom und der Bischof Tagliabue auf solches Ansinnen nicht
— 183 —
eingingen, verstand man sich dazu, der Mission ein anderes Grund-
stück zu geben, das größer war als das abgetretene, aber noch
innerhalb der Kaiserstadt lag. Überdies trug die Regierung alle
Baukosten für die neue Ansiedlung. Die alte Kathedrale steht noch
äußerlich unverändert; nur sind die Kreuze von den grauen Türmen
genommen, welche wie wehmütig auf die heidnische Umgebung
des Kaiserhofes herniederschauen. Sollte es der alten Kaisermadam
einmal einfallen sich zu bekehren, so könnte die Kathedrale sofort
als Privat-Kapelle dienen.
Als höchster Punkt im Stadtgebildc gilt der Pavillon auf dem
Kohlenhügel; derselbe ist auf dem Rundgange um die Stadt überall
zu sehen. Der Ausblick von hier über die Stadt soll wundervoll
schön sein.
In früheren Jahren stand dem besseren Publikum Park und
Kohlen hügel zum Besuche offen; daß er später geschlossen wurde,
ist das Verdienst eines Ausländers gewesen, der sich dort lümmelhaft
betragen hatte. Der Hügel dehnt sich nach Ost und West wellen-
förmig aus und jede Wellenspitze krönt ein kleiner Pavillon. Er soll
einen liegenden Phönix vorstellen mit ausgebreiteten Flügeln.
Das zweite Tor (Si-tsche-men) im westlichen Ende der Mauer,
führt zum kaiserlichen Sommerpalaste (Uen-schou-schen, Berg der
zehntausend Jahre) und der ganze Weg dorthin ist mit glatt gemei-
selten Quadern belegt. Der Verkehr an diesem Tore ist ziemlich
rege und es halten sich dort besonders viele Bettler auf. Da wir
von oben heruntersehen, schaut zu uns ein Armer empor; was ist
es, was aus seinem Blicke spricht! Flehentliche Bitte um Erbarmen,
stumme Verzweiflung, Bitterkeit und Wehe. Der Unglückliche hatte
ein halb verfaultes Bein; der Fuß ist schon längst verschwunden
und auch das Bein liegt blos ; ein Schwärm Fliegen peinigt ihn noch
mehr; mit einem schmutzigen Fächer sucht er sich zu wehren.
Flüchtige Menschenwogen eilen beständig an ihm vorüber; wer aber
beachtet oder würdigt ihn eines Blickes? Wir stehen da ein Weilchen,
bemerken aber nicht, daß ihm jemand auch nur eine Sapeke
in die dargebotene Hand legte. Wir werfen 50 Sapeken von der
Mauer herunter und sie fallen vor ihn auf die zerrissene Matte.
Dankbare Blicke begleiten uns noch lange, da wir schon weiter ge-
schritten. Der Arme freut sich königlich über die „königliche Gabe";
soviel hat ihm wohl sein Leben lang noch Niemand geschenkt.
Fällt mir da ein Geschichtchen über einen anderen Bettler
ein, das ich selber miterlebt und zur Kurzweil erzählen will, während
wir die nördliche Mauerstrecke abschreiten. Im deutschen Militär-
— 184 —
Lazarett war auch abseits eine kleine Unterkunft für kranke Chine-
sen eingerichtet, die dort vom Militärarzt in Behandlung genommen
und unentgeltlich verpflegt wurden. Eines Tages fand man in der
Nähe einen Mann liegen, dem die Füße halb erfroren waren und
der über alle Maßen erbarmungswürdig aussah. Er flehte um Auf-
nahme in das Krankenheim. Nicht mehr imstande, selber zu gehen,
wurde er hineingetragen und zunächst etwas mit Speise und Trank
erquickt. Es tat ihm das notwendig, denn schon seit vielen Tagen
hatte er nichts Warmes mehr in den Magen bekommen. Er erzählte
dann, daß er hoch vom Norden aus der Mongolei zurückgekehrt
sei, wo er einen Bruder habe aufsuchen wollen. Da er denselben
nicht gefunden, sei ihm auch das Reisegeld für den Rückweg aus-
gegangen und er habe sich durch Betteln den Unterhalt erwerben
müssen. Hunger und Kälte haben ihm derart zugesetzt, daß er eini-
ge Abende nicht mehr imstande gewesen sei, ein Obdach zu errei-
chen und da er im Freien übernachtet, seien ihm die Füße erfroren.
Der Militärarzt stellte bald fest, daß der eine Fuß zur Hälfte
abgenommen werden müßte, falls der Kranke mit dem Leben davon
kommen sollte. Und auch dann dauerte es noch mehrere Monate,
ehe sich der Bettler so weit erholt hatte, daß er mit Hilfe eines
Stockes umhergehen konnte. Doch da begannen auch allmählich
die Lebensgeister wieder zu erwachen. Daß er jetzt wieder geheilt,
war ihm schon recht, daß er aber an einem Fuße die Zehen ver-
loren, meinte er, sei doch eine Schande, und solche Schande müsse
ihm vergütet werden. „Wer ihm die Zehen abgeschnitten, habe
auch die Verpflichtung, selbige zu bezahlen; er bestehe darauf, daß
der Militärarzt ihm Geld dafür zahle, mit 100 Tiau (ca. 120 Mk).
wolle er sich abfinden lassen." Als ich von der Sache hörte, suchte
ich den wunderlichen Kauz auf, in der Meinung, es müsse wohl ein
Mißverständnis vorliegen. Aber nein, auch mir gegenüber kramte
er mit seiner sonderbaren Forderung heraus : Die Zehen gehörten
ihm und man hätte ihm selbige nicht abschneiden sollen ; er wolle
sie bezahlt haben. — Die Folge war, daß der undankbare Zopf-
träger baldigst an die Luft gesetzt wurde. Er wird zweifelsohne noch
lange erzählt haben von den ungerechten Tei-kui-gin (Deutschen), die
ihm die Zehen „gestohlen" und selbige nicht haben bezahlen wollen.
An den vier Ecken der „Würfelstadt" sind bastionartige Aus-
bauten, deren Dach sich gleich einem Pavillon in die Höhe schwingt.
Diese Ecklürme sowie die Tore der Stadt bringen Abwechslung
und Gliederung in die lange Einförmigkeit der Mauer. Richtet man
aus der Ferne einige Zeit seine Augen auf die unzähligen Zinnen,
— 185 —
so fangen selbige allmählich zu tanzen an und das Auge sucht nach
einem Ruhepunkte; es findet denselben in den Tor- und Eckbauten,
welche durch ihre gewaltige Monumentalität etwas Beruhigendes an
sich haben. Die Mauerzinnen nennt der Chinese nü-öl „Mädchen-
Knabe" ; die einzelne Zinne bildet gleichsam ein Wesen für sich und
die chinesische Phantasie betrachtet sie als die „Kinder" der Mauer.
Während wir auf der nördlichen Mauerstrecke fürbaß schreiten,
gesellt sich ein Wächter zu uns und da er sieht, daß wir auch chi-
nesisch plaudern können, will er uns nicht mehr verlassen. Von
ihm erhalten wir Aufschluß über die vielen Häuschen, an denen wir
bereits vorübergegangen sind, ohne recht zu wissen, was sie bedeu-
ten sollen, noch auch was die schmierigen Gesellen darin machen,
die im Vorbeigehen uns beständig anglotzen. „Die Mauer," so führt
unser Begleiter aus, „hat den Zweck, die Stadt zu beschützen, aber
sie selber bedarf auch des Schutzes und wir sind bestimmt, ihr"
diesen zu gewähren. Unsere Aufgabe ist es zu verhüten, daß niemand
ohne Erlaubnis die Mauer besteigt ; nur ihr Europäer habt die Ver-
günstigung, hier einen Spaziergang zu machen. Während der Nacht
spähen wir in die Ferne, damit kein Feind die Stadt überrumpelt."
Im ganzen sind 28 Wachthäuschen in bestimmten Abständen
auf der Mauer verteilt und zu jedem Häuschen gehören 11 Solda-
ten, welche sich gegenseitig im Dienste auswechseln. Dort oben
wird gekocht, gebraten, geschmort, Tee getrunken und Schnaps,
Opium geraucht und Tabak, Karten gespielt und Schach, mit einem
Worte ein wahres Faullenzerleben wird da geführt, und hätte uns
unser Begleiter nicht eines Besseren belehrt, ich hätte schier geglaubt,
die Kerle hätten keine andere Beschäftigung, als die Mauer zu dün-
gen und den Leuten auf die Köpfe zu spucken.
Doch allen Respekt vor dem chinesischen Nachtwächterdienst.
Daheim wurde in der „guten alten Zeit" ja auch fleißig gewacht
und es gehörte mit zur Poesie der Nacht, wenn hoch vom Turm
der Wächter um die zwölfte Stunde sein Liedchen sang, gleichsam
eine Geisterstimme im Dunkeln und wohl für manchen, der es gehört,
war es ein Weckruf, an Gott zu denken und an sein Seelenheil.
In China besitzt ungefähr jedes Dorf einen oder mehrere Nacht-
wächter und ist das Dorf recht groß, hat es oft ein Dutzend. In
den Städten patroulliert fast auf jeder Straße einer. Freilich viele
Poesie verbreiten diese Wächter nicht um sich ; den ihre hölzernen
Klepper „klingen" arg trocken und dürr, und schlagen sie auf den
Tam-tam, dann ärgert man sich, daß einem der Schlaf vertrieben
wird. Das „Sion des Nordens" nun marschiert, was Nachtwächterdienst
\. ur.vr.w!': !-■■
, ■ ■ •« ■■• i i -
■ j !■■ :l:s.
— 18? —
darf. Ist Pulver in der Nähe, so wittert er es alsobald und macht
sich aus dem Staube. Übrigens haben die Chinesen gern einige
Krähenfamilien als Nachbarn im Gehöfte, selbst auf die Gefahr hin,
daß sie die jungen Küchlein fortholen. Wo die Krähe ihr Heim
aufschlägt, da soll os gut sein, Wohlstand und Reichtum sollen das
Gefolge bilden. Der Rabe von Peking scheint sich übrigens auch
die fortschreitende Kultur zu Nutzen zu machen; des öfteren konnte
ich beobachten, wie sich im Winter, da es sehr kalt war, einzelne
Raben auf den Rand der Schornsteine setzten, zweifelsohne in der
Absicht, sich die Füße zu wärmen, da sie im Sommer den Schorn-
steinen wohlweislich fernbleiben. Auch scheint der schwarze Geselle
in Peking mit mehr Verständnis zu krächzen als anderswo. Bald
hört sich der Ton seiner Stimme schmeichelhaft an, bald gebietend
oder zornig, es ist als ob er unter dem Einflüsse stände von Über-
mut und Laune.
In der nordöstlichen Ecke der Tatarenstadt hatten die Russen
früher eine Gemeinde. Während der Boxerunruhen ist dieselbe
zerstört; Häuser der Christen und Wohnungen der Popen wurden
verbrannt oder zerstört. Der Ort sieht sehr verwahrlost aus und
wehmütig nebenan liegt der Kirchhof, wo die Ermordeten begraben
sind. Es müssen viele gewesen sein, denn wir sehen einen ganzen
Wald von weißen Kreuzen und es kommt über uns eine Rührung und
Heimatsweh, da wir der Armen gedenken, die hier ihr Leben gelassen.
Da wir oben einen Augenblick in Betrachtung weilen, ruft
ein kleiner Knirps hao, hao zu uns herauf und steckt dabei den
Daumen seiner rechten Hand hervor. Es ist das vielfach die Be-
grüßungsformel der chinesischen Jungen in Peking geworden, wenn
sie in abgelegenen Teilen der Stadt eines Europäers ansichtig werden.
Das Jan-kui-tze (europäischer Teufel) hört man fast nirgends mehr,
statt dessen wird jetzt ein Kompliment mit hao, hao gemacht. „Gut,
Gut" heißt das zu deutsch und um die Gutheit noch einen Grad
höher hinaufzuschrauben, wird der Bas-Finger ausgestreckt. Die
Pekinger sollen das von den französischen Soldaten gelernt haben,
welche die „Gut-Phrase" überall und immer anwandten, da sie eben
kein anderes Chinesisch verstanden.
In der östlichen Mauerstrecke, südlich vom Tsi-hua-Tor liegt
die Estrade zum Betrachten der Bilder (kuan-siang-t'ä) Sternwarte
zu deutsch genannt. Jetzt allerdings ist von der ganzen Herrlich-
keit nichts weiter mehr zu sehen als die Ausbuchtung der Mauer,
auf welcher einst die astronomischen Instrumente aufgestellt waren
und die Fundamentsteine, deren feine Ziselierung noch Zeugnis
— 188 —
ablegt, daß hier dermalen eine besondere Sehenswürdigkeit gestanden.
Und in der Tat, wenn in früheren Jahren die Tributländer Chinas
aus Süd und Norden ihre Gesandten in die kaiserliche Metropole
schickten, verließ keiner dieselbe, ohne vorher die drei Hauptsehens-
würdigkeiten und Wunderdinge des Nordens betrachtet zu haben.
Besagte Weltwunder waren die große Mauer (die zehntausend Li lange
Stadt: uen li tch'ting), die dreizehn Hügel (sche-saen-ling) und die
Sternwarte von Peking. Mehr als ein halbes Jahrtausend hatten die
ältesten Instrumente hier gestanden (aus der Zeit des Kaisers Kublai
1279) ein Gegenstand der Bewunderung für Ausländer und Chinesen.
Pater Verbiest, der damalige Leiter der Sternwarte, ließ im
Jahre 1673 die großen Instrumente durch neue, nach europäischen
Prinzipien konstruierte ersetzen, während die alten in einer Halle
am Fuße der Terrasse untergebracht wurden. Gewiß hat er nicht
geahnt, daß selbige nach einem Vierteljahrhundert noch übers Meer
gebracht würden, um anderswo Parade zu machen. Ohne Zweifel
bilden die kunstvollen Bronzestücke auch in Berlin und Paris eine
alte historische Sehenswürdigkeit, aber nur schade, daß die Art
der Erwerbung eine gar zu wenig ehrenvolle ist. Es verschlägt
wenig dabei, daß die Gegenstände später von der Kaiserinwitwe
zum „Geschenke" gemacht worden, denn damit wollte sie uns nur
ein „Mißgesieht a ersparen. Mehr Gesicht aber hätte unser Name
in den Augen der Chinesen gehabt, wenn das Präsent mit einem
deutschen Kout'ou zurückerstattet worden wäre.
Von der Sternwarte-Terasse sieht man in südöstlicher Rich-
tung die Prüfungshallen (Kung-juen) liegen. In Mitte derselben
erhebt sich ein mehrstöckiger Turm für die Prüfungs-Kommissäre.
Turm und Hallen sind sehr in Verfall geraten; wollte man von
ihrem Aussehen auf die chinesische Wissenschaft schließen, wäre es
traurig um sie bestellt. Die Armen finden an den Hallen der
Examina-Kandidaten einen beliebten Sammelplatz für Brennmaterial.
Es scheint, die chnesische Polizei läßt sie ruhig gewähren und es
wird gar nicht lange dauern, dann ist von dem ganzen Gebäude-
Komplex nichts mehr zu sehen als ein großer Trümmerhaufen.
Alles Brennbare wie Sparren, Fenster und Türen ist schon so
ziemlich verschwunden.
Ebenso verfallen wie die Prüfungshallen sind die Kaiserlichen
Getreidespeicher, welche wir am östlichen Knde der Mauer außer-
halb der Stadt gewaren. Man sieht, daß dort hungerige Mäuse
und Hatten kaum mehr den nötigen J Lebensunterhalt finden werden
und die Speicher sich schon längst nicht mehr öffnen für den
— 189 —
Haushalt des Kaisers. Statt daß aber die Regierung solche aus-
rangierte Gebäude abbrechen ließe, überläßt man sie einfach ihrem
eigenen Geschicke, das in gänzlichem Verfalle besteht mit dem
Untergange des noch verwendbaren Materials. Reparieren ist in
China eine viel weniger beachtete und geübte Kunst als bei uns
in Europa. Ein Loch im Dach, das mit wenigen Kellen Kalk
wieder verstopft wäre, läßt man offen, ein unbedeutender Schaden
im Flußdamm bleibt unbeachtet, einen Riß in Hose oder Kamisol
läßt man weiter reißen — bis der Bau in Trümmern liegt, der
Fluß die Sperre durchbrochen und das holde Menschenkind aus
allen Fugen und Spalten seiner kleidernen Behausung zum Vor-
schein kommt. Die Chinesen haben ein Sprichwort: „Tjiuti pu t'jü,
Sinti pu le" „Wenn mit dem Alten nicht aufgeräumt wird, giebts
ja nichts Neues." Und das Neue hat auch für den Zopfträger
seinen Reiz, wenns nur nicht von den Ausländern kommt.
Die chinesische Majestät hat einen weitläufigen Haushalt und
die Augen vieler warten auf seine Huld. Da heißt es Brot besorgen
für Tausende von Tataren-Soldaten und eine unzählige Diener-
schaft und Beamtenschaar und ein ganzes Harem von Weibern.
Hoch im Norden reift aber nur schlechtes Getreide, Roggen und
Buchweizen ; deshalb muß Reis herbeigeschafft werden aus dem
Süden, der als die beste Kost gilt. Reis ist das eigentliche Essen
und alles Andere, was sonst auf die Tafel kommt, gilt nur als Vor-
und Nachtisch. In früheren Jahren war eine eigene Wasserader
hergestellt, die den Süden mit dem Norden, die fruchtbaren südlichen
Reisprovinzen mit Peking in Verbindung brachte und alljährlich
zogen viele Tausende Schiffe hinauf, um dem Kaiser Proviant zu
bringen. Aber die beständigen Überschwemmungen zerstörten den
Wasserweg bald hier, bald dort und die Reparaturkosten verursach-
ten dem Reiche jedes Jahr viele Auslagen. Deshalb wird nunmehr
der Reis auf dem Seewege nach Tientsin geschafft und von dort
per Eisenbahn in die Kaiserlichen Speicher, die jetzt nicht mehr
in der Nähe des Kanals liegen, sondern innerhalb der Stadt erbaut
sind. Der „Fluß zur Beförderung des Getreides", (jüin liang ho)
gemeiniglich Kaiserkanal geheißen, gerät deshalb immer mehr in
Verfall und ist für die meiste Zeit im Jahre nur stellenweise befahr-
bar. Der in den Speichern aufbewahrte Reis ist meistens derart
muffig und abgelagert, daß er an das gewöhnliche Volk verkauft
wird, jene aber, die ihre bestimmte Portion vom Kaiserlichen Pro-
viantamt geliefert bekommen, kaufen sich für verkauften Reis andere
Kost, die ihren verwöhnten Gaumen besser zusagt.
— 190 —
Wie anderswo große Städte und besonders Hauptstädte die
größten Gegensätze beherbergen: Proletariat und reiche Philister-
haftigkeit, satte Blasiertheit und nie gesättigten Hunger, so ist es
auch in China. Der Bettler in Peking darbt noch mehr als sein
Leidensgenosse auf dem Lande und der gewöhnliche Arbeiter
verzehrt viel schlechtere Kost als der Bauer auf den Dörfern. Alle
Lebensmittel sind bedeutend höher im Preise und in mancher dunk-
len Gasse ist das Elend ständig zuhause.
Aber da weht uns ja die deutsche Fahne entgegen und sehen
wir recht, ist der Fähnrich ein Kuhjunge. Da muß doch untersucht
werden, ob es die Kühe sind, die unter dem Schutze der deutschen
Flagge das spärliche Mauergrün abweiden, oder ob der Chinesen-
bube landesverräterische Absichten im Schilde führt und gar in der
Kaiserlichen Hauptstadt für das Deutschtum schwärnlt. Die Kühe
allerdings scheinen aus der Pharaonischen Zeit zu stammen und
sehen aus wie die sieben mageren Zeiten, was allerdings nicht zu
verwundern ist, denn auf der Bekumer Stadtmauer hätten sie wohl
mehr Gras gefunden. Was sie alleweile hier zu weiden bekommen,
sind Blätter von Dorngestrüpp, unter dem hier und da ein ver-
krüppelter Blumenstumpf steht, dem schon hunderte Male das Haupt
abgenagt wurde. Auf dem Rot der Fahne sind schwarze chinesi-
sche Schriftzeichen gepinselt und da ist zu lesen : „Schlachtvieh
der deutschen Besatzungstruppe." Als ich dem Kuhjungen mein
Befremden darüber äußerte, daß die Kühe gar so mager seien,
sagte er, sie sollten erst noch fett gemacht werden; man habe sie
erst kürzlich gekauft und es dauere mehrere Monate, bis selbige
als schlachtfähig an das deutsche Militär abgeliefert würden. Jetzt
sei das Vieh noch Privateigentum, aber es werde ihm die deutsche
Fahne vorangetragen, damit es ungenierter weiden könne.
In der südlichen Stadtecke ist ein Platz eingerichtet zum
Preisschießen für die Deutschen Pekings, besonders für die Offiziere
der dortigen Besatzungstruppe. Das Leben wird mit der Zeit eben
eintönig und man sorgt deshalb selbst für etwas Abwechselung.
Die Sehenswürdigkeiten in und um Peking sind bald gesehen und
dann gibt es nichts mehr zu sehen als das tägliche Einerlei, an
das sich der an beständige Abwechslung gewöhnte Ausländer nur
schwer gewöhnen kann.
Nicht weit vom Schießplatze liegt ein Totenacker, auf dem
die während der Boxerunruhen in Peking gefallenen deutschen
Soldaten begraben sind. Auch die Gefallenen der österreichischen
und italienischen Heeresabteilung haben hier ein stilles Plätzchen
— 191 —
gefunden. So sind die im Leben Verbundenen auch im Tode noch
vereint und harren weit von der Heimat im Schatten der grauen
Pekinger Mauer dem Auferstehungsmorgen entgegen. Wahrlich es
wird dem Sterbliehen an der Wiege nicht gesungen, wo er der-
einstens sein Grab finden wird. Glücklich, der in den Vaterarmen
Gottes seine ewige Ruhe findet, dann ist es gleichgültig, wo die
sterbliche Hülle im kühlen Grabe gebettet liegt.
Doch nun Ade, Freund Leser, unser Rundgang ist beendet;
habe Dich ohnehin lange herumgeschleppt und Du wirst gründlich
müde sein. Im Glänze der scheidenden Sonne leuchtet die ver-
goldete Kuppel der russischen Gesandtschaftskirche zu uns herüber
und wäre es gerade Sonntag, würde ihr melodisches Geläute uns
das Herz noch mehr erweitern. Nicht selten habe ich still gelauscht,
wenn durch das Gewirre des Straßenlärms die klaren Glockenstimmen
an das Ohr drangen, als wollten sie jedem ein „Sursum corda"
entgegenrufen. Doch die geschäftige Welt kehrt sich wenig daran,
die heidnischen Chinesen aber lauschen lieber dem Marktgeschrei
und dem Geklingel der Theaterspieler. Die soeben fertiggestellte
katholische . Gesandtschaftskirche (von Bischof Favier erbaut) zeigt
mit ihren zwei schmucken Türmen mahnend zum Himmel hinauf,
aber auch ihr Wink wird schlecht verstanden und wenig beachtet.
In christlicher Atmosphäre ist es nicht einmal immer leicht, Auge,
Herz und Ohr offen zu halten für das, „was oben liegt* — doppelt,
ja hundertfach schwieriger ist es im Heidenlande. Du, Freund
Leser, merke Dir den Dichterspruch:
„Daß das Herz dir größer werde,
Blicke von der kleinen Erde
Zu den ew'gen Höh'n empor." —
Von Puoly nach Peking.
Peking, den 10. Februar 1904.
|Im ich vor gut zwei Jahren den Weg von Tientsin nach
Puoly machte, mußte ich es auf einem verdeckten Wagen
tun, denn an allen Ecken und Enden übten die Boxer
und bereiteten sich auf den Gewaltstreich vor, den sie
auszuführen gedachten. Sie wollten mit einem Schlage allen Euro-
päern den Kopf abhauen oder sie in das Meer treiben und so das
Reich der Mitte von den Ausländern säubern. Ich kam damals in
— 192 —
meinem verdeckten Wagen anstandslos durch; mochte es auch wohl
dem einen oder andern Boxer gelüsten, die „Schöne"*' in dem Wagen
mit einem Blicke zu erspähen, so hatte doch keiner das Vergnügen.
Das Gefährt war fest verhangen, und hinter den Vorhang darf kein
anständiger Chinese schauen, wenn er ein weibliches Wesen dahin-
ter vermutet.
Jetzt sind die Schascharen, gemeiniglich Boxer genannt, von
der Bildfläche verschwunden. Schascharen hätte man die Sippe
taufen sollen im Gegensatze zu den Tataren. Der Schlachtruf der
letzteren lautete ja bekanntlich „ta-ta" „schlagt drauf, schlagt drauf";
die Boxer aber schrieen noch ärger: „scha-scha" „tödtet, tödtet*
die europäischen Teufel. Chinesen und Boxer: die beiden Begriffe
meine ich, passen nicht zusammen. Zum Boxen sind die Chinesen
viel zu phlegmatisch und vielfach auch nich gelenkig genug. Doch
lassen wir die Sektirer heißen, wie sie wollen ; die Hauptsache ist,
daß sie uns fortan in Ruhe lassen und niemals wieder so tolle
Einfälle wie vor zwei Jahren bekommen. Hoffentlich haben sie
genug Lehrgeld zahlen müssen und sind ein für alle Mal überzeugt,
daß sich die Europäer nicht so leicht hinauswerfen lassen.
Auf der ganzen Reise konnte ich mir einige Soldaten, die
mich von Bezirk zu Bezirk eskortieren mußten, nicht vom Halse
halten. Man mochte den Mandarinen sagen lassen, es sei nicht
notwendig, man wünsche keine Begleitung und wolle kein Aufsehen
machen: Alles war umsonst. Die guten Herren sind wirklich be-
sorgt um das Leben der Ausländer, aber meistens nur dann, wenn
keine Gefahr vorhanden ist. In den Gegenden, wo s. Z. die Boxer
besonders gehaust hatten, schauten die Leute jetzt ganz verwundert
auf den Europäer, aber auch kein einziges Mal hörte ich ein Schimpf-
wort fallen. Die meisten GaÖer sahen ziemlich angstvoll drein,
ähnlich dem Schulbuben, wenn er eben welche auf die Finger
bekommen.
In Wirtshäusern, besonders in der Nähe von Tientsin, sah man
noch an den schwarzen Wänden Fratzen eingeritzt und chinesische
Charaktere, die auf die Boxer Bezug hatten. So das „Porträt" des
Tuan-wang, des Tung-Fu-hsiang und anderer Haupthelden. Auch
hatte man versucht, einen europäischen Soldaten an der Wand zu
verewigen; daß es ein solcher sein sollte, sah man an den Hosen
und dem Hute.
Manche edlen „Schlacht rosse *, die an die Chinesen verkauft
wurden, sind jetzt dazu verurtheilt, den chinesischen Wagen zu
ziehen. Die Tiere machen .einen recht traurigen Eindruck; man.
— 193 —
sieht es ihnen deutlich an, daß für sie der Haferkorb hoch hängt.
Mit dem Putzen und Kämmen ist es für sie jetzt auch vorbei.
Höchstens fährt der Chinese hier und da einmal mit dem Besen
über den Rücken des Tieres, und damit ist die Toilette dann für
einige Tage abgemacht.
Obwohl ich volle acht Tage reisen mußte und die Reise grade
in den La Yüo, den letzten Monat des chinesischen Jahres fiel,
wann man nach hiesigen Grundsätzen keine lange Reise machen
soll, war das Wetter doch die ganze Zeit vorzüglich. Überhaupt
ist der diesjährige Winter ein außergewöhnlich gelinder. Die Chi-
nesen meinen, es käme das daher, weil die Reise des Kaisers grade
in den Winter gefallen sei; da müsse der Himmel doch einige
Rücksichten nehmen, damit der „Himmelssohn" unterwegs nicht
allzuviel Ungemach zu erdulden habe. Nicht unmöglich ist es aber,
daß „das dicke Ende noch nachkommt/ Wenn es nicht wintert,
dann sommert es auch nicht, sagt man bei uns zu Hause. Die
Chinesen haben fast denselben Gedanken und kleiden ihn in die
Worte : Ke long pu long, pu tscVöng ngm-tjing : „Wenn es kalt
sein sollte und ist nicht kalt, dann gibt es ein schlechtes Jahr."
Und sie fügen noch hinzu: Ke gä-ti pu gä, pu tsch'öng sche-tjä:
„Wenn es warm sein sollte und wird nicht warm, dann geht es mit
der Welt zu Ende", was ja wohl wahr sein mag, wenn sich die
Sonne einmal ausgeschienen hat.
Der Handel von Tientsin nach dem Innenlande scheint wieder
recht zu blühen. Den ganzen Weg entlang reihte sich fast Karren
an Karren mit allerhand ausländischen Waren, besonders aber sah
ich viele Petroleumkisten und Baumwollenzeug. Auch begegnete
mir manche Heerde Ponies aus der Mongolei. Da werden die
Pferde im Innern voraussichtlich wieder billiger; weil im vorigen
Jahre keine Zufuhr aus dem Norden kam, waren die Preise sehr
in die Höhe gegangen. Aus dein Innenlande hingegen werden viele
Ochsen nach dem Norden getrieben ; ferner sieht man Karren voll
Geflügel und Hasen dorthin fahren. Die Lebensmittel steigen aber
desto höher im Preise, je mehr man sich Tientsin nähert.
Wer nach Jahren einmal wieder Peking besuchen kommt, ist
nicht wenig erstaunt über die Veränderungen, die er hier vorfindet;
unwillkürlich drängt sich ihm der Gedanke auf : Die Chinesen sind
vom Hegen in die Traufe gekommen. Anstatt daß es ihnen ge-
lungen wäre die Ausländer mit „Stumpf und Stiel" auszurotten, haben
sich diese nur um so fester eingenistet, haben sich in noch größerer
Anzahl eingefunden als ehedem. Der Gesandtschaftenkomplex ist
».Pieper, „Neue Pandel*, tf
— 194 —
um das Doppelte, ja Vierfache vergrößert. Nicht nur Besitztum
des gewöhnlichen Bürgers wurde annektiert, sondern auch kaiser-
liches und zwar in unmittelbarer Nähe der verbotenen Stadt.
Wie eine Riesenbatterie liegen die fremden Mächte, die eine
neben der anderen gruppiert, auf dem Terrain zwischen zwei
Hauptstadttoren, der Hatamen und der Chienmen, und nach Norden
haben sie als nächsten Nachbarn — den Kaiser. Der Süden aber
ist von der Stadtmauer begrenzt, und diese steht, soweit die auslän-
dischen Besitzungen reichen, unter Bewachung der Deutschen und
Amerikaner. Neben der Hatamen haben die Deutschen oben auf
der Mauer einen Wachtturm gebaut. Mittels eines eisernen Gitter-
tores kann die Mauer nach Osten hin abgesperrt werden. Von dem
Turme aber ist es ein leichtes, den Feind auch aus der Ferne zu
erreichen und sich ihn vom Leibe zu halten.
Wo einstens bescheidene Einfassungsmauern standen, erheben
sich jetzt vielfach trotzige, mit Gräben umgürtete, festungsartige
Türme, und die Mauern sind mit Schießscharten gespickt; es brau-
chen nur die Kanonen aufgefahren zu werden, und in kurzer Zeit
kann der ganze Kaiserpalast in Trümmern liegen. Das Militär der
fremden Mächte ist in massiven Kasernen untergebracht, und die
Offiziere wohnen in mehrstöckigen, vielfach villenartigen Häusern.
Der Kaiser braucht nur den Kohlenhügel zu besteigen, um die
fremden Soldaten exerzieren sehen zu können. Lange Reihen
Häuserkomplexe sind fortrasiert, weil sie im Wege standen und
eventuell militärischen Operationen hinderlich sein konnten.
Das Hauptverbindungstor der Chinesen-, Tataren- und der
Verbotenen Stadt, das Chienmen, bildet zugleich nach Osten hin
die Endstation der Tientsin-Pekinger Bahn; nach Westen aber die
Anfangsstation der Peking-Paotingfuer Bahn. An das Pfeifen und
Rollen der Eisenbahnen wird man sich in der Verbotenen Stadt
schon längst gewöhnt haben; denn die Lokomotiven pfeifen oft
und auch laut genug, um es „da drinnen" mit Leichtigkeit hören
zu können. Daß die Bahn so weit in das Herz der Stadt gedrun-
gen, ist auch eine Errungenschaft des Krieges, und ohne denselben
hätten die Diplomaten wohl Jahrzehnte lang verhandeln können,
und auch dann hätte sie die chinesische Regierung wahrscheinlich
noch mit einem quod non — pu ching — verabschiedet. Man
sieht, viel Federlesens ist seiner Zeit beim Baue der Bahn nicht
gemacht worden, und man hat einfach dorthin den Weg genommen,
wo er am vorteilhaftesten schien. Die Folge war, daß eine ganze
Reihe Toter in ihrer Grabesruhe gestört wurden, und daß sie ihre
— 195 —
Stätte haben wechseln müssen. Aber das ging alles so selbstver-
ständlich und friedlich vor sich und machte nicht die geringsten
Schwierigkeiten. Die Chinesen suchten sich einige neue Bretter-
schreine zusammen, darin lasen sie die Gebeine auf, verbrannten
Papier und Weihrauch und der Tote wurde anderswo von neuem
bestattet. Als der Schienenstrang vor die Mauern der Chinesen-
stadt kam, wurde einfach eine Bresche hineingebrochen, und auch
das kam den Pekinger Bürgern selbstverständlich vor; denn sie
begriffen sehr wohl, daß die Bahn weder über die Mauer hinweg-
steigen noch darunter horkriechen konnte.
Tatsache aber ist, daß der Zug jedesmal gestopft voll von
Chinesen ist, mag er nun von Tientsin kommen oder von Peking
abfahren. Zu bequem hat man es freilich den Zopfträgern nicht
gemacht; sie fahren nicht eimal so gut wie daheim das liebe Vieh,
das wenigstens noch ein Schutzdach über dem Kopfe hat. Es
scheint, man betrachtet hierzulande die Chinesen als lebloses Ma-
terial; denn sie werden auf die nämliche Weise per Bahn dritter
Klasse (und selbstverständlich fährt fast jeder dritter Klasse) beför-
dert wie Steine und Sand und dergleichen Dinge. So haben sie
freilich den Vorteil, immer frische Luft und freie Aussicht zu
genießen, aber dafür müssen sie auch alles Ungemach der Witterung
über sich ergehen lassen: Schnee, Regen, Sonnenschein und was
sonst aus der Höhe kommt.
Die Zerstörungen, welche der Krieg angerichet, werden immer
mehr ausgemerzt; überall wird fleißig gebaut. Tag für Tag kommen
Kamelkarawanen herangezogen mit Kalk beladen, und lange Reihen
Frachtwagen fahren von morgens früh bis abends spät Ziegelsteine
herbei und sonstiges Material. Es bauen der Kaiser und die Ge-
sandtschaften, es bauen die Missionare und die Kaufleute. Der
Kaiser läßt einen kleinen Pavillon am Kohlenhügel wieder aus der
Asche erstehen, ferner ein nördliches Tor zur verbotenen Stadt,
das Houmen, welches seiner Zeit die Japaner verbrannt hatten.
Die Gesandtschaften ergänzen das ; was vom vorigen Jahre zu tun
übrig war. Im allgemeinen haben sich alle, wie es scheint, recht
wohnlich eingerichtet.
Auch hat die Tatarenstadt ein neues Stadttor bekommen.
Das ist jedenfalls ein wichtiges Ereigniß. Fast ein halbes Jahr-
tausend ist die kaiserliche Metropole mit neun Toren ausgekommen,
und es hätten vielleicht nochmals fünfhundert Jahre vorübergehen
können, ehe es jemanden eingefallen wäre, in das alte, ehrwür-
dige Stadtumfüge, einen neuen Durchgang zu brechen. Selbst der
— 196 —
Himmelssohn würde das kaum ohne Skrupel und mancherlei Wider-
rede haben tun können. Was die Chinesen nicht gewagt, das haben
die Ausländer gewagt sonder Skrupel und Bedenken. Heute zählt
die Tatarenstadt zehn Tore und zwar ist das neue ein eisernes;
denn eisern war ja auch die Faust, welche eine Bresche in die
graue Riesenmauer legte.
Der Durchgang ist an der nämlichen Stelle, wo im August
1900 die ersten Befreier eindrangen und der hart bedrängten, tapfe-
ren Schar die lang ersehnte Hülfe brachten. Unten geht der mit
starken Tannenbohlen überdeckte Kanal, welcher aus der verbotenen
Stadt fließt. Das besagt auch die über dem Torbogen angebrachte,
etwas prosaisch klingende Inschrift „ Watergate u mit der Jahreszahl
1900. Das Tor hat keinen Aufbau und fällt deshalb nach Außen
nicht weiter in die Augen.
Der Platz ist gut gewählt: nicht nur wegen des historischen
Momentes, sondern auch in Bezug auf die praktische Seite. Hier
liegt so ziemlich das Zentrum zu allen Gesandtschaften. Zunächst
stoßen das deutsche und amerikanische Gesandschaftsviertel an. Nur
wenige Schritte vom Tore entfernt liegt das deutsche Postgebäude,
das vielleicht auch wohl die Torschlüssel in Verwahr bekommen
dürfte. Die Europäer, die mit der Bahn von Ticntsin kommen,
sind jetzt nicht mehr gezwungen, den weiten Umweg durch das
Chienmen zu machen durch das Gedränge der Chinesen über die
ausgetretene, halsbrecherische Straße zwischen der russischen und
amerikanischen Gesandtschaft. So kommen sie nicht nur früher
nach Hause, sondern verspeisen auch eine Portion weniger Staub.
Wenn sich jetzt Jemand abends verspätet hat und nach Tor-
schluß um Einlaß bittet, wird ilim hoffentlich geöffnet werden, ohne
daß er stundenlang zu Warten braucht und womöglich auch dann
noch keinen Einlaß erhält, weil er sich nicht genugsam als ehrlicher
Bürger ausweisen konnte.
Ob mit dem neuen Tore auch neue Kultur einziehen wird
in die alte chinesische Kaiserstadt ? Lange genug wurde an dem
Tore gebaut: hoffentlich wird es um so fester sein. Hoffentlich
wird es nicht nur dem Zahne der Zeit lange Widerstand bieten,
sondern auch — den Gelüsten der Chinesen, falls es ihnen einfallen
sollte, ihre Hand nach den Schlüsseln auszustrecken. Sonst dürfte
es eines Tages heißen: Die Ausländer haben ein Tor gebaut für
die Chinesen : der Schlüssel ist in ihren Händen, und dann wäre es
wohl bald um die Existenzberechtigung des „ Watergate u geschehen,
s
- 147 -
Eis und Blumen in Peking.
ekini^ ist die Stadt der vier Jahreszeiten, sagte mir neulich
J ein befreundeter Mandarin. Aber wie ist denn das zu ver-
^Mlu^ stehen? fragte ich ihn. In Peking, antwortete er, sind
^/(MOT? jahraus jahrein die vier Jahreszeiten vertreten. Dort gibt
es beständig Blumen des Frühlings, Früchte des Sommers, Trauben
des Herbstes und Eis des Winters.
Und der Mann hatte recht. Was Blumen und Eis angeht, so
muß man ihm vollkommen zustimmen, denn diese gehen in Peking
niemals aus. Die Früchte des Sommers und die Trauben des Herb-
stes reichen wohl nicht für das ganze »fahr, aber doch für den weitaus
größten Teil. Ende Mai gibt es noch Trauben, frisch wie vom
Stock, und Birnen so viel als man haben will, desgleichen mancherlei
andere Früchte.
Anderswo freilich kann man auch so etwas haben, z. B. in
Berlin und selbst in kleineren europäischen Städten. Aber der Unter-
schied von der Hauptstadt des Chinesenreiches liegt darin, daß
Peking beständig die vier Jahreszeiten innerhalb seiner Mauern
birgt, während man in Europa ihre Erzeugnisse vielfach erst im-
portieren muß. Und dann hat es Peking schon jahrhundertelang
so gehabt, auch damals schon, als die meisten europäischen Städte
noch kaum bestanden oder doch wenig Ahnung davon hatten,
wie kalt das Eis im Sommer schmeckt und wie süß die Traube
im Mai.
Peking ist ein Eldorado der Blumen. Die meisten, welche
von Peking gehört und gelesen, haben freilich den Gesamteindruck,
daß Peking ein verstaubtes, schmutziges, übelriechendes Nest ist.
Das will ich nicht in Abrede stellen, aber dabei bleibt doch wahr,
daß die Reichshauptstadt des blumigen Reiches der Mitte doch auch
Blumen in Fülle hat, mehr als eine andere Stadt Chinas. Wer sich
davon überzeugen will, mache nur früh morgens, wenn der Tag
eben zu grauen beginnt, auf den Blumenmarkt (Huasche) einen
Spaziergang. Die Pracht, die er sich dort entfalten sieht, wird ihn
schier vergessen lassen, daß er in dem schmutzigen Peking ist.
Lange Straßen entlang, zu rechts und links ist nichts zu sehen als
lauter Blumen in allen möglichen Farben und Formen. Und die
sind so — täuschend ähnlich gemacht, daß man beim ersten An-
blick meinen sollte, es seien natürliche. Erst wenn man Verkäufer
sieht, die nichts als Blätter oder Stengel ausstellen, und andere,
die nur Knospen und Blüten anbieten, entdeckt man, daß die
— 198 —
Blumen künstlich sind. Um das sommerliche Bild aber erst recht
zu vervollständigen, fehlen auch die schillernden Schmetterlinge
nicht aus farbigem Glas, Seide oder Papier.
Auf diesen Markt eilen in aller Frühe, wenn es noch nicht
staubt, zärtliche Gatten, die ihrer jungen Frau mit einer herrlichen
Blume das Haar schmücken wollen, weil sie heute ihre Schönheit
vielleicht besonders zur Schau stellen soll; vorsorgliche Mütter, die
ihrer Tochter Brautblumen und Schmetterlinge kaufen wollen für
die Hochzeit; zweifelhafte Elemente (und deren gibt es leider Gottes
in Peking sehr viel), die keine andere Beschäftigung kennen als
sich zu schmücken und zu schminken und mit der Sünde Handel
zu treiben. Händler kommen aus der Ferne, um Pekings Flora viele
hundert Meilen weit ins Innere zu tragen. Für sie hauptsächlich
sind die Blätter, Stengel und Knospen ausgestellt, die sich leicht
in größerer Menge verpacken lassen. Zu Hause machen sie fer-
tige Blumen daraus und verkaufen sie für einen drei-, ja sechsfach
höheren Preis.
So verschieden die Blumen in Form und Farbe sind, ebenso
verschieden ist auch das Material, aus dem der Künstler sie herstellt.
Man findet Blumen von feinsten Seidenstoffen, andere sind aus buntem
Papier gemacht. Während das Mädchen armer Leute einen gläser-
nen Schmetterling im Haare trägt, glitzert auf den glänzenden
Locken einer Mandarinentocher ein Schmetterling von Gold und
Edelstein. Derartige Kostbarkeiten aber, ebenso wie die teuersten
Blumen kommen nicht auf den Markt, sondern werden in Geschäften
verkauft. Die Anwohner des Blumenmarktes sind fast alle Fabri-
kanten von Blumen, und sobald der Markt aufgehoben ist, wird die
Ware ins Haus getragen. Es geschieht das schon bei Sonnenauf-
gang, denn um diese Zeit beginnt der Straßenverkehr mit Wagen
und Schiebkarren ; es erhebt sich der Staub, der den Blumen schadet
und ihnen den zarten Schmelz benimmt.
Die Bevölkerung auf dem Lande trägt nur zu Neujahr Blumen,
auch dann tun es meistens nur junge Mädchen oder aber verheiratete
Frauen. In Peking aber schmückt sich alles damit, was sich weiblich
nennt, vom kleinen Backfisch bis zur vergilbten Schachtel : ja auch
ihr muß noch im spärlichen oder falschen Haare eine knallrote
Pfingstrose glühen. Freilich halten die künstlichen Blumen länger
vor als die natürlichen, aber nach einigen Tagen sind doch auch sie
verstaubt und müssen durch neue ersetzt werden. Kein Wunder
also, daß die Blumenverkäufer in Peking jeden Morgen Geschäfte
machen, bisweilen sogar gute. Ist es jemand gelungen, eine Neuheit
- 199 -
zu erfinden (denn auch die Blumenmoden wechseln) und damit An-
klang zu erregen, dann ist die Bitte aller eitlen Evastöchter : Bitte,
Mann, eine neue Blume! Die Wirkung einer solchen Bitte ist
jedenfalls ähnlich so, alswenn anderswo andere bitten : Bitte, Mann,
einen neuen Hut.
Aber auch Floras natürliche Kinder gibt es in Peking mehr
als in den meisten anderen chinesischen Städten. Selbst ausländische
Blumensorten, z. B. Kaktus, Geranien, Veilchen und dergl., haben
sich längst eingebürgert. Die Chinesen haben eine rechte Fertig-
keit in Behandlung derselben, so daß man fast zu jeder Jahreszeit
alle möglichen Blumen haben kann. Im Mai sah ich einen Verkäufer
mit blühenden Herbstastern und Georginen. Es stehen den Gärtnern
freilich keine Treibhäuser zur Verfügung, sondern sie müssen sich
mit ganz einfachen Mitteln behelfen, um im Winter die Kälte fern-
zuhalten und die notwendige Wärme zu binden. Zum Aufbewahren
der Blumen im Winter dienen Erdgräben, die gegen Norden durch
eine Mauer oder einen Wall geschützt sind. Bei Tage, wenn die
Sonne scheint, werden dieselben geöffnet und warme Strahlen
fallen auf die Pflanzen. Während der Nacht werden sie mit
Strohmatten sorgfältig zugedeckt. Die Hauptgartenanlagen liegen
außerhalb der Stadt, weil das dortige Wasser den Blumen zu-
träglicher ist; denn auch das Wasser in Peking ist nicht überall
frei von Beimischungen, die selbst den Pflanzen weniger bekömm-
lich sind.
Als Stellvertreter des Winters während der heißen Sommer-
zeit gibt es in der kaiserlichen Hauptstadt zehn mächtige Eiskeller,
welche auf die einzelnen Stadtteile verteilt sind. Vier davon gehören
Sr. Majästät, drei dienen zum Gebrauche der Prinzen, das Volk muß
sich mit dem Rest begnügen. Einer der kaiserlichen liegt in der
verbotenen Stadt, die übrigen sind außerhalb derselben. Aber auch
das Eis aus den Kellern des Kaisers und der Prinzen darf an den
gemeinen Mann verkauft werden, falls der „Sohn des Himmels*
und seine Prinzen nicht alles benötigen sollten.
Der Eishandel in Peking bildet eine Art Monopol. Neue Keller
dürfen ohne kaiserliche Erlaubnis nicht angelegt werden. Diese
wird nur selten erteilt, wer sie aber erhält, bekommt ein Dokument
(Lung-P'io) als Ausweis.
Das aufbewahrte Eis entstammt dem Wasser des „ Perlenflusses u
(Jüho) in der verbotenen Stadt, und diesem wird es vom Berge der
„zehntausend Lebensjahre u (Uenschou) zugeleitet, wo der Kaiser
seinen Sommersitz hat. Im Winter wird das Wasser gegen Bezahlung
— 200 —
an die kaiserlichen Beamten, welche die Schleusen offnen, in
den Stadtkanal gelassen, wo es gefriert. Tag und Nacht wird dann
gearbeitet und in langen Reihen ziehen die Eiskarren, um die Keller
zu füllen. Jeder Keller besteht aus zehn Abteilungen; jede Abtei-
lung hat ungefähr zehn Schritt im Geviert. Darin liegt das Eis
in zehn Schichten aufeinandergestapelt. Die einzelnen Stücke haben
1—2 Fuß Dicke und bilden ein Quadrat von 2—3 Fuß.
Es läßt sich nichts Einfacheres denken als solch einen Keller,
und dennoch hält sich das Eis ganz vortrefflich darin. Für die
Anlage wählt man trockene Eni wälle von einigen Metern Höhe.
An die Nordseite derselben werden zimmerartige Höhlungen gegraben.
Das Eis wird darin aufeinandergeschichtet und dann mit trockener
Erde und Sorghostengeln zugedeckt. An den Seiten wird ebenfalls
trockene Erde aufgeschüttet und die sogenannte Türe mit Luft-
ziegeln vermauert und zugeschmiert. Damit ist die Anlage fertig.
Man hat nur darauf zu achten, daß von oben der Regen und
von unten das Grundwasser keinen Zutritt finden. Wird eine
Abteilung zum Gebrauch geöffnet, so sucht man die Sonnenstrah-
len durch ein Mattendach abzuhalten, im übrigen aber hat Wind
und Luft freien Zutritt; ja nicht einmal eine Türe verdeckt
den Eingang.
Die große Menge Eis, welche in unmittelbarster Nähe beiein-
anderliegt, trägt wohl hauptsächlich dazu bei, daß es die oft gewal-
tige Sommerhitze nicht schneller zum Schmelzen bringt. Auch
behaupten die Chinesen, wenn ein neuer Keller angelegt würde,
so halte sich in dem ersten Jahre das Eis nicht. Der Boden müsse
erst „durch und durch erkalten" (Han toulio). Wenn das geschehen
sei, hätten Sonne und Wärme nicht mehr viel Einfluß und „der
Winter im Sommer behaupte sein Recht".
Eine Jbesondere Art Eiskeller gibt es noch in Peking zum Auf-
bewahren des Obstes. Darin liegt denn auch das Geheimnis der
wunderbaren Erhaltung desselben, so daß man im Sommer noch
frisch scheinende Trauben des vergangenen Herbstes essen kann.
Das aufzuwahrende Obst wird bei der Ernte sehr forgfältig sortiert
und alles nur etwa Schadhafte entfernt. Dann wird es in Körbe,
Kisten oder in steinerne Töpfe gelegt und zugedeckt. Besagte Be-
hälter werden auf Eislagen gestellt und bleiben dort so lange ste-
hen, bis man sie gebraucht. Das Obst hält sich auf diese Weise,
wenn es gut geht, ein volles Jahr.
Die Ausländer sind in der Regel sowohl Freunde von Eis als auch
von Obst. Deshalb machen die Obstverkäufer und Eiskellerbesitzer
— 201 —
in Peking ganz vorzügliche Geschäfte. Dabei sind die Preise
verhältnismäßig recht billig. Der Chinese selbst gebraucht das Eis
weniger zum Abkühlen der Speisen als vielmehr zum Aufbewahren
derselben. 1 ) Besonders können Fleisch- und Fischverkäufer ohne
Eis keine frische Ware halten. Kühle Getränke trinkt der Zopf-
träger nicht, weil sie seiner Ansicht nach doch den Durst nicht
löschen. Will er aber einmal im Sommer die Freuden des Winters
genießen, so nimmt er ein Stück Eis in den Mund und ein Stück-
chen Zucker dazu. Soll der Genuß aber recht vollkommen sein,
so legt er sich eine saftige Traube ins Eis und läßt sie gehörig
erkalten. Wenn er dann hoch im Sommer die eisigkalte Traube
des Herbstes verkostet, wird ihm lenzwonniglich zu Mute und er
denkt: Peking ist doch wirklich die Stadt der vier Jahreszeiten.
aoOQQQQao o s
Chinesischer Zellenschmelz.
ur Zeit als die alten Römer Wände und Fußböden ihrer
Paläste mit Mosaikarbeiten zierten, haben die Chinesen ihr
Tafelgeschirr und allerhand Schmuckgegenstände durch
tii JU'Wi bunten Zellenschmelz (Email cloisonne) verschönert. Beide
Künste haben Ähnlichkeit mit einander; sie bilden gleichsam die
tättowierende Malerei. Bilder, die sonst Pinsel und Farbe des Ma-
lers auf der Oberfläche festhält, fügt und brennt die Mosaik und
der chinesische Zellenschmelz „in Fleisch und Blut". An solchen
Gebilden nagt lange vergeblich der Zahn der Zeit, noch auch ver-
mag sie die Sonne zu bleichen.
Wer das erste Mal diese teppigbunten, farbenglänzenden Arbei-
ten in chinesischem Zellenschmelz sieht, begreift kaum, wie dieselben
nur hergestellt sein mögen. Es gehört denn auch die Geduld, Aus-
dauer und Feinfingerigkeit eines Chinesen dazu, derlei Dinge zu
schaffen.
Schon seit Jahrhunderten gab es in Peking Werkstätten, in
denen Emailgegenstände angefertigt wurden. Indes kam die Kunst
erst während der Mingdynastie, zur Zeit der Regierung des Kaisers
King-t'ae in Schwung und Blüte. Dieser Kaiser war ein besonderer
J ) Im Ta-chiao (einem Werke, das z. Z. des Konfuzius, vielleicht von ihm
selbst verfaßt wurde) ist die Rede von kaiserlichen Beamten, welche für das Zer-
kleinern des Eises zu sorgen hatten bei Gelegenheit der Ahnenopfer. Das Eis
wurde zum Aufbewahren des Fleisches benutzt; ein Beweis, daß es schon zu
damaliger Zeit eine Art Eiskeller gegeben hat.
— 202 —
Liebhaber derselben, und zu seiner Ehre werden die Emailarbeiten
King4'ae laen genannt: cloisonne des Kaisers King-t'ae. Obendrein
hat man ihm eine Pagode erbaut, und bringt man ihm Opfer, wenn
die Sachen gut ausfallen und das Geschäft flott vorangeht. Auch
heute ist es noch ausschließlich Peking, wo die eigentlichen echten
Zellenschmelzgegenstände angefertigt werden. Da sich gerade
Gelegenheit fand, habe ich mir einigemal die Werkstätten der
Arbeiter angesehen; und kann nunmehr bezeugen, daß die Her-
stellung eine überaus mühsame Arbeit ist.
Zunächst wird die grobe Form der Sachen, welche angefertigt
werden sollen, in Rotkupfer oder Bronze zurechtgehämmert. Dann
werden die zu emaillierenden Flächen glatt poliert. Hierauf wan-
dern sie in die Werkstätte der Zellenaufleger. Es sind das meistens
noch junge Leute, die vor allem gute Augen und sichere Finger
haben müssen. Die Zellen bestehen aus drahtartigen Kupfer- oder
Messingfäden, die jedoch nicht rund, sondern im Durchschnitt vier-
eckig sind. Im allgemeinen werden die Zellen, bevor sie aufgelegt
werden, zuerst fertig gebogen, nach bestimmten Mustern und Vor-
lagen. Mit Hülfe einer Pinzette und Zange wird dann mit unsäg-
licher Mühe und Sorgfalt so lange gepaßt, gebogen und verkleinert,
bis die gewünschten Arabeskenformen, Drachenmuster oder sonstige
Ornamente erscheinen. Um die so aus Draht gebildeten Zellen auf
der polierten Fläche vorläufig zu befestigen, gebraucht man eine
dicke, klebrige, aus Baumwurzeln gekochte Masse, Peitsche genannt.
Sind alle Formen angebracht, so wird das Ganze mit feinstem
Silberstaub überstreut und dann der Glühhitze ausgesetzt. Der Silber-
staub schmilzt, fließt an den Zellen herunter und lötet sie am Un-
tergrund fest. Will man das Muster noch vervielfältigen, so werden
die Zellen mit etwas Tusche übertupft, ein weißes Stück Papier
wird dagegengedrückt und die ganze Zeichnung steht schwarz auf
weiß. Auf diese Weise werden auch leicht etwaige Mängel ent-
deckt und können noch verbessert werden.
Hierauf beginnt das Füttern der Zellen mit den verschiedenen
Emailsorten. Man gebraucht dazu spitze Messerchen und bedient
zuerst jene Abteilungen, welche dieselbe Farbe haben sollen. In
Porzellanschälchen sind die fein pulverisierten Emailsorten mit Was-
ser zu einem Brei angemengt. Während die Rechte behutsam das
Email in die oft nur einige Millimeter großen Abteilungen träufeln
läßt, glättet die Linke mit einem Stäbchen die Oberfläche. Das
alles geht mit einer Gelassenheit und vergnüglichen Seelenruhö vor
sich, die wir Europäer bewundern, aber nur selten nachahmen können.
— 203 —
Sind alle Zellen angefüllt, so beginnt die zweite Feuerung.
Das Email schmilzt und verbindet sich mit den Kupferzellen zu
einer festen Masse. Notwendig ist vor allem, daß die Zellen
vollständig rein sind, und um dies zu erreichen, werden die Gegen-
stände vor der Füllung mit den Schmelzfarben in einem aus Apriko-
senschalen bestehenden Bade eine Zeit lang gekocht.
Kräftige Hände sind nun bereit, den Gegenstand zunächst
mit rauhen Sandsteinen abzuschleifen. Hat das Email einzelne
Zellen nicht vollständig ausgefüllt oder sind durch Blasenbildung
irgendwo kleine Löchelchen entstanden, so sind sie auszubessern und
das „ Verbesserte u muß von neuem ins Feuer wandern „Wenn es
einmal keine Art haben will", so geschieht es schon, daß das „Un-
verbesserliche u vier- ja sechsmal seinen Weg ins Feuer nehmen muß
ehe es soweit ist, um die letzte Polierung, welche mit Eichenholz-
kohle vorgenommen wird, zu bekommen, In einem Seifenbade
wird der Gegenstand dann noch zu guterletzt mit einer kupfernen
Bürste gereinigt, und damit hat der Künstler seine letzte Hand
angelegt. Das glänzende Emailstück wird jetzt in feines Papier
gewickelt und wandert in die Hände des Verkäufers, der es auf
den Markt oder kauflustigen Liebhabern ins Haus bringt.
Die Feuerung der Schmelzöfen wird mit Holzkohlen bewerk-
stelligt. Dieselben sind in einem korbartigen Drahtgeflechte auf-
geschichtet. In der Mitte desselben wird der Emailgegenstand
gestellt und die Öffnung mit einer Schüssel verdeckt, auf welche
ebenfalls Kohlen brennen. Mit mächtigen Fächern aus Gänsefedern
werden jetzt die Kohlen zu möglichst großer Glut gebracht; um
zu wissen, ob das Schmelzen des Emails bereits erfolgt ist, wird
der Deckel von Zeit zu Zeit beiseite geschoben. Ein Blick des
geübten Künstlers genügt, um zu wissen, wann es Zeit ist, das
Stück aus dem Feuer zu nehmen.
Die Schmelzfarben selbst werden in scheibenartigen Stücken
aus der Provinz Schantung bezogen und zwar aus dem Bezirke
Puoschen. Im ganzen gibt es zwölf natürliche Farben. Nur das
Pfirsichrot, eine von den Chinesen besonders geschätzte Farbe,
wird durch eine Mischung von Goldstaub und anderen Mineralien
künstlich hergestellt. Die Emailscheiben werden zunächst in eiser-
nen Mörsern zu feinem Staub zerstoßen und dann beim Gebrauche
mit Wasser in den erwähnten Brei verwandelt.
In besseren Geschäften bedient man sich zum Befestigen der
Zellen oder zum Vergolden derselben bereits der Galvanoplastik ; die
Arbeit wird dadurch erleichtert und noch regelmäßiger.
— 2Ö4 —
Der Chinese emailliert alle möglichen Gegenstände, von kleinen
Döschen, Serviettenringe oder dergleichen bis zum meterhohen
Kerzenleuchter oder der noch höheren Blumenvase für den kaiser-
lichen Palast oder die Gräber seiner verstorbenen Ahnen. Auch
findet man derartige wertvolle Kunstgegenstände in berühmten
Pagoden, denen sie reiche Gönner zum Geschenke gemacht haben.
Als Gebrauchsartikel lieben die Chinesen besonders Wasserpfeifen
in Email; dieselben werden massenhaft nach dem Süden (Kanton)
vorkauft. Gute Abnehmer für den Emailkünstler sind auch die
Ausländer. Schon längst hat man herausgefunden, was ihrem
Geschmack am meisten zusagt. Zudem arbeitet man auch nach
Bestellung und vorgelegten Mustern. Vor einigen Tagen sprach
ein Hausierer bei mir vor, der kleinere und größere Kreuzchen in
Kmail verkaufte, selber aber Heide war! Verkehrte Welt : ^Heiden
machen Kreuze für die Christen. Aber es soll auch schon vorge-
kommen sein, daß Christen in Europa Götzen machen für die
Heiden — alles um des lieben Geldes willen.
Zwei Wachttürme.
•in Centrum von Kanbalide, der Hauptstadt des großen Mon-
! golen Kan, Kublei, erhoben sich einstens zwei mächtige Türme.
Den einen nannte man Glocken- den anderen Trommelturm.
rl Kanbalide ist verschwunden vom Erdboden, aber nur dem
Namen nach. Heute steht fast an der nämlichen Stelle Peking, die
jetzige Hauptstadt des Reiches der Mitte. Aber auch jene mächtigen
Wachttürme stehen noch, freilich nicht mehr in Mitte der Kaiser-
stadt, sondern am nördlichen Ende der Tatarenstadt. Doch sind
die Türme nicht gerückt, sondern vielmehr ist die Stadt mehr nach
Süden verschoben. Es geschah das zur Zeit der Mingdynastie unter
der Regierung des Kaisers Yunglao (1437). Noch deutlich sieht
man gegen Norden viereinhalb Kilometer von Peking entfernt den
sogenannten Mongolenwall, welcher die damalige Nordfront der
Kaiserstadt bildete, Yung-lao war es auch, welcher die Stadt mit
ihren jetzigen Festungswerken umzog, mit mächtigen Mauern aus
großen Ziegelsteinen, flankiert von Kolossalkanonentürmen, beson-
ders an den vier Ecken. Unter seiner Regierung würfen auch die
beiden Wachttürme von neuem aufgeführt, da die alten baufällig
geworden waren. Als dann zur Zeit der Tsingdynastie dieselben
— 205 —
niederbrannten, war es der Kaiser Kienlung, welcher sie wieder auf-
bauen ließ, und von da haben sie sich erhalten bis auf den heutigen
Tag. Kaum sieht man es ihnen an, daß sie schon so viele Jahre dem
Zahn der Zeit getrotzt haben, ihr Aussehen ist verhältnismäßig gut.
Glockenturm in Peking.
Welches aber ist der Zweck dieser massiven Bauten ? Es sind
Wachttürme, auf denen zur Nachtzeit in bestimmten Zeitabschnitten
geläutet resp. getrommelt wird. Auf dem einen (Tschung-lou ge-
nannt) hängt eine Riesenglocke aus Bronze, welche zu den größten
Glocken von ganz, China gehört. Man schätzt sie auf ein Gewicht
— 206 —
von 20 000 Pfund. Wie es die Chinesen seiner Zeit fertig gebracht
haben, ein solches Gewicht den Turm hinauf zu bekommen, ist
ihnen selber rätselhaft. Ein Turmwächter, welchen ich darum be-
fragte, sagte mir, man habe immer einer Seite der Glocke abwech-
selnd Erde untergeschoben. So habe sich allmählich ein Berg
gebildet, auf dessen Spitze die Glocke gestanden. Nachdem man
sie dann am Balken in Mitte des Turmes festgebunden, sei der
Berg wieder abgetragen worden. Die Glocke sei auf diese Weise
in die Höhe gerückt, ohne daß man sie jemals frei vom Boden
habe zu heben brauchen.
Der Turm, welcher eine Höhe von 90 bis 100 Fuß haben
mag, besteht aus zwei Stockwerken und ist ganz aus Steinen gebaut.
Ja selbst die vorstehenden Dachsparren sind von Steinen, obwohl
sie hölzernen verzweifelt ähnlich sehen. Eine steinerne Treppe von
60 und 17 Stufen führt in zwei Abteilungen hinauf. Die Glocke
hängt in einem eigens gebauten Gestelle, das mit Eisenblech be-
schlagen ist Einen Klöppel hat sie ebensowenig wie alle chine-
sischen Glocken, und deshalb wird sie nicht geläutet sondern
geschlagen. Es geschieht dies mit einem massiven Holzklotze, der
an beiden Enden mit Stricken aufgehängt, dagegen geschleudert
wird. Das ist allerdings keine geringe Arbeit; sechs Mann sind
dazu erforderlich, und die müssen sich noch plagen, daß ihnen der
Schweiß von der Stirne läuft, erzählte mir ein Wächter. Heiß aber
ist es in dieser luftigen Höhe nicht; selbst im Sommer fächelt eine
angenehme Kühle von unten nach oben durch einen gitterartigen
Boden, und vier gewaltige Fensterbogen in Richtung der vier
Himmelsgegenden lassen dem Winde freien Spielraum.
Über die Entstehungsweise der Glocke wissen die Chinesen
folgendes Geschichtchen zu erzählen. Als Kaiser Yunglao Befehl
gegeben, für den Wachtturm eine Riesenglocke zu gießen, wollte
lange Zeit das Werk nicht gelingen. Schon eine ganze Reihe
hoher Würdenträger, die mit der Sache beauftragt waren, hatten
ihr Leben verwirkt, weil keiner die Glocke fertig brachte. Bald
war die Speise nicht gut gemischt, bald reichte sie nicht hin, bald
sprang die Form auseinander. Eben hatte der Kaiser einen neuen
Minister beauftragt, das schwere Werk zu versuchen. Auch er
hatte sich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß es nun
um sein Leben geschehen sei. Der Minister hatte aber eine Tochter,
die ihren Vater zärtlich liebte; sie wollte ihn retten und sich selber
für ihn opfern. Eben war die Glockenspeise in einer Anzahl Tie-
gel flüssig, da stürzte sich das Mädchen in einen derselben; durch
— 207 —
ihren Tod glaubte sie die Gunst der Götter zu gewinnen. Der
bestürzte Vater sah es, als es zu spät war, die Tochter zu retten.
Er wollte sie ergreifen, aber sie war bereits eingetaucht in die
glühende Masse, und der Vater ergriff nur mehr den Schuh seines
Kindes. Die Glocke gelang diesmal vorzüglich, auch die geringste
Unvollkommenheit war nicht daran zu finden. Aber horch! Als
man sie das erste Mal schlug, da klang es: chiä, chiä, uoti chiä
(Schuh, Schuh, mein Schuh). Das arme Mädchen mußte im Jen-
seits erscheinen mit nur einem Schuh, und jetzt jammert es, so oft
die Glocke geschlagen wird, noch immer nach dem verlorenen.
Ungefähr 150 Schritte in südlicher Richtung vom Glockenturm
ist der Trommelturm (Kulou). Derselbe ist etwas niedriger als der
Tchunglou, dafür aber um ein Bedeutendes breiter. Es führen drei
Gänge hindurch, und er macht überhaupt den Eindruck eines
mächtigen Stadttores mit drei Abdachungen. Eine steinerne Treppe
von 69 Stufen führt in den gewaltigen Trommelsaal, der einen
Flächeninhalt von 49 „Zimmergrößen" (Tjenfantse) haben soll.
Außen um den Trommelsaal führt eine Galerie, welche 72 Schritt
in der Länge und 40 Schritt in der Breite hat. Der Unterbau besteht
aus massivem Mauerwerke; der Oberbau aber erhebt sich vom
Trommelsaal in Holzwerk.
Im Innern liegt eine ßiesentrommel, die aber niemals gerührt
wird, es sei denn, die Stadt werde von Feinden bedroht. Bei den
letzten Unruhen, als die Ausländer auf Peking losrückten, hat man
getrommelt aus Leibeskräften. Manche Trommel ist dabei geborsten,
und ein klotzäugiger Drache auf der Haupttrommel hat fast alle
Schuppen verloren. Eigentlich sollen 24 Trommeln vorhanden sein,
in Wirklichkeit aber hat man nur zwei. Am 1. und 15. jeden
Monats müßte gewechselt werden, da jede Trommel, wenn sie
während eines halben Monats geschlagen worden, für ein Jahr in
den Ruhestand zu setzen ist. Heutzutage aber können sich nur
zwei Trommeln gegenseitig abwechseln, bis mal wieder bessere
Zeiten hereinbrechen.
Das Wächterpersonal für beide Türme besteht aus 120 Mann,
die als monatliche Löhnung nur je zwei Lot Silber bekommen.
Es ist ihnen deshalb ganz recht, wenn zuweilen ein Ausländer die
Türme besucht und besteigt; dann bekommen sie ein kleines Trink-
geld für Türöffnen und Begleitung. Die Wachen werden alle fünf
Tage gewechselt. Alle zwei Stunden (Tsch'eschenn) während der
Nacht wird sowohl die Glocke geschlagen als auch die Trommel,
Aus der Verschiedenheit der Schläge kann man heraushören, wie
— 208 —
weit die Nacht vorangerückt ist. Am 1. und 15. jeden Monates
aber wird in drei Abschnitten für längere Zeit getrommelt und
geläutet, jedoch nicht ins Unbestimmte, sondern es müssen genau
1200 Schläge sein. Die Art der Schläge ist verschieden, sie sollen
das Kauschen des Windes, das Rieseln des Regens, das Rollen des
Donners nachbilden.
Als Zeitmesser gebrauchten die Wächter in früheren Zeiten
sogenannte Wasseruhren (Tunglouhu). Es waren das vier metallene
Gefäße mit kleinen Öffnungen, aus denen Wasser träufelte. Der
Stand des Wassers zeigte an, wie weit die Zeit vorgerückt war.
Später gebrauchte man Glühstengel, in welche bestimmte Längen
eingekerbt waren. Diese Längen entsprachen einer Zeitdauer. Eine
Zündschnur, die mit den eingekerbten Stellen des Glühstengels in
Verbindung gebracht war, entzündete jedesmal eine Petarde und
weckte womöglich die schlafenden Wächter. Heutzutage gebraucht
man Uhren, und die Wächter sagen, diese seien noch am bequem-
sten und einfachsten.
Nach Besichtigung der Türme kommt einem unwillkürlich der
Gedanke: Was haben denn eigentlich diese massiven Bauwerke für
einen praktischen Wert, welche Zinsen bringen die Millionen ein,
die liier verbaut sind? Und da ist schwer eine befriedigende Ant-
wort zu finden. Bricht während der Nacht in der Stadt Feuer aus,
so nehmen die Wächter keinerlei Notiz davon und rühren weder
Glocke noch Trommel. Daß aber die Stunden ausgeläutet und gar
-getrommelt werden, will nicht viel bedeuten, denn der Chinese
kümmert sich wenig um die Zeit, am allerwenigsten aber während
der Nacht. Der Morgen r graut* ihm doch immer früh genug, denn
jeder Morgen bringt neue Sorgen, neue Arbeit. Als Prachtmonu-
mente, welche die Stadt verschönern, kommen die Bauwerke wenig
zur Geltung, da das eine zu nahe neben dem andern steht und die
Bauart auch gar wenig in die Augen springt. Der große Kaiser-
gedanke, welcher einstens diese Werke schuf, wird je mehr veral-
ten, je mehr die moderne Kultur sich im chinesischen Kaiserreiche
ausbreitet; und vielleicht liegt die Zeit nicht mehr fern, wo eine
Turmuhr die nämlichen Dienste leisten wird, die jetzt 120 Wächter
tun; die dann noch den Yorteil hat, daß sie nicht nur die Zeit
ausläutet, sondern auch zeigt und zwar bei Tag und Nacht.
— 209 —
Das „heilige" Ackerland
des Kaisers von China.
Peking, im Juni 1902.
m 20. März dieses Jahres hat der Kaiser von China wieder
seinen Acker bestellt, nachdem dieser ein ganzes Jahr brach
gelegen. Im vorigen Jahre „hausten" ja die Amerikaner im
I Tempel des Ackerbaues, und auf den kaiserlichen Ländern
grasten die Pferde. So etwas war lange nicht mehr dagewesen, und
mit Grauen werden hoffentlich die Chinesen noch viele Jahre daran
zurückdenken. Jetzt, wo der Friede wieder ins Land gezogen ist,
heißt es auch wieder friedlichen Beschäftigungen obliegen, und da
ist es Aufgabe des Kaisers, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Sollst dir doch einmal das kaiserliche Korn ansehen, dachte
ich mir. In 14 Tagen muß es voraussichtlich aufgegangen sein.
Auf einem Mongolenpony ritt ich denn zum Tempel des Ackerbaues,
in dessen Nähe das heilige Feld liegen soll. Zwei Tore führen
hinein ; das eine befindet sich am südlichen, das andere am nördli-
chen Ende der Umfassungsmauer. Ich wählte das nördliche, weil
es mir zunächst lag. Die Torwächter fanden es nicht der Mühe
wert, sich vom Boden zu erheben, sondern zeigten nur stumm die
Richtung, wohin ich weiter reiten sollte.
Doch auf diesem mächtigen Grundstück, das viele Morgen um-
faßt, gibt es nicht nur Ackerland zu sehen, sondern einen ganzen
Park von Bäumen, eine Reihe von Palästen und Tempeln und eine
Wildnis von Gras und Gestrüpp. Lange suchte ich vergebens nach
dem heiligen Acker. Endlich traf ich einen Buben, beladen mit einem
Bündel Reisig, das er im Parke aufgesucht hatte. Er führte mich
zum kaiserlichen Ackerfelde. Doch ich glaubte, der Kleine kenne
es selber nicht, oder aber, er wolle mich täuschen, denn was ich da
vor mir sah, konnte doch unmöglich das historische Stück Erde
vorstellen, das der „Sohn des Himmels" alljährlich bebaut. Einige
Tempelwächter, die jetzt auch herankamen, fragte ich deshalb noch
einmal, wo sich denn eigentlich der heilige Acker befinde. Er liegt
ja vor dir, antwortete man mir. Aber das sieht ja aus, wie ein
Brachfeld ; wo ist denn das gesäte Getreide, man entdeckt ja keine
Spur davon. — Das ist längst wieder ausgehackt; wir haben hier
Gurken gesät und Melonen. — Dürft ihr denn nach Belieben dem
Kaiser seinen Acker ruinieren? — Die kaiserliche Saat wächst ja
doch nicht, und daß der Kaiser pflügt und sät, geschieht nur des
K. P i e p e r , „Neue Bündel". U
— 210 —
Beispiels halber. Sehet, da liegen noch einige Furchen, welche die
Prinzen gepflügt; urteilt seibat, ob aus der Saat etwas werden kann. —
Etwas abseits von dem Gurkenfelde sah ich einige krumme
Furchen gezogen, auf denen hier und da etwas Grünes hervorwuchs :
Weizen, Hirse, Sorgho, Bohnen, alles durcheinander. Die Leute
hatten recht, daraus konnte nichts Gescheidtes werden.
Den heiligen Ackern nach Norden direkt gegenüber liegt die
„Pflügungs-Beaufsichtigungs-Terrasse" (Kuen-köng-t'e). Es ist das
eine aus gelben und grünen Ziegeln gemauerte Erhöhung, die ein
rechtwinkeliges Viereck bildet und die Größe einer chinesischen
Morge haben mag. Von allen Seiten führen steinerne Treppen
hinauf, die je neun Stufen zahlen. Von dieser Estrade aus beauf-
sichtigt der Kaiser die Bebauung seines Ackers; daher auch der
Name (Kuen — beaufsichtigen, köng — pflügen, t'e = Erhöhung).
Ich setzte mich oben auf die Terrasse nieder und ließ mir von einem
Tempelwächter den ganzen Hergang der Ackerbau-Ceremonie er-
zählen. Der Mann behauptete, schon einige dutzend Male dabei
gewesen zu sein, wenn der Kaiser sein Feld bestelle oder Opfer
bringe — da sollte man glauben, er könne alles ziemlich wissen.
Was ich in Folgendem erzähle, ist nur das, was ich selber gesehen
und von meinem Chinesen gehört habe.
Wie ich anfangs schon bemerkte, führen von der Hauptstraße
her zwei Tore in den Ackerbautempel. Dieselben sind vielleicht
einige hundeit Schritt von einander entfernt. Das nördliche (Pei-
sui-menj, welches dem Kaiserpalast zunächst liegt, darf der Monarch
nur benutzen, wenn er 60 Jahre alt ist; denn dann erst ist es ihm
erlaubt, den kürzeren Weg zu gehen. In seinen „jungen* Jahren
aber, d. h. so lange er noch keine sechzig alt ist, muß er einen
längeren Weg machen, nämlich durch das Südtor (Naen-mi-men).
Auch das soll zur Erbauung der Landleute dienen, die oft weite
Wege zu machen haben, ehe sie zu ihrem Acker gelangen. Daß
sich der Kaiser zu seinem Acker tragen läßt, und daß deshalb ein
längerer Weg für ihn wenig zu bedeuten hat, daran stößt sich nie-
mand, denn dafür ist er eben Kaiser. Die baulichen Anlagen sind
in bescheidenem, einfachem Stil gehalten, da die Bauern auch nicht
in Palästen wohnen sollen, sondern in Wohnungen, wie sie der
Einfachheit des Landlebens entsprechen.
Der Haupttempel heißt T'ä-sui-tien und ist dem „ Holzsterne u
(Jupiter) geweiht. Er hat eine Länge von 72 Fuß und ist zu bei-
den Seiten von Hallen flankiert. Diese Hallen bestehen aus je sechs
Abteilungen; in jeder Abteilung ist eiu massiver Altar errichtet,
— 211 —
welche den Altären in unseren Kirchen sehr ähnlich sehen. Auf
jedem Altare steht ein tabernakelähnliches Gehäuse. Nach vielem
Zureden entschloß sich mein Begleiter endlich, ein Gehäuse zu öffnen.
Ich sah darin ein Täfelchen, welches mantelartig mit gelber Seide
umhüllt war. Auf dem Täfelchen stand in roten Zeichen geschrie-
ben: „Geistessitz des T'ä-sui". Die zwölf Altäre, Tabernakel und
Täfelchen sind den zwölf Monaten des Jahres geweiht. In dem
Haupttempel aber ist ein mächtiger Altar erbaut mit reichvergol-
detem Tabernakel, worin der Geistessitz des Holzsternes verehrt wird.
Hier, sowie in den Seitenhallen werden im letzten Monate des chi-
nesischen Jahres die Dankesopfer dargebracht für eine gesegnete
Ernte. Dieselben bestehen aus sechs Ochsen, sechs Schafen und
sechs Schweinen.
Die Opfertiere werden in einem eigenen „ Palaste u (Ta-scheng-
t'ing) „erlegt", d. h. geschlachtet. Aber es ist nicht gestattet, von
schlachten zu sprechen, weil in früheren Zeiten der Landmann
nur Wild aß, welches er auf der Jagd erlegte. Ochsen und Schweine
müssen von schwarzer Farbe sein, die Schafe aber von weißer. In
einem riesigen kupfernen Kessel werden die Tiere mit heißem Wasser
gebrüht und dann von dem Innern befreit; es ist verboten, sie zu
enthäuten. Nachdem dann die Eingeweide entfernt sind, legt man
sie auf große Opfertische, welche in dem Haupttempel und in den
Nebenhallen vor den Altären stehen. Auf mannshohen Leuchtern
brennen rote Kerzen und erleuchten das mystische Tempeldunkel;
es duftet der Weihrauch ; ringsumher herrscht geheimnisvolles Schwei-
gen. Im T'ä-sui-tien brennen außerdem noch sechs Riesenlaternen,
welche die Form einer Pagode und eine Höhe von drei bis vier
Meter haben. Statt des Glases ist rote Gaze angebracht. Nachdem
die Opfer eine gute halbe Stunde vor den Altären gestanden haben,
werden sie fortgetragen und an die Tempelhüter sowie an das
diensttuende Personal verteilt.
Hierauf bekommen die 13 „ Seelensitze a neue Umhüllungen.
Die alten werden entfernt und in einem eigenen Gehäuse verbrannt.
Die Herbstdankesopfer werden nicht vom Kaiser, sondern von
einem Prinzen dargebracht, den der Kaiser eigens dafür bestimmt.
Er hat auch zur Zeit des Opfers vor den einzelnen „ Seelensitzen u
die Anbetungsceremonien (Kao-t'ou) zu machen.
Eine ähnliche Ceremonie des Opferns knüpft sich auch an den
Kaiserbesuch im Frühjahr bei Gelegenheit des Ackerpflügens.
Nachdem nämlich der Acker bestellt ist, begibt sich der Kaiser
niit seinem Gefolge zu dem Altare des Genius für den Ackerbau
u*
— 212 —
fSclten-Huu<j-t'*~i/. Dieser Altar steht iin Freien und hat viele Aehn-
lichkeit mit d<T «Pttügungs-Beaufsichtigungs-Estrade- ; er liegt west-
lieh nicht weit davon. Aach Grübe und Ausdehnung sind beide fast
gleich. Nur stehen auf dem Ackerbaualtare acht grölte Weihrauch-
gefäße aus polierter Bronze. Zur Zeit des Opfers wird darin
Weihrauch verbrannt, den der Kaiser in seinem Palaste eigens
bereiten labt und der anderswo nicht zu haben ist, noch auch für
andere Zwecke gebraucht werden darf. Er soll aus wohlriechendem
Holze bestehen und überaus köstlich duften. Die Seelentafcl des
Ackerbaugenius wird aus dem Tempel geholt und in gelber Sänfte
zum Altare getragen ; dort stellt man sie auf einen Thron. Davor
stehen die Tische mit den üblichen Opfern : es brennen viele hundert
Kerzen auf hohen, rot lackierten Leuchtern ringsumher, und selbst
der Weg, wohin die Prozession zieht, ist mit roten Fackeln einge-
fabt. Der Kaiser wirft sich vor der .Seelentafel- des Ackerbauge-
nius nieder und berührt dreimal mit der Stirne den Boden.
Zu guterletzt muß ich dem freundlichen Leser noch von der
Hauptsache erzählen, nämlich von der Bebauung des heiligen Ackers.
— Schon einige Zeit vor Ankunft des Monarchen werden die
Ackergeräte in Stand gesetzt, besonders der kaiserliche Pflug, der
aber nicht aus Gold besteht, sondern aus gelb lackiertem Holze mit
eiserner Schar. Auch die Ochsen werden bei Zeiten herangeführt ;
es ist Aufgabe des Mandarins von Peking, 1 ) dieselben zu stellen.
Im ganzen sind es 26 Tiere, von denen 24 schwarz, zwei abei
gelb sein müssen. Gebraucht werden allerdings nur 13, aber es
muß die doppelte Zahl vorhanden sein für den Fall, daß sich ein
Tier störrisch benehmen und dadurch der hohe Ernst der Sache
auf das Spiel gesetzt würde. Das störrische Tier könnte dann sofort
durch einen Ersatz-Ochsen abgelöst werden. Selbstverständlich
pflügt der Kaiser nur mit einem gelben Ochsen, aber auch ihm
steht ein Ersatz-Ochse zur Verfügung. Haben die Tiere ihre Schul-
digkeit getan, d. h. ist der Acker bestellt, können sie zurückkehren
in die Alltäglichkeit des Lebens; ja selbst der Kaiserochse wird
entlassen ohne irgend welche Auszeichnung und kann seinen früheren
Stall wieder aufsuchen.
Dem heiligen Acker gegenüber, in Verbindung mit der •Pflü-
gungs-Bewachungs-Estrade" liegt ein Palast, welcher drei Abtei-
lungen aufweist. Die mittlere hat einen langen hölzernen Di van,
auf den sich der Kaiser nach getaner Arbeit setzen kann, um
l ) Peking al« Stadtbezirk heißt Schuin-t'ien, der einen eigenen Mandarin
zur Verwaltung hat. Es ist das so eine Art Oberbärgermeister.
— 213 —
auszuruhen und Tee zu trinken. Im ganzen Raum ist weder Stuhl
noch Tisch, weil die Landleute im allgemeinen solche auch nicht
haben. An der Wand hängt eine schwarze Tafel, auf welcher in
goldener Schrift das Beispiel des Kaisers die gebührende Anerken-
nung findet und in vielen Lobsprüchen gefeiert wird. Rechts und
links liegen Räume zum An- und Auskleiden. Der Kaiser legt
nämlich, bevor er mit seinen Ochsen aufs Feld zieht, die Monar-
chentoga ab, vertauscht den Kaiserhut mit einem gewöhnlichen, hängt
die Kette schärpenartig um, nimmt eine gelbe Peitsche zur Hand
und begibt sich so an die Arbeit. Der Ochse wird von hohen
Würdenträgern geführt; wenn die Furchen schief laufen, so ist es
ihre Schuld. Hinter dem Pfluge gehen andere Würdenträger her
und streuen die Saat ein; geht sie nicht auf, so ist es ihr Vergehen.
Eine Säemaschine, wie man sie heutzutage in ganz China gebraucht,
kommt nicht in Anwendung: ein Zeichen, daß der Kaiser schon
damals seinen Acker bestellte, als man die Säemaschine noch nicht
kannte. Der Kaiser beackert im ganzen einen Morgen und drei
Ruten (i mu säen fin). Dann kommen drei Prinzen an die Reihe
und hierauf neun Würdenträger. Außerdem haben einige ehrwür-
dige Greiße aus Peking und Umgegend Zutritt, welche eigens vom
Bezirksbeamten für diese Gnade empfohlen und zugelassen werden,
natürlich gegen gutes Honorar. Dieselben müssen sämtlich dem
Ackerbaustande angehören, weiße Barte haben und über die Sechzig
hinaus sein; ihre Zahl beträgt neunzehn. Die Furchen werden
immer von Süd nach Norden gezogen, warum, wußte mein Cicerone
auch nicht zu sagen. Während Prinzen und Würdenträger pflügen,
sitzt der Kaiser auf der Estrade, welche alsdann mit einem gelben
Zelte von Seide überspannt ist. Der offizielle Tag für die Feier-
lichkeit des Ackerpflügens ist immer chinesisch „Mitte Frühling*
(20. März). Dieser Termin muß genau innegehalten werden und
„weder Wind noch Wetter ist hinreichender Grund, ihn zu verta-
gen u (Fung-jü sui tschui).
Es bleiben uns noch die kaiserlichen Speicher zur Besichti-
gung übrig. Im ganzen gibt es drei, die von einer besonderen
Mauer umschlossen sind. Darin wird das kaiserliche Getreide auf-
bewahrt, das aber nicht der kaiserliche Acker hervorgebracht hat,
sondern, das der Mandarin von Peking alljährlich im letzten chine-
sischen Monate stellen muß. Es werden dort im ganzen 22 Säcke
aufgespeichert, nämlich fünf Sack Weizen, zehn Sack Hirse, ein
Sack Bohnen, ein Sack Reis und fünf Sack Süßhirse (Schu-tse).
Von diesem Getreide wird die Aussaat genommen, das übrige
— 214 —
kommt den Tempelhütern zu gute. Im ganzen sind 20 Mann
angestellt, welche die Gebäude und Anlagen zu bewachen haben.
Ihnen steht ein Großmandarin (Ta-gin) vor, der bisweilen Revi-
sion hält.
Die Amerikaner hatten zur Zeit, als ihr Militär im Ackerbau -
tempel hauste, der Bequemlichkeit halber, einige Breschen in die
Umfassungsmauer gelegt. Jetzt ist die Mauer wieder hergestellt.
Ihre Pferde haben manchem Baume die Rinde abgenagt — das ist
allerdings nicht wieder gut zu machen, die Bäume sind gestorben.
Ausheben darf sie naturlich niemand, denn hier ist alles kaiserliches
Besitztum und deshalb ,. heilig*. Die Tempel und Anlagen sowie
die Opfergeräte wurden in diesem Frühjahr wieder ausgebessert und
das Fehlende wurde ersetzt. Als Grundfarbe, worin das Holzwerk
der Gebäude in- und auswendig lackiert ist, dient hellrot; die her-
vortretenden Linien aber sind vergoldet. Es macht das einen
ungemein vornehmen Eindruck.
Mein Chinese, den ich schon längst müde gefragt und der
sich nicht genug wundern konnte über die Neugierde des Europäers
— mehrere Male fragte er mich, ob wir in Europa vielleicht etwas
ähnliches bauen wollten — streckte mir beim Fortgehen die Hand
entgegen; nicht zum Abschied, sondern er wollte etwas hineingelegt
haben. Es ist das in Peking einmal so Sitte. Fast keine Pagode
kann man besuchen, es sei denn, daß man eine Kleinigkeit gibt.
Meinem heutigen Führer vermachte ich 30 Cents, und ich tat es
gerne, denn ich hatte viel Interessantes gesehen und gehört.
Durch die Straßen Pekings.
j einem Spaziergange im Innern Pekings wird der Leser
loch viel weniger Lust verspüren als droben auf der hohen
Stadtmauer, wohin ich ihn anfangs geführt. Lebt doch Pe-
king in seiner Erinnerung nicht so sehr als Hauptstadt des
„himmlischen Reiches*, sondern vielmehr als Augiasstall, der schon
Jahrhunderte lang auf seinen Herkules wartet. Allerdings haben sich
zur Zeit der Boxer die Ausländer an der Reinigung versucht und auch
mit einigem Erfolge, aber all die diesbezüglichen weisen Einrichtun-
gen sind aufgegeben oder eingeschlafen, nachdem die Chinesen das
Regiment wieder übernommen haben. Zunächst hatte die proviso-
rische Regierung für allgemeine Aborte gesorgt, die an geeigneten
— 215 —
Stellen angebracht, den Chinesen Gelegenheit bieten sollten, es nicht
mehr zu tun wie die Hunde und das liebe Vieh. Die meisten dieser
Ortlichkeiten sind längst von der Bildfläche verschwunden, andere
werden jetzt als Hühnerstall benutzt oder als Obdach für die Schweine.
Nur die weißgetünchten Wände, auf denen in großen chinesischen
Zeichen der ehemalige Zweck gepinselt ist, verraten ihre ursprüng-
liche Bestimmung und bilden die letzten Tätigkeitsspuren des frem-
den Regimentes. Hua-gin-tz'e steht auf diesem: „ Abtritt für Leute
aus dem Blumenreiche". Kuen-tz'e ist auf jenem zu lesen: „Offi-
zielle Bedürfnißstätte". Jetzt herrscht wiederum Freiheit auf allen
Wegen und man huldigt wie ehedem der Vätersitte.
Doch voran! Heutzutage kann man ja in Peking leicht und
bequem von der Stelle kommen; setzen wir uns in eine Rickscha
oder auf Eselsrücken oder in einen „Galawagen" mit Matten säu-
berlich überdeckt, und lassen uns in Eile vorbeiführen an Stellen,
die dem Geruchsinn oder den Augen nicht zusagen. Sich nicht
bange machen lassen, ist der erste zu befolgende Grundsatz für jeden,
der sich mit besagten chinesischen Beförderungsmitteln transportieren
läßt. Die Esel sind störrisch, aber ihr Führer weiß sie schon zu
bändigen. Die Rickschas scheinen nur so durch die Luft zu fliegen,
so unbändig läuft der Kuli davor. Mit geschicktem Rucke bringt
er das gefährdete Rad über die Pfützen hinweg. Geht es im wilden
Galopp in den dichtesten Menschenknäuel, zwischen Fuhrwerk, Kamel-
treiber und Reitervolk, nur keine Besorgnis : mit Schreien und Flu-
chen und Gestikulieren lösen sich die kritischen Lagen in lauter
Wohlwollen auf, ohne daß der besorgte Fremdling einen Arm dabei
zerbräche oder eine Beule am Kopfe davontrüge.
Wohin unsere Spazierfahrt machen? Peking ist aus drei Städ-
ten zusammengeschachtelt und jede ist groß genug, um einen ganzen
Tag zu fesseln. Den größten Reiz für uns bildete allerdings die
innere Stadt (Tze-tsch'öng), worin der Kaiser seinen Thron aufgeschla-
gen hat. Aber schon längst sind dem Ausländer daselbst wieder die
Riegel vorgeschoben und die Stadt ist für ihn verboten wie ehedem.
Da bleiben uns nur mehr die Ta.tarcn-( Nei-tsch'öng) und die Chine-
senstadt (Ue-tsch'öng) übrig. Wählen wir die erste, denn sie bietet
das Meiste des Interessanten. Das dreifache Peking ist mit einer
Mauer umgeben, nur bildet die südliche Mauer der Tatarenstadt
auch zum größten Teil den nördlichen Abschluß der Chinesenstadt.
Pekings Haupttor ist das Tsien-men, „die vordere Pforte",
auch Tschöng-jang~men, „das wahre Sonnentor" genannt. Treten
wir durch dasselbe ein, so haben wir bald abzuschwenken nach rechts
— 216 —
oder links, denn vor uns erblicken wir eine mit vergoldeten Nägeln
beschlagene Pforte, die zur verbotenen Stadt führt, „die Pforte der
unvergleichlichen Klarheit* (Ta-tsing-men). Wenden wir uns nach
rechts. Wir sehen mächtige Bauten in europäischem Stile. Dort lag
ehedem das Gesandtschaftsviertel, jetzt ist dasselbe erweitert zu einer
internationalen Soldatenkolonie der auswärtigen Mächte, die daselbst
ein großes Grundstück in Beschlag genommen und sich häuslich
eingerichtet haben : eine vierte Stadt im Pekinger Städte-Trio. Um
uns ohne Zahlenangabe die Größe des beschlagnahmten Komplexes
bildlich zu veranschaulichen, denken wir uns in der Reichshaupt-
stadt Berlin den Tiergarten, Moabit und Lützow von den Chinesen
okkupiert. Ungefähr so viel wird es im Verhältnis sein, was in
Peking in den Händen der Ausländer ist, zumal wenn die Besit-
zungen der Katholiken und Protestanten mit eingerechnet werden.
In dieser Ausländerstadt finden wir die deutsche Gesandtschaft ; des-
gleichen die französische, österreichische, englische, russische, ame-
rikanische und japanische. Jede Gesandtschaft hat ihre militärische
Besatzung mit den erforderlichen Kasernen, Offiziers Wohnungen und
dergl. Die Holländer haben nur ein Konsulat und ein Dutzend
Soldaten; ebenso die Spanier, Belgier und Koreaner; letztere drei
Mächte haben keinerlei militärische Besatzung. In diesem interna-
tionalen Viertel sieht es denn auch recht ausländisch aus: Kirchen
und Kasernen; Postgebäude und Hotels; Verkaufsläden und Wa-
renmagazine; Fabrikschornsteine und Schulen; Plätze zum Pferde-
rennen und Tennisspielen ; sorglich gepflegte Gärten und chaussierte
Straßen; eine abendländische Welt im Herzen der Hauptstadt des
alten Mongolen-Khan Kublai, in nächster Nähe der Geheimnisse der
Residenz des „Himmelssohnes". Eine Durchfahrt genügt; denn was
wir vor uns sehen, ist abendländische Kultur, wie wir sie daheim
alltäglich zu betrachten Gelegenheit haben.
Auf dieser Durchfahrt bemerken wir gleich linker Hand ein
imposantes Gebäude; wozu es dient, besagt uns die Schrift in mäch-
tigen Zügen auf der Front : lYhopital international. Es werden dort
von Vinzentinerinnen die Kranken gepflegt, ohne Rücksicht auf
die Nationalität. Dem Hospital gegenüber liegt das amerikanische
Anwesen. Die Amerikaner hätten Nonnen und Kranke lieber an-
derswo gehabt; aber Bischof Favier hat sich nicht daran gestört und
gebaut, weil ihm der Platz geeignet schien. Die Amerikaner ha-
ben dafür am östlichen Ende der Gesandtschaftsstraße einen ameri-
kanischen Missionar mit mancherlei Gebäulichkeiten gegenüber den
französischen Kasernen angesiedelt.
— 217 —
Die Gesandtschaftsstraße mündet in die Hauptstraße, welche
von der bekannten Hatamen in gerader Richtung die ganze Chine-
senstadt bis zur nördlichen Umwalluug durchschneidet. Ein Renn-
platz für das deutsche Militär bildet den Abschluß der Ausländer-
stadt, und ein monumentales Tor, welches die Straße überspannt,
erinnert daran, daß man sich vorläufig mit dem Okkupierten zu
begnügen gedenkt. Daß der Besitz aber nötigenfalls auch verteidigt
werden kann, sieht man auf den ersten Blick. Man erhält dort
festungsartige Eindrücke, und auch der Laie begre ift, daß die Schieß-
scharten, Kanonenlöcher und Laufgräben nicht aus ästhetischen
Gründen gemacht sind. In unmittbarer Nähe der Hatamen haben
die Deutschen oben auf der Stadtmauer ein bastionartiges Gebäude
aufgeführt. Wohl ragt das Chinesentor dem deutschen David hoch
über den Kopf; aber eine Viertelstunde würde genügen, den prot-
zigen Chinesengoliath zur Strecke zu bringen. Unbarmherzig sind
die Chinesenwohnungen die ganze Straße entlang, so weit das Ge-
sandschaftsviertel reicht, abrasiert worden. Da ist dem Feinde jede
Gelegenheit genommen, sich heranzuschleichen ; er selbst aber wird
nicht viele Lust verspüren, sich auf freiem Felde dem Kugelregen
der Gegner auszusetzen.
Das Ausländerviertel wird noch jetzt von den Chinesen Tjao-
mintjan genannt: Straße der Handelsleute. Ehedem wohnte dort
viel Krämervolk und wurden daselbst Schaf-, Pferde- und Schweine-
märkte abgehalten. Nachdem die ausländischen Truppen Peking
von den Boxern gesäubert hatten, suchte jede Nation ihren Besitz
zu vergrößern. Es war das einerseits notwendig zur Unterbringung
des Militärs und anderseits war der Besitz mancher Gesandtschaft
recht beschränkt. „Von der deutschen Gesandtschaft okkupiert" sah
ich damals in großen Lettern auf einige Kalkwände geschrieben. Die
Wände sind jetzt eingerissen, die Schrift ist verschwunden, das Terrain
aber ist deutscher Besitz geworden bzw. belgischer. Das belgische Kon-
sulat liegt nämlich zwischen den deutschen Kasernen und der deutschen
Gesandtschaft, begreiflich genug, daß es selber kein Militär benötigt.
Wir gehen den nämlichen Weg, den am 20. Juni 1900 der
deutsche Gesandte machte, um zum T$ung-U~ya-men zu gelangen,
und befinden uns an der Stelle, wo Frhr. v. Ketteier einer fana-
tischen Boxerhand zum Opfer fiel. Es erhebt sich jetzt daselbt ein
mächtiger Triumphbogen als Sühnedenkmal, der einzige solcher Art
in ganz Peking. Es ist das recht auffallend, da man sonst wohl in
kleinen Provinzialstädten (z. B. in Kiaotschou) eine ganze Reihe der-
artiger Monumente antrifft. Das Bauwerk ist in chinesischem Stile
— 218 —
aus weißem Marmor aufgeführt und macht einen recht imposanten
Eindruck, wenigstens für die Chinesen. Seine Bedeutung ist in
chinesischer, lateinischer und deutscher Sprache darauf gemeißelt:
r zum ewigen Gedächtnis. Zum bleibenden Beweise für den Zorn
des Kaisers (von China) ob dieser Freveltat* (sc. Ermordung des
deutschen Gesandten). Die Zeit wird lange gebrauchen, die Schrift
vom harten Marmor abzuwischen. Hier haben wir auch Gelegenheit,
die berühmten Pekinger Straßen in Augenschein zu nehmen. Die
Gesandtschaftsstraßen sind, wie gesagt, meistens chaussiert. Die
Chinesen aber bestehen bezüglich ihrer eigenen Straßen hartnäkig
auf ihrem eigenen Kopfe und „pflastern" noch heutzutage grade
so, wie vor vielen hundert Jahren. Das „Chinesenpflaster" hat den
Vorzug, daß die Wagen, welche darüber herfahren, absolut kein
Geräusch machen, noch viel weniger als auf der besten Asphaltstraße.
Erst recht ist das der Fall, wenn es lange nicht mehr geregnet hat,
und sich die Wagen durch fußdickc Staubwogen zu arbeiten haben.
Zwar bemühen sich dann Hunderte, von Arbeitern den ganzen Tag
hindurch, des Staubes Herr zu werden, indem sie Wasser darauf
sprengen, aber es ist vergebliche Mühe.
Über die Straßenpflege Pekings (Tatarenstadt) haben vier
Mandarine zu wachen, denen eine Menge Soldaten zu diesem Zwecke
zugeteilt ist. Indes ziehen es die Soldaten vor, sich auf die faule
Haut zu legen, und statt selber zu arbeiten, dingen sie einige Kuli.
Die Ausbesserung besteht darin, daß bei Regenwetter die Pfützen
zugeschaufelt werden, zur Zeit der Trockenheit aber der Staub mit
Wasser besprengt wird. Alles, was man nicht im Hause haben
will, wird auf die Straße geschafft, und davon bildet der Auskehricht
den unschuldigsten Bestandteil. So etwas wie Straßenfegen aber
gibt es in Peking absolut nicht; was auf die Straße kommt, bleibt
darauf liegen, höchstens daß sich die Hunde noch hier und da
etwas für ihre hungerigen Magen herausschnopern. Die Straßen
sind infolgedessen auch ganz mächtig in die Höhe geschossen und
sie werden noch immer höher steigen, wenn nicht mit der Zeit ein
Herkules kommt, der sie fegt. Was wir an den Straßen Pekings
zu bewundern finden, ist ihre Breite und ihre schneidige Länge.
Zwei Hauptstraßen laufen kerzengerade von Süd nach Nord und
teilen die Tatarenstadt in drei Parallelen ; im mittleren Teile befindet
sich die Kaiserstadt. Außer diesen Straßen gibt es noch 4 — 5
andere Hauptstraßen, welche auch mehr oder weniger parallel von
Süden nach Norden führen. Die Zahl der Gassen, welche meistens
gradzeilig in die Hauptstraßen von Ost nach West münden, ist sehr
— 219 —
.5
o
>
03
55
— 220 —
groß; ich zählte auf einer Seite gegen 50. Jede Gasse hat ihren
eigenen Namen ; vielfach steht derselbe mit einem Markte in Bezieh-
ung, der dort gehalten wird. Märkte gibt es nämlich in Peking
die Menge und zwar täglich. Man hat Märkte für Fleisch, andeie
für Früchte, andere für Kohlen, wieder andere für Stricke. Auf
diesem Markte werden nur Spatzen verkauft, auf einem anderen nur
Pferde und Maulesel, wieder auf einem andern nur künstliche Blu-
men. Hier ist nichts zu haben als Knoblauch, anderswo nichts wie
Gemüse, wieder anderswo nichts wie Getreide. Auf dieser Straße
bietet man nur Lampen feil, auf jener nur Silbersachen, auf einer
dritten nur Zöpfe und Kämme. Die Bettler haben ihren eigenen
Markt, wo nur Lumpen, abgeschlissene Kleider und Schuhe aus-
gestellt sind, ebenso die Eseltreiber, und wer einen Langohr haben
will, muß zum K'an-lü-sche (Eselstreibermarkt) schicken. Wer Bedarf
hat für Stroh, verfügt sich zum Strohmarkt, wer Kostbarkeiten er-
stehen will, findet solche auf dem Tschu-pao-sche, auf dem Juwelen-
markte. Die vier Haupstraßen, welche von Ost nach West führen,
gehen gleichfalls schnurgerade, aber sie durchschneiden die Tataren-
stadt nicht in dieser Richtung, da die Kaiserstadt als Kern in der
Mitte liegt. Wer auf einer der Hauptstraßen seine Promenade
macht, gebraucht mehr als eine geschlagene Stunde, um von einem
Tore zum anderen zu kommen. Dabei muß er noch stramm für-
baß marschieren und darf nicht zu viel nach rechts oder links
schauen oder gar auf die Geschichtenerzähler hören, die während
der Nachraittagsstunden oft zu Dutzenden in verschiedenen Abstän-
den ein neugieriges und müßiges Publikum zu unterhalten und
zuerheitern suchen.
Gleich den Straßen haben auch die Stadttore ihre eigenen
Namen. Die Tataronstadt zählt deren neun, und zwar drei nach
Süden, zwei nach Norden und je zwei nach Ost und West. Sämtliche
Tore haben einen hufeisenförmigen Vorbau. Anstatt daß die Straße
gerade durchführt, biegt sie entweder rechts oder links in den Vor-
bau ab; nur das „wahre Sonnentor" hat als Haupttor auch einen
geraden Durchgang, der aber nur dem Kaiser geöffnet wird. Der
tägliche Verkehr bewegt sich auf beiden Seiten ; das bedeutet aller-
dings, viele unnötige Umwege machen, aber der Chinese scheut
Kolchos nicht, da er ja Zeit genug hat.
Vor. ungefähr Jahresfrist ist noch ein zehntes Tor hinzuge-
kommen, das Tor der Ausländer, ungefähr in der Mitte des Gesandt-
Hchuftsviortels. Es durchbricht die sudliche Mauer der Tatarenstadt
und führt direkt zum Bahnhof. Die Stelle, wo es erbaut ist, hat
— 221 —
einen historischen Hintergrund. Dort krochen die ersten Befreier
Pekings durch den Stadtkanal und brachten den Eingeschlossenen
Hülfe und Rettung. Das Hauptportal Pekings heißt Tchöng-jang-
nien: „das wahre Sonnentor". Rechts davon ligt im Abstände
einer Viertelstunde das Tor „der erhabenen Wissenschaft" (Tschung-
niu-men) links jenes des „gewaltigen Militärs" (Hnen~ü-men). Der
Drachenthron wird somit gleichsam von den zwei Hauptsäulen des
Reiches flankiert: der Wissenschaft und dem Schwerte, und zwar
ist ersterer der Ehrenplatz (links) angewiesen. Auch die übrigen
Tore haben ihre eigenen Namen, meistens sogar zwei, aber über
die Erklärung derselben konnte ich bei den Chinesen keine genü-
gende Auskunft finden. Das „wahre Sonnentor" ist zur Zeit der
Unruhen verbrannt worden, ebenso auch zwei andere; von einem
vierten hat man die Dachziegel heruntergeholt, und da wird es auch
bald um seine Existenz geschehen sein. Überhaupt sind alle Tore
Pekings mehr oder weniger baufällig ; sie aber neu aufzuführen, ist
vorläufig noch wohl ein Ding der Unmöglichkeit, denn dazu wären
Millionen erforderlich, die der kaiserlichen Kasse aber fehlen. Die
Stadttore gehören mit zu den Monumentalbauten Pekings. Sie schei-
nen auch nur den Hauptzweck zu haben, zu imponieren, denn prak-
tischer Wert ist wenig daran zu finden. Der Eingang führt bescheiden
durch einen tunnelartigen Bogen der gewaltigen Umfassungsmauer ;
oberhalb derselben erhebt sich dann in drei bis vier Stockwerken
breit und behäbig und doch imposant der Riesenbau, eine Zufluchts-
stätte für Elstern, Krähen und Tauben. Aus den vielen Fenster-
nischen drohen allerdings zahlreiche Kanonenmündungen, aber bei
genauerem Zusehen vergeht der Schrecken, den sie einflößen sol-
len: sie sind nur gemalt.
Führt man jemanden in einer fremden Stadt spazieren, so
werden vor allem die Kirchen und Museen besucht; die Park- und
Gartenanlagen; das Rathaus und die Theatergebäude, weil solche
Bauten der Stadt meistens ihr eigentümliches Gepräge geben und
sich aus der gewöhnlichen Bürgerlichkeit besonders hervorheben.
Von all derartigem gibt es in Peking aber nicht viel zu sehen. Das
interessanteste Museum für uns wäre ohne Zweifel die Residenz des
Himmelssohnes, denn dort wird auch jetzt noch mancherlei aufbe-
wahrt, das in jedem Museum einen Ehrenpatz bekäme. In der
Kaiserstadt finden wir auch die herrlichsten Garten- und Parkanlagen
von alter Kunst und langjähriger Natur wundersam gestaltet. Und
schließlich würden wir dort auch Theater finden, welche wir im eigent-
lichen Peking (Tatarenstadt) vergeblich suchen. In der Chinesenstadt
222
allerdings waren ehedem zwanzig vorhanden: aber zur Zeit der
Boxerbewegung sind manche niedergebrannt und nunmehr noch
acht übrig. Wollen die Bürger der Tatarenstadt ins Theater, so
gehen >\e zur Chinesenstadt.
Was die Gotteshäuser Pekings betrifft, so ist von den vier
Hauptkirchen nur mehr die nordliche (Peifang) vorhanden ; die drei
anderen wurden bekanntlich zerstört. Unterdessen ist aber wieder
eine zweite erbaut und zwar im Gesandtschaftsv iertel, wo sie den
Katholiken aller Nationen offen steht. Auch ist der Aufbau der
zerstörten Kirchen (Tungfang, Sifang, Naent'ang) wieder in Angriff
genommen. Pagoden gibt es in der Tatarenstadt auch nur wenige ;
eine der schönsten ( Tschan Tnen-asnj wurde von den ausländischen
Truppen in Trümmer gelegt, weil sie eines der Haupt- Boxernester
gewesen war. In die Augen fallend ist besonders eine sogenannte
Regenschirmpagode, so geheißen wegen ihrer Spitze, die oben schirm-
förmig auseinander geht. Die Chinesen nennen sie Pei-t'a-ssn, die
Pagode des weilien Turmes. Die sonstigen Hauptkultusstätten, vor
allem der Himmelstempel, befinden sich in der Chinesenstadt; letz-
terer ist eines eigenen Besuches wert.
Sagen wir für heute der « Meisterstadt u des himmlischen Rei-
ches Lebewohl. Hauptstadt nennen wir die erste Stadt im Reiche,
weil das Landesoberhaupt dort wohnt. Der Chinese betitelt Peking
King-schae-tschöntj : .Meisterstadt*, das ist die erste Stadt, oder auch
Schuin-t'ien-jH, .die dem Himmel Ergebene" — wohl deshalb, weil
der Himmelssohn darin wohnt.
Ma-ngan-schen, das Sommerquartier
der deutschen Truppen in Peking.
■
Baß die deutschen Truppen in Peking den besten Platz an
1 der Sonne hatten, ist wohl kaum zu sagen. Im Sommer
meint es die Sonne eben zu gut und sendet mehr Wärme
als nötig und angenehm ist, die hohen Stadtmauern aber,
an die das Soldatenlager grenzte, halten die von Süden kommende
Brise zum Teil ab. Den Vorteil bieten allerdings die Mauern,
daß sie mit Leichtigkeit erstiegen sind, und daß man ebenso
leicht die Kanonen auffahren kann, „wenn mal wieder etwas pas-
sieren sollte*.
— 223 —
In Anbetracht der Sommerhitze nun war es ein kluger Gedanke,
für die Truppen ein kühles Plätzchen zu suchen, wo sie sich von
*der Hitze und Plage vergangener Tage erholen könnten. Dieses
Plätzchen ist in den Bergen gefunden und der Berg, wo es liegt,
heißt Ma-ngan-schen d. h. Pferde-Sattel-Berg, weil die chinesische
Phantasie in seinen Formen einen Pferdesattel erkennt. Ein Kloster
liegt dort in mittler Bergeshöhe, anmuthig im Grünen versteckt;
sein Name ist Tjä-tä-ssü. Ich will heute den freundlichen Leser
dorthin spazieren führen, damit er sich wenigstens im Geiste mit
unseren Sommerfrischlern erfreuen kann. Und findet er später einmal
selbst Zeit und Gelegenheit, persönlich hinzugehen, so ist ihm die
Stätte keine fremde mehr.
Wer es sich bequem machen und schnell ankommen will, kann
von Peking mit der Eisenbahn bis Tschang-sin-ticn fahren. Von
dort ist man in drei Stunden mit Leichtigkeit an Ort und Stelle.
Wer aber Zeit genug hat und es vorzieht sich die Gegend anzusehen,
benutzt am besten ein Pferd und reitet von dem Chien-men zum
Tschang-j-men der Chinesenstadt. Dort findet er eine gepflasterte
Straße, die allerdings schlecht zu reiten und eintönig zu sehen ist.
Eine gute Stunde dauert es, ehe die mächtigen Steinfliesen ihr Ende
nehmen, und man hat Zeit genug die Arbeitskraft der Chinesen
zu bewundern, die solche Werke geschaffen haben und sich zu
ärgern über die heutige Schlotterei, welche sie zerfallen läßt und
selbst das nicht ausbessert, was mit leichter Mühe geschehen könnte.
Den Schluß der Straße bildet ein massives Steintor mit drei Bogen.
„Alle Wege und Pfade laufen hier zusammen u (Tje-tao-t'ung-kui) lautet
der Weisheitsspruch über dem mittleren Bogen in Stein eingemeißelt.
Bald ist dann die Stadt Fei-tschöng erreicht. Weil da drinnen
nicht viel zu sehen ist, reitet man am besten an der südlichen
Umfassungsmauer vorbei, schwenkt rechts ab, und sieht dann die
lange Brücke Lu-kou vor sich. Es ist das jedenfalls eine der
berühmtesten Brücken von ganz China, deren Vorgängerin schon
seiner Zeit Marco Polo imponiert hat. Jene Brücke freilich, die
den venetianischen Reisenden entzückte und die während der Dynastie
Tsin erbaut worden war, fiel im Jahre 1668 in Trümmern zusam-
men. Kaiser Kanghi ließ sie in der jetzigen Gestalt von Neuem
aufführen. Die Länge des Bauwerkes beträgt ungefähr 350 Schritt,
und zwölf massive Bogen tragen die wuchtigen Steinmassen; die
Höhe der mittleren Bogen dürfte sich auf 30 bis 40 Fuß belaufen.
Possierlich nehmen sich die 140 Löwen aus, welche an dem stein-
ernen Brückengeländer in regelmäßigen Abständen angebracht sind.
— 224 —
Alle sind guter Dinge und grinsen und lächeln in den verschieden-
sten Grimassen den Wanderer freundlich an. Das hohe Alter hat
ihnen die Jugendfrische genommen, nicht aber den guten Humor.*
Jenseits der Ln-kou-tj'ao sind die Wege von der Natur geschaf-
fen und nach der Witterung und Jahreszeit sehr verschieden. Zu
Zeiten können sogar noch Wagen leidlich bis dicht an den Fuß
des Berges durchkommen. Am besten aber läßt man sich seine
Sachen, falls man solche mitnehmen will, von Kamelen oder Maul-
tieren tragen. Von ersteren Tieren ist die Strecke fast immer
belebt. Kalk und Kohlen sind die Hauptartikel, die sie aus den
Bergen schaffen. Will man beim Besuche von Tjä-t'ä-ssü die Kalk-
brennereien und die Kohlenbergwerke in Augenschein nehmen, so
ist auch dafür gute Gelegenheit geboten. Dicht am Wege sind
ganze Keihen Kalköfen und einige Li tiefer ins Gebirge hinein
werden Kohlen gegraben.
Der Aufstieg zum Berge geht ziemlich sacht. Man kann die
Tiere, falls sie stark genug sind, bis an die Klosterpforte reiten.
Nur wird das letzte Stück Weges etwas ungemütlich wegen der
Steinstücke, mit denen es kunterbunt belegt ist. Wer da mit dem
Pferde ins Fallen käme, könnte Hals und Bein zerbrechen. Noch
einige hundert Schritte von der eigentlichen Klosterpforte entfernt,
überspannt den Weg eine Art Triumphbogen, auf dem in großer
Schrift zu lesen ist, daß der Ort da droben herrlich sei. Von hier
aus sieht man ein Stück der Tempelanlagen aus saftigem Grün
hervorlugen und gewaltige Akazien breiten ihre Arme über den
Weg, kühlen Schatten dem schwitzenden Wanderer spendend. Dieser
nimmt seine Kraft neu zusammen und in kurzem Aulauf ist der
letzte Aufstieg überwunden. Er steht vor der Klosterpforte, findet
sie geöffnet und tritt ein.
Wie balsamisch das da duftet; welche traute Einsamkeit!
Hundertjährige Lebensbäume überschatten Tempel und Wege; alters-
graue Fichten spannen ihre Zweige schirmartig aus ; einige Vetera-
nen bedürfen sogar der Stütze, um sich aufrecht zu halten. Aber
wie es nur so ruhig da ist! Kein menschlicher Laut läßt sich hören,
kein lebendes Wesen ist zu erspähen. Die Sommerfrischler scheinen
sich hier im Klosterfrieden, auch im Stillschweigen zu üben. Wir
schreiten weiter und kommen durch ein zweitens und ein drittes
Tor. Da erscheint eine dienende Seele, die uns weiter führt. Jetzt
begreifen wir auch, warum es so ruhig war. Die Herrn sassen an
einem kühlen Plätzchen, beschäftigt, eine wichtige Frage zu lösen,
die Magenfrage. Während dessen aber lagen die Mönche im Tempel
— 225 —
der Andacht ob; eben hörte man sie ihre Gebete näseln und die
Glocke rühren. Ich wurde sofort angespannt, auch für meinen
Teil lösen zu helfen, und die liebevolle Gastfreundschaft der Herrn
verhalf mir zu einem unerwartet guten Resultate: Schinken Eier,
Pellkartoffeln, Wein, Mineralwasser, aromatische Luft, kühlender
Wind: Herz, was verlangst du noch mehr! Die Kühle war so groß,
daß ich schließlich zu einem Mantel greifen mußte, um mir keinen
„Pips" zu holen.
Nach dem Essen wird eine Siesta gehalten. Ich schaute mir
unterdessen in Begleitung eines kleinen Bonzen die Tempel an,
Leider wußte der Kleine auf meine Fragen, die ich in betreff der
Götzenbilder und Pagoden an ihn stellte, nur sehr wenig zu ant-
worten. Und als sich nachher noch einige alte Bonzen anschlössen,
wohl hoffend, es würde etwas für sie abfallen, kam ich zur Über-
zeugung, daß sie das Alter auch noch nicht viel weiser gemacht
hatte. Sie wissen wenig zu sagen über jene, die sie verehren, und
das Ziel, welches sie bei dieser Verehrung im Auge haben.
Das Kloster hat eine sehr lange Vergangenheit hinter sich.
In seiner ursprünglichen Gestalt soll es während der Liao-Dynastie
(917 — 1126) von einem Bonzen, Namens Ta-tiüin erbaut sein. Der-
selbe soll dort eine Kanzel (t'ä) errichtet haben, auf welcher er
seinen Schülern Vorträge über Fasten und Abstinenz hielt (tjä).
Tjä-t'ä-ssü heißt also „das Kloster der Fasten-Kanzel. u Solche Vor-
träge werden auch heute noch gehalten, aber nur an einem Tage
im Jahre, nämlich am 8. Tage des 4. Monats, chinesischen Datums.
Dann versammeln sich alle Hauptäbte der Klöster aus Nah und
Fern und pilgern nach Tjä-t'ä-ssü. Der dortige Superior steigt auf
die Kanzel und die Pilgeräbte setzen sich um ihn herum, seinen
Worten zu lauschen. Tjä-t'ä-ssü wird somit als eine Pflanzstätte
echten Klostergeistes betrachtet, aber der jetzige Abt soll durchaus
kein besonderer Liebhaber von Fasten und Abstinenz sein. Er soll
fast das ganze Jahr in Peking weilen und sich dort gütlich tun.
wenn aber die Schüler von Tjä-t'ä-ssü um eine Milderung oder um
irgend eine Dispens bitten, soll er sie zur Enthaltsamkeit und
Abtötung mahnen, die er selbst nicht übt. Darob sind seine Unter-
gebenen nicht besonders erbaut und deshalb auch nicht gut auf
ihn zu sprechen; ja, sie klagen sogar, daß ihnen nicht einmal das
zum Leben Notwendige verabreicht würde.
Die ganze Klostergemeinde besteht augenblicklich aus etwa
dreißig Personen. Davon liegt ein Teil der Arbeit ob; dieser
gehört nicht zur eigentlichen Gemeinde, sondern er besteht aus
K. Pieper, „Neue Blinder. 15
— 226 —
gemieteten Knechteu und Tagelöhnern. Einen zweiten Teil bilden
die Kloster-Novizen, welche nur am ersten und fünfzehnten jeden
Monats zu beten haben; während der andern Zeit aber muß der
dritte Teil, die eigentlichen Bonzen, für sie mitbeten, und zwar
drei Mal am Tage, das erste Mal morgens in aller Frühe. Die
Bonzen sind von jeder Arbeit frei; Gebet und Betrachtung (?)
sind ihre Obliegenheiten. Die Novizen aber haben kleine Neben-
beschäftigungen zu besorgen : Feldhüten , Beaufsichtigung der
Knechte usw.
Die Kanzel der Enthaltsamkeit bildet eine quadratförmige,
sich nach oben zu in drei Abstufungen verjüngende Erhöhung von
ungefähr drei Meter Höhe. In die Flächen, welche durch jede
Abstufung hervortreten, sind kleine Nischen gemeißelt und zwar in
der unteren 48, in der mittleren 32 und in der oberen 28. In
diesen Nischen stehen fratzenartige Gebilde (viele haben einen
Schnabel) welche Tj-scha-schenn genannt werden. Was der Name
zu bedeuten hat, wußten meine Cicerone auch nicht zu erklären.
Einer behauptete, es seien das die Bilder jener Aszeten, welche sich
zeitlebens besonders durch Enthaltsamkeit ausgezeichnet und ihre
Nahrung nur „schnabel weise" zu sich genommen hätten. Der ganze
Bau ist aus marmorähnlichem Kalkstein aufgeführt und gut erhal-
ten. Auf der Plattform steht ein Buddha (Sche-tia muo~tii-fuo) und
elf reichverzierte Stühle. Während der jeweilige Prior des Klo-
sters auf dem Hauptsitze Platz nimmt und seinen Vortrag hält,
setzen sich die versammelten Pilgeräbte auf die andern Stühle.
Für den geistigen Bedarf ist ferner durch eine reichhaltige Biblio-
thek gesorgt, die in vier Kasten aufgespeichert liegt. Auch in einem
andern Haupttempel, der Pagode des Yüo-sche (?) Buddha, befin-
den sich zwei Riesenkasten mit je 160 Schubladen. In jeder Lade
sind Bücher aufgestapelt, aber an Auswahl soll es fehlen. Es sind
weder apologethische, noch Geschichtswerke vorhanden, sondern
nur Gebetbücher (Ts'an-tjing). Die Schüler lernen den Laut der
Zeichen, ohne sich über die Bedeutung derselben Rechenschaft
geben zu können, das reinste Papageiengeschäft, wozu nur eben
ein Chinese fähig ist.
Vor den Bildern der Hauptgottheiten bemerkt man die ge-
wöhnlichen Zieraten: Leuchter, Blumenvasen und Opferschalen
mit Früchten. In der Pagode des Yüo-sche Buddha stehen zu
beiden Seiten zwei gewaltige „Bambus" Tsien-fu-tschn genannt:
Bambus des zehntausendfachen Glückes. Das Holz desselben soll
heilbringende Wirkungen haben und für Geld kratzt der Bonze
— 227 —
dem bittenden Pilgrim ein wenig ab. Daher rührt auch wohl das
wunderliche Aussehen der Bambus her, der übrigens gar kein
Bambus ist, sondern wahrscheinlich Überreste von alten Lebens-
bäumen darstellt.
Eine der interessantesten Sehenswürdigkeiten sind die zwei
langen Seitenhallen mit den 500 Schülern des Buddha (Luo-chan).
Da kann man Typen aller möglichen Farben und Gesichtszüge
studieren. Der Grundton freilich, der auf fast allen Gesichtern ruht,
ist das Vergnügtsein und die stille Wonne. Nur hier und da sieht
man ein Denkergesicht, versunken in tiefe Betrachtung. Die Euro-
päer stellen unter diesen Buddha-Schülern auch ihren Kontingent;
ja, selbst Schwarze und Halbschwarze gibt es ; Söhne Abrahams mit
krummen Nasen und Nachkommen Kams mit dunkler Hautfarbe.
Über einige wußten meine Begleiter ein wenig zu sagen, die meisten
aber waren ihnen unbekannte Größen. Ein Tuo-mei (Apostel Tho-
mas?) der da abseits steht, stamme aus dem Westen, und er sei
ein guter Mann gewesen. Ein alter Papa mit großer Beule auf
der Stirne habe zeitlebens dem Buddha so oftmals Ko-t'ou gegeben,
daß er sich jene Protuberanz an der Stirne „ herausgeschlagen u habe
(k'o-tou-k'ao-tschhi-le). Darin sei ein kostbarer Edelstein (sche-li-
ts'ü) enthalten, der Licht verbreite in der Finsternis, und dem
weder Feuer noch Hammer etwas anhaben könnten. Solch ein
Edelstein sei die höchste Auszeichnung, welche Buddha verleihe,
und ihn zu bekommen die sehnlichste Hoffnung aller, die Buddha
Ko-t'ou gäben. — Jenem wunderlichen Menschenkinde da ist aus
dem Kopfe noch ein zweiter Kopf hervorgewachsen. Das nenne
man Jang schenn tsch'u schenn, das Herausgehen aus sich selber,
das sich Herausbilden zum Übermenschen (ä la Nietzke?), eine
furchtbar schwere Arbeit. — Ein Lachkopf dort macht Anstalten
sich eine Art Kapuze vom Kopfe zu streifen. Das sei t'uo-lao-
tsch'uen-schao, das Alte ablegen und das Junge wieder anziehen.
Durch fleißige Verehrung des Buddha erwache wieder Jugendfri-
sche und Kraft in Geist und Körper. — Und diesem Wundorkinde
hier wächst gar ein Goldkopf aus der Brust: das Bildnis des
Buddha. Das sei eine Belohnung für den festen Glauben an Buddha;
der Glaube sei Sache des Herzens und an Stelle des Herzens habe
diesem da Buddha sein Bild gesetzt. — Eine gute Seele dort hat
einen nackten Knirps auf dem Schöße sitzen. Sie habe denselben
von der Straße aufgehoben und ihn an Kindesstatt angenommen;
zur Belohnung für das gute Werk habe sie Buddha unter die Zahl
seiner Schüler gereiht.
15»
— 228 —
Weiter den Berg hinauf finden wir noch einige Tcmpelanlagon
in denen — Eunuchen verehrt werden. Wer sie zu Göttern ge-
macht hat, darüber wissen die Bonzen nichts zu berichten; sie
wissen nur, daß das Kloster der Freigebigkeit der Eunuchen viel
zu verdanken hat und sich nun dadurch dankbar bezeigt, daß es
eine Reihe vergötterter Eunuchen verehrt und ihnen zu Zeiten
Weihrauch brennt.
Noch weiter den Berg hinan steht eine Pagode der Lao-nä-nä
für die „Großmutter". Man hat die Alte ziemlich auf die Seite
geschoben; um aber doch dem Bedürfnisse frommer Frauen, die hier-
her kommen und sich Kinder erflehen, einigermaßen gerecht zu
werden, durfte sie nicht ganz fehlen.
Einen besonderen Gönner hat das Kloster am Prinzen Kung,
der die ganzen Anlagen im sechszehnten Jahre des Kaisers Kuang-sü
reparieren ließ. Es dauerte drei Jahre, ehe Alles wieder gehörig
in Ordnung war. Der Prinz hat dort ein eigenes Palais, das aller-
dings einfach gebaut ist, worin es sich aber sicherlich angenehm
wohnen läßt. Wenn der hohe Gast von Zeit zu Zeit das Kloster
mit seinem Besuche beehrt, geben sich natürlich die Mönche alle
mögliche Mühe, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen, denn
je lieber ihm die Stätte wird, um so besser für die Insassen.
Die Umgegend von Tjä-t'ä-ssü ladet zu Spaziergängen in
dicht bewaldete Abhänge, in grün beraste Berghalden ein. Einige
Li weit entfernt senkt sich eine Höhle tief ins Gebirge, worin es
im Sommer sehr kühl ist. Den Eingang bewacht ein Klausner,
zugleich mit der Pagode, welche der Öffnung zur Höhle vorgebaut
ist. Wollen wir hineinsteige i, zündet der Klausner zwei Stroh-
fackeln an und geht uns voran, den Weg zu beleuchten. Das
ist aber auch notwendig, denn ohne Licht würde man bald auf
der Nase liegen oder anderswo. Der Abstieg ist schüssig und glatt;
selbst der Klausner nimmt den Besuch sehr ernst, denn je weiter
wir vordringen, um so häufiger murmelt er sein Ngao-mit'uo-fuo,
„um den Schutz der Pusa für den gefährlichen Gang zu erflehen".
Inmitten der Höhle steht eine steinerne Platte, auf welcher drei
Bilder der Pusa eingemeißelt sind. Der Führer wirft sich dreimal
vor derselben nieder, macht seine Komplimente und leuchtet uns
dann weiter voran. Je näher wir dem Ende zutappen, um so mehi
müssen wir unser Rückgrat beugen, damit nicht der Kopf mit über-
hängendem Gestein in Konflikt gerate. Zuletzt reicht auch das
Bücken nicht mehr aus: auf allen Vieren geht es unter einer den
Weg versperrenden Felsenkantc her, und wir stehen dann in einer
— 229 —
Rotunde : ein schauerliches Verließ, mitten im Herzen des Berges.
Nach oben geht die Höhle schachtartig in die Höhe, wir können
jedoch das Ende nicht sehen. Auch der Klausner weiß nicht, wie
hoch hier die Höhle empor reicht: das sei nicht zu ermessen, sagt
er. Eigentlicher Tropfstein ist nicht zu finden, die Chinesen werden
ihn bei Zeiten abgeschlagen haben. Am Boden aber liegen hier
und da wunderliche Steingebilde: dieses da stellt einen versteiner-
ten Drachen vor; jenes da einen hockenden Löwen; wieder ein
anderes den lauernden Bären. Die chinesische Phantasie ist reich
im Erfinden und sie findet auch immer den rechten Namen.. Auf
dem Rückwege wurden die Schritte gezählt, und es ergab sich, daß
die Höhle gegen 300 Meter tief ins Gebirge geht.
Noch weiter aufwärts von der Höhle führt uns ein Pfad in
eine zweite kleinere Höhle, fast am Gipfel des Berges wo sich
ebenfalls ein Buddha-Tempelche n befindet. Auch hier wohnt oben
in frischer Luft und weltentlegener Einsamkeit ein Klausner. Wer
den etwas beschwerlichen Aufstieg nicht scheut, wird durch den
wunderbar herrlichen Anblick, der sich ihm von hier aus bietet,
reichlich entschädigt. Ist die Luft rein, so übersieht man das mächtig
große Peking in seinen ganzen Umrissen und die Berge in weitem
Umkreise.
Kommen wir nach unsern Spaziergängen ins Kloster zurück,
so empfängt uns stiller Frieden. In trautem Kreise wird unter dem
Doppeldache des gestirnten Himmels und grüner Bäume, umsäuselt
vom milden Abendwinde, das Essen genommen. Man sitzt noch
lange, lange zusammen, denn es ist da draußen zu nett. Und wenn
sich endlich der Schlaf einstellt, dann ist er ein gern gesehener Gast;
man wirft sich in seine Arme, um am Mch'gen frisch und neugestärkt
zu erwachen. —
Alles in Allem: „Hier ist gut sein", können unsere braven
Musketire auf dem Berg von Tjä-t'ä-ssü bekennen. Hoch oben in
den Lüften kreisen Adler und Habichte, in den Felsspalten girren
wilde Tauben ; auf bunten Blumen wiegen sich seltene Schmetterlinge :
da gibt es Beschäftigung für den Waidmann, Erholung für den
Blumen- und Schmetterlingsfreund. Goldene Aprikosen mit roten
Wangen lachen von zahlreichen Bäumen. Aber so verführerisch
sie auch lachen, die Ausflügler gehen kalt an ihnen vorüber, ein-
gedenk des strammen Verbotes, kein Obst zu essen. Nuß- und
andere Obstbäume beugen ihre Zweige unter schwerer Last; ein
Brunnen mit krystallhellem Wasser bietet dem Durstigen erfrischenden
Trunk: tsvhen-sche ho sio tj-t'ang: das ist ja wahrlich ein kleines
— 230 —
Eden. Hoffentlich werden aber unsere Sommerfrischler da oben
nicht dermaßen berückt, daß sie beim Weggehen Versuchungen
bekommen, in Tjä-tfä-ssü als Klosterbrüder einzutreten. Dann würde
ihnen der Aufenthalt doch bald langweilig werden : „Dii gentium
daeinonia" (Ps.). AJ' e Götter der Heiden sind Dämonen.
— oO-OO-c-
Beförderungsmittel in Peking.
iuch ohne Automobil und Elektrische gibt es in Peking
mancherlei Gelegenheit vom Fleck zu kommen, und den
verschiedenen Wünschen des Publicums ist reichlich Rech-
nung getragen. Wer viel Zeit hat aber wenig Geld, der
setzt sich auf einen breiten Fracht wagen und bleibt so lange darauf
hocken, bis der Fuhrmann die Zahl der Fahrgäste als genügend
anerkennt und damit losfährt. Diese Karren bewegen sich etwas
langsam, aber sie bieten dabei den von einem Chinesen nicht hoch
genug anzuschlagenden Vorteil, unterwegs Gesellschaft zu haben,
und sich die Zeit mit Plaudern vertreiben zu können. Auch ist es
luftig auf dem Karren, der mit einer großen Matte überdeckt ist;
alle Neuigkeiten auf der Straße können beobachtet werden und
deshalb fehlt es auch niemals bei der Unterhaltung an Stoff.
Wer aber sofort befördert sein will und keine Zeit zu verlieren
hat oder das Alleinsein vorzieht, der setzt sich in einen Wagen der
besseren Qualität, der tjao-tsch'ä heißt, was so viel als Sänfte- Wagen
bedeutet. Der Chinese sitzt denn auch überaus sanft darin ; er hat
im Kückgrade so viele Springfedern, daß sie bei allen Bewegungen
des Wagens die entgegengesetzte Richtung nehmen und der Chine-
senkopf vor dem Anschlagen an die Karrenumhausung bewahrt
bleibt. Der des Ausländers freilich, der meistens auf einem steiferen
Rücken sitzt, kommt oft genug mit dem Wagen in unfreundliche
Berührung. Wenn's sein muß, finden auf dem Sänftewagen auch
zwei Mann Platz und falls es sich um Kinder handelt, gehen sogar
drei hinein. Wird eine Schöne darin gefahren, so hat fast regel-
mäßig eine Alte den Vorsitz, um mit ihrem Rücken die Insassin zu
verdecken und die Blicke der Vorübergehenden auf sich zu lenken.
Wer seinen Weg durch enge Gassen zu nehmen hat, abseits
der großen Straße, findet Beförderung auf des Esels Rücken. Und
während der Graue unverdrossen fürbaß trabt, läuft der Treiber
hinterher. Beide passen in der Regel zusammen : beide sehen schäbig
— 231 —
aus, sind voll der Tücke und haben eine schöne Stimme. Als
letztes Beförderungsmittel, das aber neueren Datums ist, sind vor
allem die Rickschas nicht zu vergessen. Wer sich das erste Mal
da auf einem menschenbespannten Gefährte sieht, dem dauert der
arme Kerl in der Deichsel und sein Dienst will ihm fast sklavisch
dünken. Wenn er aber später Augenzeuge ist, wie sich zwei
Rickschazieher um den Besitz eines Insassen fast die Köpfe blutig
schlagen, kommt er zur Erkenntnis, daß es auf der ganzen Welt
keinen Esel gibt, der so gerne am Karren geht, wie der chinesische
Kuli in seinem Wägelchen, und er steigt womöglich hinauf, nur um
dem armen Teufel Gelegenheit zu geben, sich einige Cents zu
verdienen. Ja, und Mancher muß fast, will er nicht grob werden,
nolens volens aufsteigen, wenn ihm der Wagen unter die Füße
geschoben wird. „Likscha ju meju" radebrecht dabei der Chinese
aus lauter Zuvorkommenheit, um dem Ausländer nicht nur sein
Wägelchen sitz- sondern auch das Chinesisch mundgerecht zu machen.
(Anmerkung. Er müßte Rickscha jao pu jao sagen d. h. Wünschen
Sie eine Rickscha? „Aber das ist eben chinesisch, das nicht jeder
versteht. Rickscha ju meju hingegen versteht jeder ; es heißt aber:
Haben Sie ein Rickscha ? u )
In Peking kann man auch die Beobachtung machen, daß die
Chinesen mit ihren Rickschas voran kommen wenn die Wege noch
so schlecht sind. Allerdings sind zwei Mann erforderlich, ein Zieher
und ein Schieber, doch an Leuten ist in China ja immer Überfluß.
Der Schieber schiebt nicht nur, sondern er hat auch die Sprünge
des Rickscha zu neutralisiren und womöglich ein Rad durch die
Luft zu führen, falls der Untergrund zu tief ist.
Sich in Sänften tragen zu lassen ist mit Ausnahme von Hoch-
zeitsfeierlichkeiten nichts für gewöhnliche Sterbliche; dazu gehört
Diplomatenwürde oder kaiserliches Geblüt oder eine höhere Anstel-
lung in kaiserlichen Diensten. Deshalb bieten sich auch nirgends
Sänftenträger an ; wer aber selber keine besitzt und dennoch Recht
und Lust hat sich darin tragen zu lassen, kann sich eine in Ge-
schäften mieten.
Seit den Wirren sollen sich die Karren- und Rickschabesitzer
in Peking fast um die Hälfte vermehrt haben. Während der Boxer-
periode wurden fast alle Karren beschlagnahmt, viele dienten als
Barrikaden oder wurden verbrannt. Die jetzigen Karrenbesitzer
sollen vielfach alte Boxer sein. Während beim Einrücken der frem-
den Truppen die ehrenwerten Bürger meistens Reißaus nahmen,
warfen die Boxer ihre Fahnen und roten Lappen ins Feuer, zogen
— 232 —
wieder die Kleider unbescholtener Kulis an, setzten ein lammfrom-
mes Gesicht auf und suchten dann nebenbei ihr schäfchen ins
Trockene zu bringen. Das soll Manchem meisterhaft gelungen sein,
und von seinen Eroberungen soll er sich dann einen Karren ange-
schafft haben und ein Tier dazu, um als ehrenhafter Fuhrmann
fortan ein solides Leben zu führen, resp. bessere Zeiten abzuwarten,
um womöglich als Boxer von Neuem sein Glück gegen die fremden
Teufel zu versuchen : jedenfalls täte er das lieber als sie jetzt im
Karren führen oder ziehen.
«»» »* » » »
Die Eunuchen am Kaiserhofe.
pe Eunuchen sind in ganz China unter dem Namen ^ ^f
J lao kung bekannt, was wörtlich „altes Haus" bedeutet.
, - mM Sie selber wollen aber nicht so tituliert sein, sondern haben
pftl\S% ° 8 Heber, wenn man sie -fc JJi t'e tjen „großer Aufseher"
nennt. Und das Zeichen für kuny (^: Haus) haben sie in ein
anderes hing (550 verwandelt, das „Herzog" bedeutet. Allerdings
hört sich „alter Herzog" weit ehrenvoller an als „altes Haus", zu-
mal das kung f£ Haus die Genesis der Eunuchen in Erinnerung
bringt, die keineswegs eine rühmliche ist
Es war zur Zeit der Tchou-Dynastie (1122 — 255), als in China
die Eunuchen zuerst auf der Bildfläche erschienen. Ihre Genossen
waren Leute, die entweder keine Nase hatten, oder denen die Füße
fehlten oder die mit einem Brandmal auf der Stirn gezeichnet ein-
hergingen. Die ganze Gesellschaft bestand nur aus Sträflingen und
auch sie selber waren zur Strafe verschnitten worden. 1 ) Wer zuerst
auf den Gedanken gekommen, derartiges Gesindel in den Dienst
des Kaisers zu nehmen, sagt die Geschichte nicht. Jedenfalls bildet
die Tatsache ein furchtbares Armutszeugnis und spricht von Mangel
an Zucht und Ordnung im eigenen Hause.
Aber die „alten Häuser" haben sich zu halten, ja unentbehr-
lich zu machen gewußt. Sie verstanden es sogar, ihre Stellung bald
mehr bald weniger zu einer machthabenden zu gestalten und ihren
Intriguen sind viele Unschuldige zum Opfer gefallen. Überhaupt
') Der Strafkodex damaliger Zeit zählt fünf verschiedene Strafen auf: §
nie: ein schwarze» Zeichen auf die Stirue brennen; f||J /': die Nase verstümmeln;
^f$ f e, ' : d' e Fuße abschneiden; § 1-tnuj: Kastration und endlich ^ fä da pi:
die Todesstrafe.
- 233 —
scheint es, als seien bei den Kastraten die Untugenden der Frau
auf den Mann gepfropft und deshalb auch kräftiger entwickelt.
Bisweilen standen sie derart auf der Höhe, daß sie auch in Re-
gierungsangelegenheiten ein Wort mitsprechen durften, und daß
sie die vertrautesten Ratgeber der kaiserlichen Majestät waren. Des-
halb scheiterten auch bisheran alle Versuche die Eunuchen vom Kai-
Herhof zu entfernen. Wenngleich ihre Stellung heutzutage wohl weni-
ger einflußreich ist, als in früheren Zeiten, so bilden sie dennoch eine
recht gefürchtete Macht. Es läßt sich das übrigens auch gar nicht
anders erwarten; immer in nächster Nähe der höchsten Gewalten
sind sie sicherlich nicht nur stumme Diener, und ein rechtes Wort
zur rechten Zeit kann dann weitgehende Wirkungen ausüben.
Es ist deshalb auch jetzt noch gebräuchlich, in wichtigen
Prozessen, wenn niemand mehr helfen kann, die Eunuchen um ihre
Intervention anzugehen. Wenn sie dieselbe versprechen, lassen sie
sich natürlich auch gründlich bezahlen. Das sind dann Neben-Ein-
nahmen, die häufig genug weit größer sind als die Einnahmen von
rechtswegen. Viele können sich recht artige Summen auf die Seite
legen, die dann nach ihrem Tode meistens den Verwandten zu gute
kommen. Aber auch für wohltätige Zwecke haben manche eine
milde Hand und es wird ihnen sogar recht viel Almosengeben
nachgerühmt. Einige haben es im Gutestun und in der „Heiligkeit"
so weit gebracht, daß sie unter die Zahl der Götter versetzt wurden,
und in manchen Pagoden kann man vor ihrem Bilde Weihrauch
brennen sehen.
Die meisten Eunuchen rekrutieren sich aus der Provinz Tschili.
Es gilt als Behauptung der Geomanten, daß der Fung-schui (JR pfC)
«lieser Provinz 3000 Verschnittene hervorzubringen berufen sei. Es
dürften sich aber gegenwärtig überhaupt kaum 2000 im Dienste
befinden. Eltern, die mehrere männliche Sprossen haben, verschen-
ken gerne den einen oder andern Knaben an den Kaiserhof. Not-
wendig ist nur, daß der Junge ein gelehriges Aussehen hat und
gut gewachsen ist. Der „ Onkel in der Fremde u kann dann später
die Familie kräftig unterstützen und von seinem Ansehen können
die Verwandten auch nur profitieren. Der Kleine muß zuerst einige
Monate in die Schule; dort wird er auf seinen Verstand geprüft,
denn um Bedienter am kaiserlichen Hof zu werden, muß der Be-
ireffende auch die nötige Grütze im Kopfe haben, damit er seinem
Herrn dessen wortlose Wünsche an den Augen ablesen kann. Zeigt
sich, daß der Junge Talent besitzt, so schickt ihn sein Lehrer eines
guten Tages in das $f Jffl pj f*f f^ sehen ying sä ya wen, wo seiner
— 234 —
Mannheit der Garaus gemacht wird. Der ausführende Beamte heißt
Ji 5E E iao M zian: Handwerker vom Messer. Jetzt kann der
Eunuchen-Novize in die Reihen seiner älteren Genossen eintreten.
Aber gewöhnlich muß er noch jahrelang lernen, ehe er eine defi-
nitive Anstellung eihält.
Der ganze Betrieb ist genau geregelt, und ein eigenes Beam-
tentum sorgt dafür, daß Alles klappt, besonders auch dafür, daß
die Eunuchen unter sich stets in Frieden und Eintracht leben. Sind
Streitigkeiten ausgebrochen, so hat das Amt zu entscheiden, auf
wessen Seite das Recht ist. Hat sich jemand etwas zu schulden
kommen lassen, so wird er bestraft und es stehen dafür Bambus
und Kerker zur Verfügung, grade wie bei einem gewöhnlichen
Reichsburger. Sollte ein Eunuch davon laufen, so wird er meistens
wieder eingefangen und seine Bestrafung wird um so empfindlicher
geahndet, je öfter er dem Drange nach der goldneu Freiheit nach-
gegeben und Reißaus genommen hat.
Aber nicht nur Kinder werden aufgenommen, sondern auch
bejahrte Männer erhalten oft noch Eintritt in die Verbotene Stadt,
wo sie dann als Eunuchen-Kuli beschäftigt werden. Mancher Bettler,
der sein Leben nicht mehr zu fristen weiß, nimmt zu diesem letzten
Existenz-Mittel seine Zuflucht. Er sucht die ffc^f*} tung chua wen auf,
das östliche Tor zur Verbotenen Stadt, kastriert sich selber (oder bringt
sich wenigstens eine Wunde bei) und erhebt ein Jammergeschrei, wor-
auf dem Torwächter Xachricht gegeben wird. Dieser meldet den Fall
dem Eunuchen-Tribunal ; der Arme wird hineingeholt und verpflegt,
und wenn er wieder hergestellt ist, darf er Wasser tragen oder son-
stige Arbeiten verrichten, zu denen nur die rohe Kraft erforderlich ist.
Es gibt noch eine andere Klasse Menschen, die den Eunuchen-
stand wählen: solche, die sich an einem Feinde rächen wollen. Es
sind das Individuen, die bereits alles vergeblich versucht haben
ihren Gegner zu vernichten. In den Mauern der Verbotenen Stadt
hoffen sie einen Freund zu finden, der bei der höchsten Instanz
noch ein gutes Wort einlegen kann, und das wird genügen, das
schreiendste Unrecht zur Gerechtigkeitssache zu stempeln.
Aufgabe der Eunuchen am kaiserlichen Hofe ist es „Mädchen
für Alles" zu sein. Wer besondere Neigung hat, die Götter zu ver-
ehren, und sich zu etwas Höherem berufen glaubt, versieht den Lama-
dienst. Wer leichter angelegt ist, findet als Theaterspieler amüsante
Beschäftigung, und falls er seine Rolle gut spielt, wird er doppelt be-
zahlt. An freier Zeit fehlt es nie ; doch die wird treulich ausgenützt mit
Opiumrauchen, Kartenspielen oder Abrichten eines niedlichen Köters.
— 235 —
Mit der Außenwelt sollen die Eunuchen eigentlich wenig
Umgang pflegen ; da sie aber die Einkäufe besorgen für den kaiser-
lichen Haushalt u. dgl., so kommen sie oft genug damit in Berühr-
ung. Man munkelt sogar von Fällen, so sich ein Prinz durch
Vermittlung seiner Eunuchen eine Geliebte von außen hereinzu-
schmuggeln wußte, ohne daß jemand eine Ahnung davon gehabt
hätte. Jeder der längere Zeit in China geweilt hat, wird schon die
„Geschenketrommel" gesehen haben. Die aufeinandergeschachtelten
fünf Abteilungen haben je einen eigenen Boden; wenn aber die
Böden herausgeschlagen sind, so ist die Trommel groß genug, daß
so ein Menschenkind sich darin verstecken kann. Wenn dann die
Träger ehrsam mit rotem Hute bedeckt daherschreiten, so wird
jeder glauben, man wolle Geschenke bringen oder gemachte
Einkäufe, und die Träger kommen dann unbelästigt überall
durch. —
Vierzig Li von Peking entfernt liegt in den Bergen das Sans-
souci der Eunuchen. Ist einer alt und dienstunfähig geworden, so
wird er dortin geschickt um seine Tage in Ruhe zu beschließen.
Befällt aber einen eine plötzliche Krankheit, die gefährlich erscheint,
so muß er allsogleich aus der Verbotenen Stadt entfernt werden,
denn es würde Unheil bringen, wenn dort ein gewöhnlicher Sterb-
licher verschiede. Die Schar der Ausrangierten führt ein rechtes
Einsiedlerleben, läßt sich's aber wohl sein. Manche, die von ihren
Verwandten nicht beständig angepumpt wurden, haben sich ein
kleines Vermögen erspart und können es jetzt in Ruhe verzehren.
Mancher hat Pagoden auf eigene Kosten erbaut. Mancher, der
während seines Lebens Schuld genug auf sein Haupt geladen, will
sie vor dem Tode noch sühnen und verbrennt deshalb fleißig
Weihrauch und dreht die Gebetmühle.
In der Nähe dieser Pflegestätte für alte und kranke Eunu-
chen befindet sich auch ihr Begräbnisplatz. Einmal Eunuch ge-
worden, werden sie als aus der Familie geschieden betrachtet und
nach ihrem Tode ist Niemand, der sie beweint oder Ahnenopfer
für sie bringt.
— 23C —
Pekinger Mohren
und Wohltätigkeitseinrichtungen.
lim Staube seines Angesichtes muß der Sterbliche in Peking
I! sein Brod verdienen und davon ist auch der „große Mann*
| nicht ausgeschlossen, selbst wenn er sich fahren läßt oder in
5 der Sänfte sitzend, dem erhitzten Gesichte Kühlung zufächelt.
Wenn sich dann noch gar die Schweißporen öffnen und über das
verstaubte Gesicht die Bächlein rieseln, ist der Mohr vollends fertig.
Solche Mohren aber gibt es in Peking die Menge; da sind vor
Allen die Köhler zu nennen, welche Tag für Tag damit beschäftigt
sind, die steinharten Kohlen aus den Pekinger Bergwerken klein
zu klopfen, mit Lehm zu untermischen und daraus eidicke Kugeln
zu formen. Dieselben werden an der Sonne getrocknet und kom-
men dann in den Handel. Die unvermischte Kohle brennt nur
sehr schlecht oder es brennt nur die äußere Umhüllung, während
das Innere vom Feuer unberührt bleibt. Aufgabe der Kamele ist es
das schwarze Erdprodukt in Säcken aus den Bergen zu holen.
Treiber und Tiere sehen gemeiniglich aus als entstammen sie dem
Innern Afrikas.
Ein mohrenartiges Aussehen haben auch die Straßenverbes-
serer und Karrenschieber, welche beständig mit dem Staube in Berüh-
rung kommen, sich aber höchst selten den Luxus einer Waschung
gestatten. Wohl ist für gewöhnlich in Peking kein Wassermangel,
ja es gibt sogar öffentliche Badeanstalten, wo man für wenige Sa-
peken ein warmes Bad nehmen kann, aber mancher wäscht sich
nicht, „weil es doch umsonst ist*. Der nächste Augenblick führt
ihm wieder eine Menge Staub zu, welcher sich auf der schweiß-
fettigen Haut sofort ablagert. Daß man für so wenig Geld ein
Warmbad nehmen kann, hat darin seinen Grund, weil das Wasser
nicht nach jedesmaligem Gebrauche gewechselt wird, sondern erst
dann, wenn einer, „der sich's leisten kann*, ein Frischbad nehmen
will. Ein solcher bekommt reines Wasser, das er natürlich dement-
sprechend teurer bezahlen muß. Für das ganz gewöhnliche Volk
sind Badeanstalten eingerichtet, die jedesmal ein halb Dutzend Gäste
fassen können oder noch mehr; in diesen wird das Wasser meistens
nur ein oder zweimal im Tage gewechselt.
Sich in einem warmen Bade bisweilen waschen können, be-
deutet in Peking schon ein wahres Bedürfnis. Es gibt fromme Per-
sonen, die für kurze oder längere Zeit, gemäß dem Grade ihrer
_ 237 —
„ Gottseligkeit u Gelegenheit bieten, unentgeltlich die Wohltat einer
gründlichen Ganzwaschung mit warmem Wasser zu gonießem. Im
Sommer wird stellenweise dem durstigen Wanderer umsonst Tee
gereicht. An dunklen Winterabenden zündet man auf den Haupt-
straßen ein Licht an : alles das geschieht in der Absicht um Gutes
zu tun, um sich den Namen eines ching-schen-ti, eines „ Heiligen u
zu verdienen.
Es fehlt übrigens auch nicht an Wohltätigkeitseinrichtungen
in größerem Stile. Dazu gehört vor allem eine Art Garküchen,
welche zeitweilig eingerichtet werden und wo jeder Bettler am Mit-
tage eine Portion gekochten Reis bekommt. Haufenweise drängen
sich die zerlumpten, halbnackten und verhungerten Gestalten an die
Maueröffnung wo der Reis verabreicht wird. Der eine hält eine
alte Scherbe in der Hand, und bekommt seinen Teil hineingeschüttet.
Ein anderer nimmt seinen Hut und benutzt ihn als Eßgeschirr ; ein
dritter zieht gar seinen Schuh aus, und auch darin wird das Essen
verabreicht. Es ist ein Bild des krassensten Elendes, das uns vor
die Augen tritt; da sieht man so recht wie Hunger und Not den
Menschen herabwürdigen und erniedrigen kann, daß er sich benimmt
wie das unvernünftige Vieh.
Für altersschwache obdachlose Greise und für elternlose Kin-
der gibt es auch Wohlfahrtseinrichtungen, die von rechtswegen
aus der kaiserlichen Kasse Zuschuß erhalten. Das meiste Geld
bleibt natürlich in den Händen der habsüchtigen und gewissenlosen
Beamten hängen. Sehen wir uns derlei Einrichtungen etwas genauer
an, kann uns das Ganze wenig befriedigen. Es ist als ob über Alles
der Hauch der Unordnung ausgebreitet sei, und auch in den Werken
der Liebe und Barmherzigkeit fühlen wir noch die eisige Kälte
des Heidentums. Der Beamte gibt, weil er eben geben muß ; er gibt
um selber Geld zu bekommen ; der Arme empfängt ohne Dank und
betrachtet die Gabe als sein Eigentum. Zudem weiß er, daß sie
ihm noch verschmälert wird, und wenn auch seine Miene Zufrieden-
heit heuchelt, ist das Herz doch mit Haß erfüllt.
Als eine Wohlfahrtseinrichtung besonderer Art ist die Pekinger
Feuerwehr zu nennen. Die Chinesen sind, was die Behandlung mit
Feuer angeht, oft wahre Kinder, nur mit dem Unterschiede, daß
ihnen das Glück gewogener ist und sie meistens ohne Gefahr mit
dem Feuer spielen können. Wie ist es nur möglich, habe ich mich
bisweilen gefragt, wenn ich die Leute mit Petroleumlampen hantie-
ren sah, daß nicht mehr Unglücke vorkommen: Tjin-schin-men-hu ;
sio sin töng huo: „Nimm Acht auf Fenster und Feuer" schreibt
— 238 —
der Chinese» zu Neujahr allerdings über seinen Kochherd oder an
die Papierlaterne, aber die theoretische Lehre nimmt er wenig
praktisch zu Herzen. Wenn's aber einmal brennt, muß gesehen
werden, wie das Feuer gelöscht wird. Nachbaren und Dorfschul-
zen laufen wohl in hellen Scharen zur Feuerstätte; auch wird viel
geschrien und gestikuliert, aber anfassen und löschen ist eine
andere Sache.
In größeren Städten nun, z. B. in Peking, haben sich beson-
dere Innungen gebildet, eine Art Feuerwehr: schui-huo-hui genannt:
Wasser- Feuer-Gesellschaft u . Was ihre Betriebsfähigkeit angeht,
hatte ich einmal Gelegenheit, selbige in nächster Nähe zu beobach-
ten. Ich teile mit, was ich darüber in meinem Notizbuche unter
dem 3. Juni verzeichnet finde.
Die Chinesen in Peking scheinen für Abwechslung sorgen zu
wollen, indem sie in die Alltäglichkeit des Lebens etwas Feuer
legen. Während gestern bei den Deutschen in der Büchsen macherei
auf unerklärliche Weise Feuer ausbrach und schnell um sich griff,
loderten heute im Viertel der österreichischen Gesandtschaft mäch-
tige Flammengarben zum Himmel. Woher das Feuer gekommen,
ist jedermann ein Rätsel, da es jedesmal an einer Stelle ausbrach,
wo es fast ausgeschlossen scheint, daß dasselbe durch Unvorsichtig-
keit entstanden sein konnte. Die Zeit des Großfeuer ist just günstig.
Das Wasser wird mit jedem Tage rarer und alles knarrt vor
lauter Dürre.
Gerade zu drollig und lächerlich ist es, wie die chinesische
Feuerwehr eingreift. Zunächst dauert es einige Stunden bis alle
Fahnen und Fähnchen, alles Klapper- und Klingelzeug und der ganze
Klimbim zusammengebracht ist, der natürlich die Hauptsache beim
Löschen bildet. Wenn dann endlich der „große Mann" erscheint
mit rotem Knopf, muß er eskortiert werden von einer Schar minder
großer Männer mit weißen, blauen und goldenen Knöpfen und zur
Wehr schreiten einige Dutzend Soldaten mit gezückten Schwertern
einher. Dann kommt die ganze Reihe Fahnenträger; man sollte
schier glauben, es sei eine Prozession im Anzüge. Endlich zu guter-
letzt erscheinen die Eimer und Spritzen und die Wasserträger. Die
Folge dieser Feierlichkeiten ist, daß die verehrten Feuermänner
immer zu spät kommen; entweder ist nichts mehr zu löschen oder
das Feuer hat dermaßen um sich gegriffen, daß es trotz aller Ei-
mer und Fahnen und Amtsmienen der großen Männer doch nicht
mehr zu löschen ist. Freilich wird geschrien und gelärmt, was das
Zeug nur hält, zugreifen mag natürlich Niemand.
— 239 —
Die Chinesen verstehen es meisterhaft den roten Hahn aufs
Dach zu setzen, ohne daß auch nur jemand eine Ahnung davon hat.
Mit Hülfe ihrer Glühstengel, die sie gewöhnlich mit Pulver in Ver-
bindung bringen, können sie es so einrichten, daß der Brand erst
stundenlang nachher zum Ausbruch kommt, gerade dann, wenn
ihnen der geeignete Moment dafür zu sein scheint, und der Brand-
stifter weiß Gott wohin sich verkrochen hat, oder vielleicht als harm-
loser Kuli seine Arbeit tut. Wenn dann die Feuersignale ertönen,
springt auch er mit heran und hilft löschen und sagt es sei „Tien-
chao u „vom Himmel gefallenes Feuer" zur Strafe für die Europäer.
Was die Entstehung der Feuerwehr-Innungen angeht, so wer-
den dieselben gewöhnlich von einer Anzahl reicher Kaufmannsfir-
men oder wohlhabenden Bürgern ins Leben gerufen. Zunächst
müssen die nötigen Löschapparate angeschafft werden, als da sind
Spritzen (nach Art unserer europäischen Brandspritzen aber viel
roher construiert), Eimer (aus Bambusgeflecht mit Ölpapier verdichtet),
Fahnen und dergleichen. Die Mannschaften recrutieren sich aus
arbeitslosen Kuli, deren Beschäftigung es nunmehr ist, sich auf die
faule Haut zu legen, und abzuwarten, wenn Alarm geschlagen wird.
Da heißt es, sich schnell auf die Beine machen und zu den Fahnen
greifen. Wasser und Spritzen kommen hinterher. Von Einüben
der Feuerwehr ist keine Rede; der Gunst des Augenblickes und
dem persönlichen Eingreifen wird das Gelingen der Arbeit überlassen.
Auch benutzt man keine Feuerleitern und setzt sein Leben nicht
durch waghalsiges Klettern aufs Spiel. Der Chinese baut einstöckig,
was für die Löscharbeit von besonderem Vorteil ist. Die Besol-
dung der Feuerwehr beträgt pro Tag ungefähr 15 — 20 Pf. auf den
Mann, deshalb muß sich mancher nach Nebenverdienst umsehen.
Eigentlich ist das aber verboten, weil jedermann sofort zur Stelle
sein muß, wenn die Feuertrompete ertönt. Eine Innung besteht
meistens aus 100 — 200 Mann unter Leitung eines Anführers, der
den Titel eines Klein-Mandarins trägt. Gelegentlich ziert ihn
auch eine Pfauenfeder oder ein sonstiges Abzeichen als Belohnung
für besonderen Eifer, den er bei seinen Löscharbeiten entwickelt
hat. Handelt es sich darum, die eigene Habe zu retten, wird na-
türlich kräftiger zugegriffen als wenn es sonst wo brennt oder gar
erst bei den Ausländern, da würde man wohl am liebsten mit Pe-
troleum löschen.
— 240 —
Etwas über chinesische Nasen und
den Pekinger Schnupftabak und Staub.
lekanntlich ist die Chinesennase von der Natur etwas stief-
mütterlich bedient worden und dennoch soll sie beim Men-
, r . sehen kinde von allen Sinnen zuerst ins dasein treten. Das
^% Zeichen für Nase heißt denn auch in übertragener Bedeu-
tung so viel als der Erste. Eine Nase vor den Großvater gestellt
heißt Urgroßvater.
Bei Erfindung der Wurzelschriftzeichen ist die Nase allerdings
ziemlich ans Ende gekommen und in Folge dessen recht compliziert
geworden. Und das Zeichen für Niesen hat gar 19 Striche und
heißt ti dieweil im Reiche der Mitte ahti geprustet wird. Es
geschieht das mit einer Vehemenz, die für den nervösen Neben-
menschen eine starke Erschütterung zur Folge hat. Ein Prosit
wird nicht gesagt, aber die Chinesen behaupten, daß in der Ferne
über ihn gesprochen wird, wenn er niesen muß.
Als künstlicher Nasenkitzel kommen mehrere Sorten Tabak
in den Handel, von denen eine als Medizin gebraucht wird. Gegen
Augen- und Zahnweh, gegen Halsbeschwerden, Asthma und Verstop-
fung soll sie besonders wohltätige Wirkung äußern. Dieselbe wird
in tiefgrünen kleinen Fläschchen verkauft und im Süden Chinas
hergestellt. Die Farbe ist hochrot; wer ein Löfielchen davon in
die Nase zieht, glaubt schier, er solle das „Innere der Seele" aus-
prusten ; das Niesen will gar kein Ende nehmen. In dem Fläschchen
ist ein kleines knöchernes Löffelchen beigegeben, welches im Korke
steckt und das zu nehmende Maß bestimmen soll. Eine europäische
Nase kann sich ruhig mit 1 / 4 Löffelchen begnügen; der Effekt
wird darum nicht minder stark sein, d. h. der Nieseffekt, denn auf
Heilung von Schmerzen habe ich wenigstens immer vergeblich gehofft.
In Peking wird ein Schnupftabak hergestellt von solider Na-
tur; derselbe bezweckt vor allem die Nase gegen anderweitige
„Wohlgerüche* zu schützen wie sie auf den Straßen der kaiser-
lichen Metropole bei Tag und Nacht emporsteigen. Das war von
jeher eine Eigentümlichkeit Pekings und so lange es besteht, war
die Nase immer die bedauernswerte. Als im Jahre 1643 die Dyna-
stie der Mandschu das Regiment an sich gezogen, konnten sich die
kaiserlichen Nasen nur schwerlich an den Chinesengeruch gewöhnen
und man sann auf ein Mittel, denselben ein wenig zu neutralisieren.
Das Mittel wurde in einer Prise Tabak gefunden und seit der
— 241 —
Zeit ist die Herstellung desselben ein besonderes Vorrecht Pekings
geblieben. Die Gewohnheit des Schnupfens allerdings ging allmäh-
lich auch in andere Provinzen des Reiches über, wenn auch in
beschränkten Maße. Nichts desto weniger sollen alljährlich für viele
Tausende Taels Schnupftabak nach dem Süden verkauft werden.
Was die Herstellung desselben betrifft, so werden mit Vorliebe
Blätter des Yenfu Tabaks aus der Provinz Schantung dafür benutzt,
dessen eigentümliches Aroma ganz besonders zusagt. Nachdem die
Blätter sorgfältig von den Stengeln gereinigt sind, kommen sie auf
eine Mühle und werden dort zu Staub zerrieben. Der Staub wird
durch verschiedene Siebe gesichtet, bis er die Feinheit von gebeu-
teltem Weizenmehl hat. Bei dieser Beschäftigung müssen sich die
Arbeiter beständig Nase und Mund verbinden, da die Luft mit
kleinen Tabaksteilchen geschwängert ist, welche fortwährend zum
Niesen reizen. Dem Tabakstaube werden dann die Wohlgeruchs-
essenzen zugesetzt. Worin dieselben bestehn, ist ein Geheimnis,
und deshalb ist auch von jeher die Herstellung des Schnupftabaks
ausschließliches Vorrecht der Kaiserstadt geblieben, gerade wie
echtes Teau de Cologne nur aus Köln kommt. Die Tabaksdosen
ähneln gar wenig unsern europäischen; sie haben das Aussehen
von Salbendöschen und sind aus Blech, Zinn oder Silber hergestellt.
Nur in Peking ist es Sitte seinen Bekannten eine Prise anzubie-
ten; anderswo im chinesischen Reiche reicht man Freund oder
Fremdling die Pfeife zum Gruße.
Noch freigebiger als die Bürger Pekings teilen die Straßen
der „Meisterstadt" beständig Prisen aus in Gestalt des weltbe-
kannten Pekinger Staubes; und der dringt nicht nur. in die Nase
ein, sondern überallhin, wo er eine Öffnung findet. An seiner
Zubereitung haben Jahrhunderte gearbeitet, seine Zusammensetzung
aber ist erst recht ein Geheimnis. Wollte ihn der Chemiker in die
einzelnen Bestandteile zerlegen, ich glaube schier die ganze Leiter
der verschiedenen Elemente würde dabei vertreten sein.
Was macht jener Staubbrödel dort abseits der Straße? Er
scheint in der Tat chemische Untersuchungen anzustellen. Unver-
drossen läßt er in einem wannenartigen Geflechte aus Weidenruten
den Staub von einer Seite zur andern gleiten, bis nur mehr schwere
Teilchen vorhanden sind. Arbeitete der Mann im Sande am Fluß,
würde man glauben, er sei auf der Goldsuche. Im Pekinger Staube
sucht er zwar kein Gold, aber er sucht anderes Material darin, Eisen
Kupfer und — Silber. Letzteres zu finden ist allerdings eine große
Seltenheit, aber Eisen findet er darin um so reichlicher; dasselbe
R. Fiep er, „Neue Bündel 44 . 16
— 242 —
rührt meisten» von den Karren her, welche durch da« beständige
Rütteln und Stolpern auf den holperigen Straßen hald hier bald
dort einen Xagel verlieren, der dann im Staube verschwindet, bis
ihn die findige Hand des Suchers wieder ans Tageslicht fordert.
Es sollen sich auf diese Weise mehrere Dutzend Arbeiter beschäftigen
und ernähren, indem sie bald auf dieser bald auf jener Straße den
Staub ausstöbern und das gefundene Metall dann bei einem Kramer
verkaufen. Raben, Hunde und Schweine sind auch auf bestandiger
Suche im Pekinger Staube und er kommt nicht eher zur Ruhe,
bis ihn ein Windeshauch mit sich führt, weit hinweg über die alte
Mauer wo er auf Acker und Gärten sich lagert, und dort seinen
öconomischen Wert der Saat und dem Gemüse zu Gute kommen läßt.
Theaterspiel.
o etwas wie Theaterbrände gibt es in China nicht und des-
halb darf uns der freundliche Leser auch ruhig ins Theater
begleiten ohne dabei sein Leben zu riskieren. Wohl haben
die Chinesen schon Theater gespielt als die alten Germa-
nen noch mit den Bären spielten. Aber wie so manches Andere,
ist auch das Theater von jeher in den Kinderschuhen stecken ge-
blieben und hat auch heute noch keine weitere Bedeutung, als daß
es ein Belustigungsmitte! für große Kinder bildet. Selbst die Theater
in den Großstädten sind nicht viel anderes als „Kasperle* im größe-
rem Stile.
In einer Kaiserstadt wie Peking nun darf es natürlich nicht
an Abwechslung fehlen. Freilich gibt es keine Volksbelustigungen,
wie sie in abendländischen Ländern geboten werden; aber sich
etwas amüsieren und lustig sein, will doch auch zeitweise der schmut-
zige Kuli und der Rickschazieher ; im Theater ist dazu Gelegenheit
geboten. Das Entree ist leicht bezahlt, denn es kostet nicht viel.
Will aber ein Ausländer der Aufführung beiwohnen, muß er einen
Dollar zahlen, wofür ihm dann ein „Logensitz* angeboten wird.
Eine wjckelige Treppe führt hinauf, und will man sich am Geländer
festhalten, fühlt man, daß es mitwackelt. Zum Glück ist die Empore
nicht allzuhoch und falls es ein Krach geben sollte, würde man
auf die Baumwollenrücken der im Parterre dicht gedrängten Menge
nicht allzu unsanft niederfallen. Wie es wogt, summt und brummt, und
welche Luft uns erst aus diesem Menschengewühle entgegenströmt!
24:* —
Fast jedermann raucht und wer einen Augenblick damit aufhört
tut es nur, um Tee zu trinken oder einen Imbiß zu nehmen. Aller-
hand wird da geboten: kuhwarme butterlinde Reisplättchen, knus-
perige Melonenkerne, goldene Apfelsienen, verzuckerte Wallnußkerne,
Auf der Theaterbühne.
und was sonst die Jahreszeit bringt. Wer seine eigene Pfeife
vergessen hat, braucht nur dem Kellner zu winken, der all-
sogleich herbeieilt und ihm ein langes Rohr in den Mund schiebt.
Bequemeres läßt sich gar nicht denken ; denn Stopfen und Anzünden
besorgt der dienstbeflissene Kellner. Ist die Pfeife ausgeraucht,
wird ein Käsch bezahlt und das Rohr wandert zum Munde eines
— 245 —
gesehen, wie es die Schauspieler in Peking konnten. Die Be-
wegungen sind geradezu affenhurtig und katzengeschmeidig. Von
einer Höhe springen, dreimal Kopfüberschlägen und dann wieder
auf den Füßen stehen, gilt durchaus nicht als Musterleistung. Beim
„ Vermöbeln u kommt es darauf an, wer am geschicktesten und längsten
seinem Gegenpart die Stange halten kann. Zum Glücke sind alle
Waffen, die dabei in Anwendung kommen aus Holz, das mit Gold-
oder Silberpapier verklebt ist.
Auf einer größeren Bühne sind im Durchschnitt mehr als
hundert Mann beschäftigt. Theatergebäude und Garderrobe gehören
meistens einem Privatunternehmer an, dem die Bande gut Zinsen
zahlen muß. In früheren Zeiten bestanden die Kostüme aus bunten
Seidenstoffe; heutzutage gebraucht man vielfach geblümtes Kattun
(jang-bu), das sich in der Ferne nicht minder hübsch ausnimmt,
aber bedeutend billiger im Werte ist. Den Zuwachs der Truppe
liefern junge Buben ; dieselben müssen ein frisches Aussehen haben,
in ihren Bewegungen behende sein und über ein gutes Gedächtnis
verfügen. Bei schlechter Saison werden die Lehrlinge morgens in
aller Frühe draußen vor die Stadt geführt, damit sie im Freien bei
frischer Luft ihre Stimmorgane üben; denn ein echter chinesischer
Schauspieler muß drei Tage lang in den höchsten Tönen kreischen
können, ohne daß er heißer wird. Kinder aus besseren Familien
werden niemals zu Theaterspielen hergegeben, denn so gerne der
Chinese dem Theater beiwohnt, so verhaßt sind doch die Spieler
selber. Es soll das darin seinen Grund haben, weil sie auch die
Bollen von Frauen geben, überhaupt der Lüge und Verstellung
dienen ; etwas zu sein vorgeben, was sie in Wirklichkeit nicht sind.
Eine solche Auslegung spricht ja sehr für das Aufrichtigkeitsgefühl
der Chinesen; es fehlt aber auch nicht an anderen Auslegungen.
Während drei Generationen ist es sogar einem Theaterspieler ver-
boten, an den literarischen Prüfungen teilzunehmen.
Fürs „Hoftheater" ist uns der Zutritt nicht gestattet. Der
Kaiser hat nämlich seine eigene Spielerbande, die sich aus Eunu-
chen zusammensetzt. Plagt den Herrscher oder seine Frauen Lange-
weile, muß die Truppe antreten; spielt sie gut, d. h. vertreibt sie
die Langeweile, bekommt sie eine Extia-Belohnung. Außer dem
Hoftheater dürfen in der Mandschustadt überhaupt keine Vorstel-
lungen stattfinden. Alle Theater befinden sich in der Chinesenstadt;
früher zählte man gegen 20, aber zur Zeit der Boxerunruhen gin-
gen viele zu Grunde. Jetzt gibt es im ganzen nach acht Bühnen,
die fast täglich geöffnet und auch in der Regel gut besetzt sind.
— 246 —
Umherziehende Theatertruppen sorgen für die Belustigung des
Volkes auf dem Lande. Will man dort spielen, tut man es in der
Regel unter freiem Himmel auf einer improvisierten Bühne aus
Bänken und Brettern oder auf einer Esterade, die eigens zum The-
aterspielen manchen Pagoden gegenüber erbaut ist. Denn das Spielen
gilt den Chinesen auch als ein religiöser Akt, an dem nicht nur
die Sterblichen ihr Vergnügen haben, sondern wodurch selbst die
Götter aufgeheitert werden. Deshalb wird nicht selten ein Gelübde
gemacht irgend einem Götzen mehrere Tage hindurch Vorstellungen
geben zu wollen, wenn er in einem besonderen Anliegen zu Hülfe
eile. Zumal ist das Theatergelöbnis ein beliebtes Mittel zu Erfle-
hung des Regens bei anhaltender Dürre. Der Götze bekommt den
Ehrensitz, von wo aus er dem Spiele „bequem zusehen kann."
Auch bei Gelegenheit von Jahrmärkten werden regelmäßig Theater-
vorstellungen gegeben. Das zieht viel Volk herbei und kann dem
Handel auch zum Vorteil sein.
In den Pagoden Pekings.
„In Peking gilt der Bonze.
Außerhalb Peking der Mandarin. k
(Sprichwort)
jjenn St. Paulus mit uns die Runde machte durch die
„Jöjj Kaiserstadt im Reiche der Mitte, könnte er beim Anblick
W^fjb SfSf ^ der vielen Pagoden, die uns an allen Ecken und Enden
C^5x>^3 ' n a ^ en möglichen Größen und Formen unter die Augen
treten, auch zu den Zopfträgern sprechen wie dereinstens zu den
Athenern: „Ihr Männer, ich sehe, daß ihr in allen Stücken sehr
die Götter fürchtet." Seine Götter fürchten tut nun der Chinese
wohl, zumal die Frauen; denn „weder Geistern noch Teufeln ist
zu trauen, und deshalb hält sie sich — so philosophiert der haus-
backene Confucius weiter — der Weise weit vom Leibe. u In einer
Christenstadt sind jedenfalls nicht mehr Kirchen und Kapellen zu
finden, als es in Peking Kultstätten gibt zu Ehren der Götter, deren
Zahl eine unendliche ist. Der Chinese operiert gerne in runden
Zahlen, (Decimalberechnungen kannte er schon seit unvordenklicher
Zeit); darum kommt es ihm oft beim Zählen auf einige Hundert
mehr oder weniger nicht an. Wir brauchen ihm daher nicht aufs
Wort zu glauben, wenn er behauptet, die kaiserliche Metropole
— 247 —
umschließe l / 2 Zehntausend (baen uen) Götzentempel. Zwar ist auf
jeder Straße der Andacht Rechnuug getragen, aber oft sind es
auch nur Mauernischen in denen ein schwarzberäucherter Götze
ein Heim gefunden. Sein Aussehen gleicht den Kameraden auf dem
Lande oder in andern Städten, und tagtäglich haben wir bei Reisen
Gelegenheit, uns von ihnen anglotzen zu lassen. Aber Peking be-
sitzt noch eine ganze Reihe Pagoden die ihr eigenes Gepräge haben ;
einige derselben zu besuchen, sei der Zweck unseres heutigen
Ausfluges.
Zunächst befinden sich im Vorhofe des großen Stadttores
(tsien rnen), welches die Chinesenstadt mit der Tatarenstadt verbin-
det, rechts und links zwei Pagödchen, klein von Aussehen aber
wichtig in ihrem Zwecke. Sie dienen nämlich dem kaiserlichen
Herrscher zur Verrichtung seiner Andacht, wenn er die Stadt ver-
läßt oder dorthin wieder zurückkehrt. Ein Tempelchen ist der sanften
Göttin Pussa geweiht, während in der andern der strenge Kriegs-
gott Kuen-jü Wohnung genommen. Man sieht dem Ganzen an,
daß die kaiserliche Huld hier freigebig waltet ; die paar Aufseher-
bonzen sind sauber gekleidet, haben ein feistes Aussehen und wohnen
in üppig ausstaffierten Zimmern. Überhaupt verdanken wohl die be-
deutensten Pagoden Pekings ihr Entstehen dem Kaiser oder der
Gunst seiner Frauen. So z. B. auch die große Lamapagode Yung-
huo-kung „Das Kloster der friedlichen Behausung", welches in der
nordöstlichen Ecke der Tatarenstadt liegt. Gelegentlich eines Rund-
ganges auf der Stadtmauer hatten wir schon einmal Gelegen-
heit von oben herab einen Überblick auf den Pagoden-Komplex
zu tun; begnügen wir uns deshalb mit einem kurzen Besuche
im Innern.
Wer im Süden der Tatarenstadt einen Rickscha nimmt und dem
Kuli nach Norden zeigt, merkt dieser sofort wohin es gehen soll.
Schan lama mio „zum Kloster der Lama" grinst er mit freund-
licher Miene und auf ein Kopfnicken unserseits macht er sich
im Galopp auf die Lappen. An der Klosterpforte angelangt, finden
wir sie offen ; geschlossen ist sie wohl nur während der Nacht, denn
tagsüber bewegt sich ein fast beständiger Verkehr mit der Außen-
welt. Kein Tag geht vorüber, an dem nicht einige Dutzend Gäste
kämen, nicht der Andacht halber, sondern der Neugierde wegen:
Yung-huo-kung ist ein berühmtes Kloster, hat wenigstens einen
berühmten Namen und nebst den Ausländern statten ihm auch viele
Chinesen ihren Besuch ab. Ein „ Klosterbruder u empfängt uns nicht,
aber wir werden von einem ganzen Rudel Ciceroni umdrängt, die
— 248 —
alle mit uns gehen wollen und ehe die Frage entschieden ist, wem
die Ehre der Begleitung zu teil wird, haben sich schon einige in
den Haaren d. h. an den Zöpfen. Jeder will etwas erobern ; dies-
mal erringt der Schwächere den Sieg; wir nehmen einen Jungen mit,
der wenig Lärm gemacht und sich bescheidener benommen hat als
seine Kameraden.
Zunächst fällt uns ein reichverzierter Triumphbogen (pei-louj
in die Augen, der den Weg zum Kloster überspannt. Fu ien tjin
scha ist darauf zu lesen: „Überströmende Glückseligkeit, gleich dem
goldenen Sande. u Eben denken wir über denn Sinn der Schrift
nach, als schon einige Bonzen herangeschlichen kommen, die uns mit
freundlichem Kopfnicken begrüßen. Sie wollen uns sofort weiter
führen, aber wir möchten zuerst gerne hören, von welcher Glück-
seligkeit die Rede ist, und wo der Goldsand zu finden sei. Doch
die armen Schlucker wissen nur zu sagen, daß die Inschrift eine
gute Bedeutung habe, aber nicht leicht zu erklären sei. Mit ähn-
licher ..Erklärung* muß sich der Wissensdurstige ja meistens zufrie-
den geben, wenn er in chinesischen Tempeln die Schriftgelehrten
angeht, seiner Unwissenheit ein Licht aufzustecken. Die jungen
Buben sind größtenteils mit in den Klosterhof gelaufen und sie
machen sich wenig daraus, als die Lamas ihnen die Pforte zeigen.
Ein Xaseweis will den Gescheidten spielen und mit verschmitztem
Lächeln meint er r Fu ien sind Mäuse, die Salz gefressen.* Die
chinesische Zoologie behauptet, daß Mäuse, sobald sie eine genü-
gende Porzion Salz verzehrt haben, in Fledermäuse verwandelt
werden: fu Maus ien Salz, dann macht er Kehrt und die andern
Buben laufen unter vielem Gelächter mit ihm zum Tor hinaus.
Für etwas anderes scheinen unsere Begleiter besseres Ver-
ständnis zu haben und sich mehr zu interessieren als für die chinesi-
schen Zeichen und deren Erklärung. Sie versuchen auf alle mögliche
Weise mit dem Fremdling ein Geschäftchen anzufangen, indem sie
aus den geheimen Taschen ihrer weiten Gewandung bald einen
Rosenkranz hervorziehen, den sie zum Verkauf anbieten, bald ein
kleines Götzenbild oder sonstige Xippsachen, die wegen ihres hohen
Alters in besonderem Werte stehen sollen. Die Rosenkranzperlen
sind von Opferasche geknetet aus den Glühstengeln, die vor dem
Hauptbilde des Buddha verbrannt wurden. Durch ein besonderes
Bindemittel sollen dieselben holzhärte erlangt haben, und ein Znsatz
wohlriechender Essenzen macht die Rosenkränze duftend und „reizt
zur Andacht*. Die kleinen Götzenfigürchen sind aus Bronze oder
Kupfer hergestellt und werden selbige nur unter yier Angen ans
— 249 —
den tiefsten Taschen hervorgeholt. Im Innern der Hauptpagode
steht vor dem Bilde des General-Götzen oft eine ganze Reihe
Liligut-Gottheiten. Es sind Votivgeschenke frommer Personen. Die-
selben haben meistens ein hohes Alter und auch nicht selten einigen
künstlerischen Wert. In den letzten Jahren, besonders seit der
Boxerunruhen haben die guten Lama erfahren, daß die Ausländer
an dem kleinen Götzenkrame ein besonders Interesse finden. Fast
jeder der die Pagode besucht, erkundigt sich, ob dieses oder jenes
Göttchen nicht käuflich sei, was von den Bonzen natürlich mit
Entrüstung verneint wird. In der Stille aber machen sie sich die
Erfahrung zu nutzen. Sie wollen dem „frommen Sinne" der Aus-
länder entgegenkommen und deshalb verschwinden die kleinen
Götzen immer mehr vom Plane. Es ist gar nicht ausgeschlossen,
daß die Bonzen der einen Pagode die Götzen einer andern Pagode
unvermerkt auf die Seite bringen; ein Abnehmer dafür ist leicht
gefunden. Das ist so eine Art Nebenverdienst und -Beschäftigung
der Bonzen. Wenn der hölzerne Fisch geschlagen wird, müssen
sie zum Gebete erscheinen, über die andere Zeit aber können sie
nach Belieben verfügen. Obwohl ihre Zahl im Verhältnis zu früher
bedeutend vermindert ist, scheinen sie doch keine besondersflotten
Tage zu verleben. Ihr Aussehen ist vernachlässigt und ungewa-
schen; die Kleider sind abgeschlissen und glänzen vor Schmutz.
Tritt man in einen neuen Vorhof (deren es im ganzen sechs gibt)
und beschaut sich eine andere Pagode, kommen uns sofort wieder-
um einige alte Nußknackergesichter entgegen und strecken bettelnd
ihre Hand aus. Die Klosterkost muß wohl ziemlich dürftig sein
und das ist jedenfalls der Hauptgrund nebenbei einige Käsch zu er-
werben, um sich auf der Straße etwas tien sin (Erfrischung) zu
kaufen. Mit der klösterlichen Disciplin und der „Klausur" zumal
scheint es überhaupt nicht sonderlich bestellt zu sein. Die Bonzen
gehen ein und aus nach Belieben ; es begegnet uns auf der Rück-
fahrt wohl ein Dutzend. Der eine schäkert mit einem Jungen
herum; ein anderer kaut Radis; ein dritter knuspert Erdnüsse.
"Neben der chinesischen Sprache verstehen die Lama auch die
Tibetanische; reden sie miteinander, so unterhalten sie sich in
dieser. Auch die Inschriften auf den Denk- und Votivtafeln in und
außerhalb des Klosters sind alle in beiden Sprachen abgefaßt. Die
Klosterbewohner werden von den Chinesen bald Ho schan bald
Lama genannt; der Sinn bedeutet gleich viel; alle sind Anhänger
des Buddhismus. Aus den Zeiten der kaiserlichen Huld, als Kien-
lung die Stätte dem Kulte des Buddha übergab und 3000 Lama
— 250 —
aus dein Norden nach Peking berief, stammen auch wohl die herr-
lichen Emailvasen, welche über ein Meter hoch sind, und einen
bedeutenden Wert haben. Jedenfalls bilden sie die Hauptkostbar-
keiten im Klosterschatze, und werden deshalb von den Buddha-
mönchen sorgfältig bewahrt. Zur Zeit der Boxerunruhen sollen
dieselben in der Erde vergraben gewesen sein. Um solche Geschenke
zu machen, fehlen heute dem Kaiser die nötigen Mittel und auch
das erforderliche Interesse. Er besucht allerdings jährlich einmal
das Kloster nämlich im Mittsommer (chia tschi=2l Juni) und ver-
richtet dort seine Andacht
Vor vielen Götzenbildern sehen wir Fruchte aufgestellt; vor
einigen stehen auch Gefäße mit klarem Wasser. „Das sind aber
wohlfeile Opfergaben u erlaubte ich meinem Begleiter gegenüber zu
bemerken. „Billig aber rein* entgegnete er. Es gibt auf der Welt
nichts das reiner wäre als das Wasser, deshalb haben auch die
Götter ein Wohlgefallen daran; es ist ja zumal eine Göttergabe, da es
vom Himmel kommt. Unter den vielen Lämpchen, die auf den
Opferaltären brennen, finden wir auch solche, die mit Butter unter-
halten werden. Dieselbe wird aus der Mandschurei bezogen. Dort
gibt es mehr Weide als Ackerland und die Bevölkerung genießt
im Gegensatz zu der chinesischen auch Butter und Milch. Auch
in Peking ist Butter zu kaufen, die aber aussieht wie Wagen-
schmiere; kostet ein Europäer davon, darf er sich gefaßt machen,
heiser zu werden so ranzig ist sie.
Die Hauptsehenswürdigkeit des Lamaklosters ist der „lebende
Buddha* ; doch ist er nur selten sichtbar und dann noch nicht für
jedermann. Auch uns war es nicht vergönnt zum „Gewaltigen* die
Hälse emporrecken zu dürfen; er sei schon einige Tage unpäßlich,
wurde uns bedeutet, und dann werde überhaupt niemand zugelassen.
Wir mußten uns deshalb mit dem Besuche seines hölzernen Kame-
raden begnügen und der bietet die zweite Hauptsehenswürdigkeit
im „Kloster der friedlichen Behausung.* Es ist das ein mächtiges
Buddhabild, welches die respektable Höhe von 27 l j 2 Meter hat.
Der Koloß soll aus einem Baume geschnitzelt sein ; allerdings war
das kein gewöhnlicher Waldbewohner, sondern ein schin-schu, ein
„Geisterbaum*, der im Süden gewachsen und dann „auf wunderbare
Weise* nach Peking gekommen ist. Die große Zehe am rechten
Fuß der Statue hat fiomme Andacht im Laufe der Zeit fast ganz
abgeküßt. Vor dem Bilde brennt die tse ken ming he töng: „Die
Meereslampe (die große Lampe) des beständigen Lichtes ;* auch sie
wird mit Butter unterhalten.
- 25i -
Eine andere Lamapagode befindet sich in der nordwestlichen
Ecke der Tatarenstadt, nicht sehr weit von der Peit'ang (katholische
Mission) entfernt. Zur Zeit der provisorischen Eegierung der frem-
den Mächte war dort das französische Militär teilweise einquartiert.
Die Tempelräume wurden als Wohn- und Schlafstätten notdürftig
eingerichtet; wo gerade die Götzen im Wege standen, setzte man
sie ins Freie. Noch heute liegt dem Eingange gegenüber die Figur
eines feisten Buddha aus Eisen; „Miluofuo" ist sein Name, und er
gilt als ein besonderer Liebling der Epikuräer. Den Oberkörper
entblößt, hält er beide Hände auf dem drallen Schmierbauche gefal-
ten und lächelt holdselig ins Leben als sähe er den Himmel voll
der Geigen hängen. „Aber ist Miluofuo nicht gram ob der unglimpf-
lichen Behandlung, die ihm die Europäer haben widerfahren lassen",
frug ich meinen Begleiter. „Ein Buddha wird niemals gram, son-
dern er muß alle Unbilden in Geduld zu ertragen wissen, andern-
falls ist er eben kein echter Buddha. " „Aber weshalb stellt ihr
das Bild nicht auf seinen alten Platz zurück und laßt es da draußen
liegen in Regen und Sonnenschein ?" „Miluofuo hat hier draußen
sein wollen, sonst hätten ihn die Europäer gar nicht von der Stelle
gebracht", war die Antwort des Lama.
Die Pagode ist bekannnt unter dem Namen Pei-t'a-ssü:
„Tempel des weißen Turmes". In den Parkanlagen der Kaiserstadt
ist ein ähnlicher Bau, welcher siao-pei-t'a-ssü genannt wird; „Klei-
ner Tempel des weißen Turmes". Die Europäer nennen gewöhn-
lich den Bau Schirmpagode, weil die Spitze derselben schirmförmig
auseinanderstrahlt. Die Konstruktion ist einem Bonzengrabmal
nicht unähnlich. Und in der Tat soll darin ein Buddha zur Ruhe
gebettet sein; was für einer wußten mir die Buddhaschüler nicht
zu sagen. Außerdem seien „uüzählich viele" Gebetbücher mit in
das Grabmal vermauert worden. Für den Fall nämlich, daß die
Bibliothek in dem Lamakloster ein Raub der Flamme würde, müßte
dieser Vorrat aushelfen. Die größte Kostbarkeit aber im Grabmal
sei ein Edelstein, der im Leibe des Buddha gewachsen sei. Wie
sich nämlich auf dem Körper eines gewöhnlichen Sterblichen Unge-
ziefer einniste, bringe der Leib des Buddha „Kostbarkeiten" (scheli)
zu Tage, ähnlich der Perle im Innern einer Muschel. Eine nähere
Beschreibung der scheli konnte mir mein Gewährsmann trotz vielen
Herumfragens wiederum nicht geben. Einige Meter hoch vom Boden
führt uns um den Turm ein Gang, eingefaßt von Steinbalustraden.
Es sind dort 189 Laternen aufgehängt, welche zu Neujahr und an
besonderen Festlichkeiten angezündet werden. Sollen sie aber
— 25? —
brennen, muß völlige Windstille sein, denn längst ist das Glas clor
Laternen verschwunden. Nur wenige Bonzen sind Terapelhüter ;
auch hier tritt uns Verfall und Unordnung entgegen, die Tage
des Glanzes sind dahin. Viele Götzenbilder sind von den Soldaten
zertrümmert worden, andere gestohlen und verkauft. In früheren
Zeiten, erzählte mir ein alter Bonze, sei hier das „ständige Gebet*
eingerichtet gewesen. Bei Tag und Nacht habe ein Bonze den
Rosenkranz betend um den Turm die Kunde gemacht. Nach jeder
Runde mußte er Buddha durch ein Kou-t'ou begrüßen. Die Stein-
fliesen, womit der Gang belegt ist, sind denn auch sehr abgeschlissen
und ausgehöhlt. Wie viele hunderttausendmal mag der arme Bonze
nicht schon seinen Gang gemacht haben und wie viel mal ist nicht
schon der Rosenkranz durch seine Finger geglitten, den er betete
zu Ehren der toten Götzen am -Grabe eines Toten !
Ungefähr l j 2 Stunde außerhalb der Stadt liegt in nördlicher
Richtung eine Pagode, die in ihrem Äußeren einige Aehnlichkeit
hat mit dem weißen Tempelturm; sie ist bekannt unter dem Namen
Huang-ssii: r gelbe Pagode*. Auch hier reden nur mehr Trümmer-
haufen und stützbedürftige Pagoden von den glorreichen Tagen
der Vergangenheit und dem Verfalle alles Irdischen. Lange müssen
wir warten, ehe sich ein zerlumpter schmutzstarrender Bonze dazu
bequemt, das Tor zu öffnen. Man sieht, die Ausländer sind den
Klosterinsassen ein Dorn im Auge. Zur Zeit der Unruhen sympa-
tisierten die Bonzen mit den Boxern und als dann später die Japaner
hierher kamen und „Hausuntersuchung" hielten, fand man Boxer-
fahnen und eine Anzahl Waffen versteckt. Sofort ging es mit
blanker Waffe gegen die Mönche los; gegen 100 wurden hinge-
mordet, nur einige retteten sich durch die Flucht. Die Japaner
haben dann auch ihren Ingrimm an den Götzenbildern ausgelassen;
auch ihnen wurden größtenteils die Köpfe abgeschlagen. Jetzt
macht der monumentale Bau aus weißem Marmor einen recht traurigen
Anblick. Früher war das Leben des Buddha auf dem Stein in
erhabener Arbeit eingemeißelt und wie man Jetzt noch sieht, recht
kunst- und geschmackvoll. Die Spitze des Turmes ist mit einer
vergoldeten metallenen Haube bedeckt; ehemals endete sie in einen
birnförmigen goldenen Knauf. Der soll aber schon vor vielen
Jahren bei Nacht und Nebel verschwunden sein unter Mitwirkung
einiger Bonzen. Auch dafür wurde das Kloster hart gezüchtigt,
und die der Tat verdächtigen mußten ihren Frevel mit dem Leben
büßen. Die gelbe Pagode soll in früheren Zeiten noch eine beson-
dere Bedeutung als Götzenfabrik gehabt haben, indem hier zahlreiche
— 253 —
kupferne Buddhas angefertigt wurden. Nebenbei wurden auch Glok-
ken gegossen und sonstige Gebrauchsgegenstände für den Teufelskult.
Am Grabe halten dunkle Cypressen die Totenwacht: Cypres-
sen sind es auch, welche der Chinese im Pagodengehöft seinen
leblosen Götzen pflanzt. Der Baum macht auf uns einen traurig
melangolischen Eindruck. So oft wir die Tempel verlassen, glauben
wir es in den Zweigen wie leise Klage flüstern zu hören über die
Verblendung der armen Heiden. Bei manchen Pagoden treffen
wir Bäume, die viele Jahrhunderte alt sind. Sie haben die Tempel
überdauert so wie die Götzen, welche darin wohnten. Während
Wind und Wetter beide zu Ruinen machten, haben sie den zähen
Baum nur gekräftigt. Später wurde dann die Pagode von neuem
erbaut und ein neues Götzenbild wurde darin aufgestelll. Doch
auch das zweite Mal sah der Baum alles in Staub versinken, wäh-
rend er selbst noch kräftig dasteht und lautere Klage führt in den
dichten Zweigen. Die knorrige Eiche galt den alten Germanen
als Götterbaum; Griechen und Römer aber hatten sie dem Jupiter
geweiht. Wodan mußte dem Gotte der Christen weichen ; die Eiche
aber grünt fort; ihre Zweige und Blätter schmücken die Straßen,
wenn am Fronleichnamsfeste der Heiland seinen Triumphzug hält.
Und zu Falle gebracht, liefert der Baum Material zu Altäre, Kanzel
und Kirchenbänke und dient auch im Tode noch dem Schöpfer,
unbewußt Buße tuend für die Sünden seiner Väter. Möchten doch
auch für dich, du ernste Zypresse bald die Tage der Erlösung her-
anbrechen und möge es durch deine Zweige rauschen wie Freuden-
gesang, weil du im Schatten eines Gotteshauses gepflanzt bist; gerne
wirst du ewig grüne Zweige opfern zu Guirlanden, zum Schmucke
der Altäre und als Palmen, um alljährlich von neuem den Triumph-
zug des Erlösers zu verherrlichen.
Das waren die Gedanken, welche mich bewegten, als ich die
Cypressen alle durchschreitend, die gelbe Pagode verließ und mein
japanisches Gefährte bestieg, um einem andern Tempel den Besuch
zu machen. Es galt die „große Glocke Pagode u (ta-Tschung-ssü)
aufzusuchen, eine der Hauptsehenswürdigkeiten Pekings. In anderen
Pagoden sind die Götzenbilder die Hauptsache, und die Glocken
dienen nur zum Kulte der Ersteren. In der „großen Glocke Pagode u
aber ist kein Götzenbild zu finden, die Glocke selbst bildet den
Gegenstand der Verehrung. Verwunderung allerdings muß ihr
auch der Europäer zollen, wenn er von einem freundlichen Bonzen
begleitet, des Riesen-Kolosses ansichtig wird. Stumm hängt sie da
in der finstern Pagodenhalle schon einige Jahrhunderte lang. Die
— 254 —
Glocke ist älter als der jetzige Kaiserthron, denn sie stammt aus der
Mw^r-Dynastie und wurde vom Kaiser Yuny-luo angefertigt. Das
muß überhaupt ein gewaltiger Herrscher gewesen sein; hat er doch
auch Peking mit einer Riesenmauer umgeben und die beiden Wacht-
türme bauen lassen, den Trommel und den Glockenturm. Es heißt,
der Kaiser habe anfangs ein Dutzend solcher Glocken in Arbeit
gegeben, es sei aber nur eine einzige gelungen. Und man muß in
der Tat das Werk als gelungen betrachten, ja als ein Meister-
stück. Man glaubt anfangs die Glocke stehe auf dem Boden, da
der Rand mit dem Pagodenboden gleich hoch ist. Es hat das darin
seinen Grund, weil der gewaltige Koloß nicht wohl angehängt wer-
den konnte. Der Glockenstul wurde deshalb über der auf platter
Erde stehenden Glocke zusammengezimmert, und als er fertig war,
grub man den Boden rund um den Rand weg. So kann man jetzt
unter demselben in das Innere kriechen, was jedoch, wie der Bonze
mein, nicht ohne Gefahr sei; denn würden „die Balken brechen",
wäre man unter 55 000 Kilogramm begraben und es könnte allerdings
gute Weile haben, ehe man wieder ans Tageslicht befördert würde. Frei-
lich den Erstickungstod braucht man gerade nicht zu fürchten. In dem
obern Rande nämlich hat auch diese Glocke, wie es bei den chinesi-
schen überall der Fall ist, einige Löcher, aus denen der Schall entwei-
chen soll. Es sind das „die Nasenlöcher", während die untere Öffnung
„Glockenmund" genannt wird. Den Klöppel bezeichnet der Chinese
in seiner Auffassung consequent als die „Zunge", obschon er niemals
im Innern der Glocke hängt, sondern von außen angeschlagen wird.
Rund um die Glocke ist eine Veranda gebaut, um auch von
oben das Wunderding betrachten zu können. Der Bonze wirft
durch die „Nasenlöcher" einige Sapeken in das Innere der Glocke
und ermahnt den Besucher, ein Gleiches zu tun. Dazu gehört aber
Fertigkeit und man kann vielleicht zehn Sapeken werfen, ehe nur
eine ins richtige Loch fällt. Doch jede Sapeke, die ihren Weg durch
den Glockenleib genommen, wird eine heilbringende sein, indem
der „Segen" von 30000 Gebetszeichen darüber strömt und deshalb
wird eine Opfersapeke dem frommen Pilger BOOOOfachen Reingewinn
bringen. Was Wunder, wenn das abergläubische Volk an den
Schwindel glaubt und nicht nur einen, sondern eine Menge Sapeken
durch die Löcher und noch mehr daneben wirft. Reich werden
und großen Gewinn machen, möchte ja gern jeder Chinese. Wenn
dann die andächtige Seele den Raum verlassen hat, besorgen die
Bonzen das Einsammeln der Sapeken und fürchten sich auch nicht
mehr, daß „die Balken brechen".
— 255 —
Die Zeichen, womit der Glockenmantel von Innen und Außen
übersät ist, bilden eine Art buddhistischer Litanei (hua-ien-tjng).
Sobald nun die Glocke gerührt wird, „ betet sie," und das Gebet
hat die nämliche Kraft als ob 30 000 Bonzen ihre Stimmen erschallen
ließen. Leider darf sie nur für den Himmelssohn beten, d. h. der
Kaiser allein hat das Recht, die Glocke läuten zu lassen, und auch
das geschieht nur in seltenen Fällen. Meistens dann, wenn große
Trockenheit das Land heimsucht oder feindliche Scharen gegen
Peking losziehen. Zur Zeit der Boxerunruhen, als die ausländischen
Truppen auf den Kaiserpalast losmarschierten, wurde die Glocke
allerdings auch geläutet aber es war ein Trauergeläute und galt
dem fliehenden Kaiser.
Der Bronceguß ist ungemein sauber ausgeführt und auch die
Schriftzeichen sind akkurat wie geschrieben. Die äußere Glocken-
form indes macht einen plumpen Eindruck und ist am Rande nicht
tulpenartig ausgebogen, wie wir es bei unsern Glocken zu sehen
gewohnt sind. Der Querbalken an dem die Glocke hängt ist eben-
falls von Bronce und mit fein ciselierten Drachenverzierungen über-
kleidet; desgleichen sind die Henkel kunstvoll zu zwei Drachen
verarbeitet. Auf einer besonderen Metallplatte, die außen an der
Glocke befestigt ist, sieht man die Dynastie und den Namen
des Kaisers verzeichnet, unter dessen Regierung das Werk vol-
lendet wurde. Die Pagode selber ist um einige Hundert Jahre
jünger aber recht reparaturbedürftig. Die Treppe zur Empore
wackelt beim Auf- und Absteigen und der Bonze mahnt, uns
festzuhalten.
Noch einmal betrachten wir die seltene Sehenswürdigkeit von
unten. Wie ein Riesengebetbuch steht uns die Glocke gegen-
über; mißt sie doch 6 Meter Höhe und 4 Meter in der Breite; der
Mantel aber hat einen Durchmesser von 8 Centimeter. Wie schon
bemerkt beträgt das Gewicht gegen 55 000 Kilogramm, während
die Kölner Kaiserglocke nur 26 250 Kg. schwer ist. „Ein Glück",
flüstert der Bonze mit findigem Lächeln „daß die Glocke so groß
und schwer ist". „Wie so denn" frage ich ihn. „Wäre sie leicht
gewesen und gut zum Tranzportieren, hätten die Ausländer sie sicher
nach Europa geschleppt und Peking wäre um ein Wunderding
ärmer geworden, wir aber hätten unser Brod verloren. Wir waren
allerdings mit den Ausländern immer gut Freund und gar manchen
haben wir hier in den heißen Julitagen gastliche Aufnahme bereitet".
Als Beweis dafür führte er mich ins Fremdenzimmer und zeigte
mir eine Reihe Geschenke, die ihm Ausländer gemacht.
— 256 —
In den Wintertagen wallfahrt das gläubige Volk nach Ta
tschung ssü, wirft Sapeken durch die Glockenlöcher und bittet um
Reichtum und Glück. Dann aber reift der Bonzen Korn und oft
werden sie stille bei sich denken, was sie mir nur leise ins Ohr
geflüstert: „Ein Glück, daß die Glocke so groß und schwer ist".
Ich begebe mich zur Stadt zurück. So oft das Volk bemerkt,
daß man zu einer Pagode fährt oder von dort zurückkehrt, drängen
sich alle Augenblicke Bettler an einem heran und halten dem
Wallfahrer brennende Glühstengel unter die Nase. Man soll sich
damit die Pfeife anzünden; wer dann das Bedürfnis fühlt sich eine
zu rauchen, nimmt den Glühstengel zur Hand und wirft dem
Bettler dafür eine Sapeke auf den Boden. Dieser Glühstengel
besteht aus dem nämlichen Material wie der chinesische „Weihrauch*
nämlich aus fein gemahlenem Holze von Ulmenbäumen, das dann in
Stengel von verschiedener Dicke und Größe geformt wird. Solcher
„Fidibus" brennt längere Zeit, ist also zum Pfeifen anmachen wohl
praktisch; der Geruch allerdings sagt unserer Nase weniger zu, zumal
wenn die ganze Luft davon voll ist, wie man es in den Pagoden meistens
antrifft. Die Götzenbilder haben in Folge des beständigen Räucherns
auch ein verräuchertes Aussehen, manche sind sogar ganz schwarz
geworden, als entstammten sie dem Mohrenlande.
Als Sehenswürdigheit ersten Ranges war mir früher schon
die Tung jü, die östliche Unterhölle angepriesen worden; ich mache
deshalb dorthin meinen Weg. Ein wahres Teufels Tohuwabohu
allerdings eröffnet sich daselbst dem erstaunten Besucher. Unzäh-
lige, möchte ich sagen, Götzenfiguren in allen möglichen Farben,
Physiognomien, Stellungen und Geschäften sind hier vertreten.
Auch ist es nicht nur eine einzige Pagode, sondern vielmehr ein
großes Gehöft, welches von drei Seiten mit Hallen umbaut wurde;,
von denen jede einzelne von der anderen wiederum getrennt
ist. Das Ganze macht wohl den Eindruck einer echten Götzen-
Kolonie, und hier ist im Großen zu schauen, was die Pagoden auf
dem Lande und selbst in den Städten nur im Auszuge bieten.
Alle erdenklichen Strafen, womit die Richter der Unterwelt den
armen Sünder peinigen lassen, sind hier plastisch vorgeführt; des-
gleichen sehen wir sie die Guten belohnen, indem ihnen alle mög-
lichen Aemter und Würden je nach Verdienst verliehen werden.
Am besten fundiert ist jene Halle, wo die Herren Mandarine
ihre Anstellung verschrieben bekommen. Es reiht sich an die
Wände eine Votivtafel an die andere ; auf jeder wird dem Götzen
gedankt für Amtshut und Siegel, die er hier erfleht und später
- 257 —
dann glücklich bekommen hat. An zweiter Stelle ist das Kinder
verteilungs- Ressort gut ausstaffiert und mit Votivgegenständen
reichlich bescheert. Es scheint nach Babies ist immer rege Nach-
frage aber auch der Vorrat ist nicht minder groß. Man gewahrt
zwei Riesenteufel, von denen jeder einen gewaltigen Sack trägt,
angefüllt mit käsegroßen Knirpsen; die obersten stecken den Kopf
aus dem Sacke hervor und gucken vergnügt ins Leben. Auch auf
Gesimsen und in den Nischen der Wände ist das kleine Volk reich-
lich vertreten.
Als die dritte best besuchte und beschenkte Abteilung fand
ich die TcWang schou jü d. i. jene „ Hölle", wo langes Leben ver-
teilt wird. Man sieht der Chinese möchte wohl gerne recht alt
werden, zumal wenn er gut zu essen und zu trinken hat und die
Enkel für ihn arbeiten. Achtzig, ja neunzigjährige Altväter hatten
hier viele Votivtafeln aufgehängt und baten den Jen-wang (Gott
der Unterwelt) noch einige Jahrzehnte im irdischen Dasein weilen
zu dürfen.
In der Kaufleute Abteilung, wo nämlich der Beruf zum Kauf-
manne verliehen wird, waren besonders viele verschiedene Men-
schentypen auffallend. Ich fand dort Judengesichter, die einem
llafaele alle Ehre gemacht hätten. Es scheint somit, daß der
schachernde Jude schon bei Zeiten seinen Weg nach China gefunden
hat und er lebt auch jetzt noch im Andenken der Kaufmannsschaft
fort. Natürlich ist die ganze Götzen-Gallerie nur aus Lehm geformt
und dann mit Farbe bestrichen. Eine Jtiesenrechenmaschine, die
über dem Eingange zu jeder Abteilung an der Wand hängt, gemahnt
uns daran, daß hier strenge Gerechtigkeit gehandhabt wird. Im
innern Hofe sind viele Platten aufgerichtet und dort ist in den
Stein gemeißelt was in den Pagodenhallen auf den Votivtafeln
geschrieben steht. Alte Cypressen und Fichten breiten ihr Schirm-
dach darüber aus ; die meisten sind älter als die Pagode und wenn
selbige nicht bald einer gründlichen Restauration unterzogen wird,
ist ihr Zusammenfall nicht mehr ferne.
Auf dem Rückwage kommen wir an einem Trümmerfelde
vorbei. Hier befand sich noch vor einigen Jahren eine der bekann-
testen Pagoden Pekings, berühmt wegen eines weiblichen Buddha-
bildes, über das die Sage Wunderdinge zu berichten weiß. Das
Bild stand dermaßen in Ehren, daß sich auch der Kaiser davor
in den Staub niederwarf, so oft er die Pagode besuchte. Selbiges
soll aus dem Süden stammen, gegen 3 000 Jahre alt sein und schon
in verschiedenen Pagoden Verehrung gefunden haben, bis es
R. Pieper, „Neue Bänder. 17
- 258 —
endlich im 60. Regierungsjahre des Kaisers Khanhi in einer Lania-
serei Pekings seine definitive Unterkunft fand. Dasselbe besteht
aus Rottannenholz (Tschang t'aen) und von ihm hatte auch die
Pagode ihren Namen erhalten „Rottanne Pagode* Tchang t'aen ssü).
Das Kloster, geehrt durch die Übergabe des kostbaren „ Heiligtums u %
wurde dann auch von der kaiserlichen Huld reichlichst bescheert.
Die vielen Bruchstücke von Marmorplatten und fein gearbeiteten
Marmorsäulen legen Zeugnis ab von der Pracht, die hier ehemals
geglänzt. Da das Kloster in nächster Nähe der Peit'ang lag, haben
sich die Mönche s. Z. verleiten lassen, daselbst den Boxern einen
Unterschlupf zu bieten. Höchstwahrscheinlich haben sie auch mit
denselben gegen die bischöfliche Residenz gekämpft. Hier hauste
der schlimmste Feind für die arg Bedrängten während der Schrek-
kenstage im Sommer des Jahres 1900. Als Peking dann von den
ausländischen Truppen entsetzt wurde, ereilte das Kloster und seine
Bewohner die Nemesis. Die französischen Truppen haben alles dem
Erdboden gleichgemacht; die prachtvollen Pagoden bilden nur
mehr ein Trümmerhaufen. Wo das „Wunderbild" geblieben, weiß
niemand zu sagen; wahrscheinlich hat es auch seinen Untergang
gefunden.
Eine andere Pagode, mehrere Stunden von Peking entfernt,
soll schon vor vielen Jahren nicht nur dem Erdboden gleich ge-
macht, sondern gar in ein Ackerfeld ungewandelt worden sein. Eh
hausten dort Bonzen, die eine Herberge etabliert hatten. Selbige
fand vielen Zuspruch, da eine große Straße dicht daran vorbei
führte. Den Bonzen war es aber nicht so sehr um Verpflegung
der Gäste zu tun, als vielmehr um Beraubung derselben. Glaubten
sie einen guten Fang machen zu können, wurde der nichts ahnende
Reiche in das „bessere Zimmer" (schang fang) geführt um darin zu
verschwinden, und auch seine Begleitung wurde niedergemacht. End-
lich kam die Regierung auf das gottlose Treiben der „gottseligen"
Klosterbewohner. Die Untersuchung ergab, daß viele Hunderte
Unglückliche hier meuchlings ermordet und beraubt worden waren.
Sämtliche Bonzen wurden dann draußen auf dem Felde lebendig
begraben, d. h. so, daß der Kopf bis zur Nase noch aus dem Boden
steckte, dann wurde eine eiserne Egge mit spitzen Zähnen darüber-
gezogen, eine allerdings furchtbar grausame aber doch gerechte
Strafe. Wenn übrigens nur die Mauern der Bonzenklöster reden
könnten: sie würden den Buddha-Schwärmern und -Lobesrednern
erzählen von Affenliebe und Schonung gegen die unvernünftige
Kreatur, selbst wenn es nur Ungeziefer ist oder eine Ameise — von
— 259 —
Hartherzigkeit, Haß und Rachsucht gegen die Mitmenschen, von
schwarzen Plänen die hier geschmiedet wurden und von vielen
andern Verbrechen, deren stumme Zeugen sie sein mußten.
Das Hauptheiligtum in Peking.
er Kaiser von China gilt in den Augen des Volkos als
der „Himmelssohn* (t'ieti tse), und als solchem steht ihm
___ÜE das alleinige Recht zu dem Himmel zu opfern. Während
&I&V&» das ß^ich mit unzähligen Pagoden überschwemmt ist, die
allen möglichen Gottheiten geweiht sind, gibt es aber nur einen
Himmelstempel und zwar in der Hauptstadt des Reiches. Es ist
meines Wissens über diese alte ehrwürdige Opferstätte noch ver-
hältnismäßig wenig geschrieben worden ; hauptsächlich wohl deshalb,
weil es in früheren Jahren den Fremden nur in seltenen Fällen
und nie ohne höhere Empfehlung möglich war, dieselbe flüchtig zu
besichtigen. Heute kann man gegen ein angemessenes Trinkgeld
im Tempel und dem gewaltigen Haine, der allein einen Durchmessr
von l ! / 2 Kilometer hat, ganz nach Belieben spazieren gehen. Ich
will in Folgendem dem freundlichen Leser mitteilen, was ich bei
Gelegenheit eines Besuches selber gesehen und in Betreff des
Opferritus von den Tempelwärtern erfragen konnte.
„ Himmelstempel \ u Schon der Name deutet auf etwas Hohes,
Erhabenes, Gottverwandtes; und in der Tat ist das Bauwerk von
den Fetischhütten der Neger so weit verschieden, wie die Kultur
und Hautfarbe des schwarzen Mannes im Gegensatze steht zu der
des gelben. Übrigens ist die Bezeichnung Himmelstempel nicht
ganz correkt, denn die eigentliche Opferstätte ist nicht der Tempel,
als vielmehr der im Freien liegende Altar, wie auch die Chinesen
nur von einem t'ien t'ä „Himmels-Altar" sprechen. Der Opferhain
umfaßt eine Menge Gebäude, von denen der Himmelstempel allerdings
alle überragt und dorthin richtet der Besucher zunächst seine Schritte.
Treten wir durch die westliche Eingangspforte in den Tempel-
hain, so umfängt uns geheimnisvolles Schweigen. Hier ist das
Krämerleben und Geräusch der Straße verbannt ; von allen Bewoh-
nern Pekings ist es wohl kaum dem tausendsten Teil jemals
vergönnt gewesen, durch diese Pforte einzutreten. Hundertjährige
Akazien und Lebensbäume neigen sich über die breite, gut gepfla-
sterte Straße. Die Bäume sollen in der Jugend aus lauter Ehrfurcht
— 260 —
vor der Kaiserlichen Majestät das Haupt vorneigt haben und fortan
in dieser Stellung verblieben sein. So erklärt wenigstens mein
Begleiter das etwas schiefe Unterhängen der Zweige zum Wege hin.
Wohin das Auge auch blicken mag, sieht es nichts als Bäume,
Sträucher und Grün. Man glaubt sich fast in einen europäischen
Wald versetzt. Doch die wunderliche Form mancher Bäume erin-
nert uns daran, daß solche nur in China wachsen. Da sehen wir
„Kreisel-Tannen* deren Stamm spiralförmig nach oben strebt;
„Drachen- Cypressen*, die „um sich selbst gewunden Tier- und
Pflanzenreich gemeinsam zum Ausdruck bringen*. Sind wir eine
Strecke weiter gegangen, erblicken wir den Tempel ausdrucksvoll
und majestätisch aus den Bäume-Dickicht in die Lüfte ragen. Tem-
pel und Altar sind durch eine via triumphalis mit einander verbun-
den, liegen aber wohl zwei li von einander entfernt. In Mitte den
Weges befindet sich ein kleiner Tempel, eine Abbildung des Himmels-
tempels, der als eine Art „ Sakristei * dient. Dort werden nämlich
die Opfergeräte, die pä-ui „Seelensitz-Tafeln* und sonstige Kostbar-
keiten aufbewahrt. Derselbe heißt Huany tjungjü: „Kleines Abbild
des Alles überragenden Himmels.* Läßt man von hier aus seine
Augen nach rechts und links streifen und überblickt das Ganze,
so muß man gestehen, daß eine derartige Anlage nur ein großer
Geist erdacht haben kann. Der Himmelstempel liegt auf einer
künstlichen, mit Marmor überkleideten hügelartigen Terrasse und
auch die via triumphalis geht nicht zur ebenen Erde sondern führt
in einer Höhe von neun Stufen zum Altare und ist zu beiden Seiten
aufgemauert. Die Terrasse aber, auf welcher sich der Himmels-
tempel erhebt, hat eine Höhe von 27 Stufen und verjüngt sich
nach jeder neunten Stufe. Von allen vier Himmelsgegenden führt
ein Anstieg hinan und zwar von Süden und Norden ein dreiteiliger,
von Osten und Westen aber nur ein einfacher. Der einzelne Anstieg
ist zu beiden Seiten mit Balustraden von Marmor eingefaßt. Die
Verjüngung nach je neun Stufen bildet ein Weg, der im Kreise um den
Tempel läuft, welcher ebenfalls mit einem Marmorgeländer eingefaßt
ist. Die zwei Hauptanstiege von Süden und Norden über die sich nur
die kaiserliche Sänfte bewegen darf, sind nicht wie die andern in
Stufen abgeteilt, sondern sanft aufsteigend. Das Pflaster besteht aus
drei mächtigen Marmorplatten. Auf der ersten sind Berge, Wasser und
Wolken eingemeißelt ; auf der zweiten ein Paar Riesen-Phönixe (Fung
huang) ; auf der dritten endlich ein Paar Drachen (Lung huang). Somit
schreitet der „Sohn der Himmels* auf Wolken, Bergen und dem Rük-
ken von Phönixen und Drachen empor zum Heiligtum des Himmels.
— 261 —
Zwischen dem von Marmorbalustraden eingefaßten und abge-
teilten Wege wächst unbehindert die liebe Natur. Ich traf dort
das nämliche Grün, Kräuter- und Stäucherwerk wie ich es auf den
Bergen Mung-jins gesehen hatte. Doch das Auge findet keine Zeit
der Umgebung viele Blicke zu gönnen; wie gebannt ruht es auf
dem gewaltigen Tempel, dessen eigentümliche Schönheit sich immer
mehr entfaltet, je näher wir ihm kommen: „Rund ist der Himmel,
deshalb ist auch sein Tempel rund", im Gegensatze zum Tempel der
Erde, der ein Viereck darstellt „weil die Erde ein Quadrat bildet".
Das tiefblauglänzende Dach hat drei Abstufungen und endet in
einem birnartigen Knauf. Überhaupt finden wir die Dreizahl in der
Anlage des Tempels und seiner Umgebung immer wiederkehren.
Vier mächtige, mit herrlichen Goldarabesken reich verzierte Säulen,
die sich nach oben in acht kleinere verzweigen, tragen das Mittel-
dach. Das Gesimse wird von 24 Säulen unterstützt. (4 und 8 und 24
= 36, das ist 12 mal 3). Die rot lakierten Türen sind mit neun Reihen
vergoldeter Nägel beschlagen, in jeder Reihe aber zählen wir wiederum
neun. Die Dreizahl soll Bezug haben auf die drei Majestäten,
denen der Kaiser hier opfert, nämlich dem T'ien-huang, Ti-huang und
Gin-huang: „dem Himmelskaiser, dem Erdenkaiser und dem Men-
schenkaiser." Wer unter diesen drei Kaisern verstanden wird,
Harüber sind sich die Ausleger nicht einig. Das Volk betrachtet
den Himmelskaiser als den Herrscher, der den Himmel zu regie-
ren hat (Sonne, Mond und Sterne). Dem Erdenkaiser untersteht
die Welt mit allem was darin und drauf ist, nur die Menschen sind
von seiner Herrschaft ausgeschlossen. Diese unterstehen nämlich
dem Gin-huang, dem Menschenkaiser. Konfuzius bezeichnet drei
mytologische Persönlichkeiten als jenes Kaiser-Triumvirat und zwar
soll Fu-hi der erste, Schin-nung der zweite und Huang-dj der dritte
sein. In einer chinesischen Kaiser-Chronologie heißt es T'ien-huang
sei eine Brüder-Familie gewesen von dreizehn Kaisern, von denen
jeder achtzehntausend Jahre gelebt habe. Dann sei eine andere
Brüder-Familie gefolgt, ebenfalls von dreizehn Köpfen und auch
ihr sei eine Lebensdauer von achtzehntausend Jahren beschieden
gewesen. Hierauf endlich sei Tj-huang gefolgt, eine Brüderfamilie
von neun Mann, deren jeder 45 600 Jahre auf der Erde gehaust
habe. Unter der Regierung des „Himmelskaisers" habe man ange-
fangen nach Jahren und Tagen zu zählen. Die „Erdkaiserherrschaft"
habe den Cyclus von 60 Jahre eingeführt, das Jahr in 12 Monate
und 24 Festabschnitten und den Tag in 12 Doppelstunden (schi-
tschin) geteilt, ähnlich dem Kronos oder Saturnus der Griechen und
— 262 —
Römer. Gin-huang endlich habe sich mit dem Gesetze des Anstan-
des und der Gerechtigkeit befaßt und habe das Heiraten eingeführt.
Ehedem lebte man wild. Vor dieser drei Kaisorzeit wird ein Paen-
ku genannt, der Himmel und Erde, Sonne und Mond, Berge und
Flüsse reguliert und in die rechten Bahnen gelenkt haben soll und
dem ein Lebensalter von achtzehntausend Jahren beschieden gewe-
sen sei. Vor ihm war so eine Art Thohuwabohu. Merkwürdigor-
weise wird seiner beim Kaiseropfer nicht gedacht, wohl aber findet
man Pagoden, die zu Ehren des Paen-ku erbaut sind. Er wird
darin halb nackt dargestellt, wild von Aussehen, cyklopen-grauen-
haft. Übrigens wird sich der chinesische Kaiser bei seinen Opfern
nicht viel Bedenken darüber machen, wem er opfert und wer die
drei Majestäten sind, vor denen er im Staube liegt. Verkehrt
ist es somit auch zu glauben, der Kaiser opfere im Himmelstempel
dem Himmel, und wenn man darin einen Anklang finden will an
die Urreligion. Mir will os vielmehr scheinen, daß der Himmels-
tempel und -Altar dem Kulte der „höchsten Herrscher u bestimmt
sei, zu denen sich der Kaiser als T'ien-tse in nächster Beziehung
glaubt und das Recht dazu für sich allein beansprucht. Dahin
scheinen auch die Tafeln der Ahnen des Kaisers zu deuten, die
bei Gelegenheit der Opfer sowohl im Tempel (auf einer mäßigen
Erhöhung), als auch in der Nähe des Himmels-Altars aufgestellt*
werden, und denen der Kaiser gleichfalls seine Kaut'ous macht
und opfert.
Betrachten wir nun ein wenig den Himmelstempel selbst.
Derselbe ist in seiner jetzigen Gestalt neueren Datums, eigentlich,
was innere Ausschmückung angeht, noch nicht ganz vollendet. Der
frühere Tempel wurde im Jahre 1889 vom Blitze getroffen und
eingeäschert. Lange dauerte es, ehe man das notwendige Material
fand, um den Bau neu aufzuführen, denn dazu war eine besondere
Holzart vorgeschrieben, deren Herbeischaffung äußerst viele Mühe
machte. In der Tat besteht das ganze Gebäude fast ausschließlich
aus kostbarem Pinien-Holz. Steinmaterial ist ungefähr gar nicht
daran verwendet. Die Anlage soll dem Reiche 20 — 30 Millionen
gekostet haben, was eigentlich unmöglich scheint, es sei denn, der
weitaus größte Teil des Geldes wäre in die Taschen der Mandarine
gewandert. Der Durchmesser des Tempels beträgt zur ebenen Erde
70 Fuß. Das Holz werk ist von Außen und Innen in den kostbar-
sten Farben gefirnist. Besonders effectvoll nimmt sich die Vergol-
dung auf hochrotem Untergrunde ab. Die Decke erstrahlt in
hellgrünen und blauen Farben, eingefaßt in reicher Vergoldung.
— 263 —
Da, wie gesagt, der ganze Tempel aus Holz werk besteht., konnten
Wände und Türen durch kostbare Schnitzereien wunderbar belebt
werden, desgleichen die Decke, deren Mittelpunkt ein großes
Drachenmedaillon bildet. Motive allerdings, sowohl für Schnitzereien
als Malereien, sind durchgängig die nämlichen, wie man sie fast
in jeder Pagode findet: nämlich Medaillons mit haraldischen Drachen-
meändcr-Zeichnungen, Blumen und Phönixe. Übrigens erinnert der
Linienschmuck wie ihn die Chinesen schon viele hundert Jahre
lang auf Fenstern und Türen anbringen, lebhaft an den „Jugend-
stil u unserer modernen Kunst. Im Innern des Tempels erhebt sich
nach Norden eine Art Thron; auf denselben wird die Tafel des
Himmels gestellt, vor welcher der Kaiser seine Verehrung macht.
Dieselbe ist nach Art der Ahnentafeln angefertigt nur in größcrem
Formate und von äußerst kostbarem Material. Auf demselben sind
die Worte zu lesen; Hnang t'ien schang tj : „Erhabener Himmel,
höchster Herrscher. u Um den Altar läuft ein blaues Gitterwerk,
in dem nur der mittlere Weg freien Zutritt öffnet, aber auch dieser
ist an beiden Seiten mit einem Geländer eingefaßt, welches mit
goldenen Flammen verziert ist. Zu beiden Seiten des Altares ist
eine kleine Erhöhung ; dort werden die Ahnentafeln der regierenden
Dynastie aufgestellt, wenn der Kaiser den Tempel betritt. Übrigens
hat Kuangsü den neuen Tempel noch niemals besucht; die Opfer
wurden bisheran auf dem Altare im Freien dargebracht. Der Boden
ist mit glatt geschliffenen Steinen rossettenartig gepflastert; der
mittlere ist ein „Blumenstein* und soll besonderen Wert haben.
Dreimal im Jahre besucht der Kaiser das Himmelsheiligtum,
nämlich zum Beginne des Winters, im ersten Monat des neuen
Jahres und das dritte Mal endlich zu Anfang des Frühlings. Der
erste Besuch heißt tjiao t'ien „dem Himmel Rechenschaft ablegen".
Bei dieser Gelegenheit werden einem Ochsen alle Todesurteile,
die der Kaiser im Laufe des Jahres unterzeichnet hat, aufgebun-
den; hierauf wird das Tier mitsamt den Urteilen in einem von
grünen Ziegeln gemauerten Ofen verbrannt. Das Opfer des Stiers
soll die etwaigen Fehlgriffe des Kaisers, welche er sich im Laufe
des Jahres hat zu schulden kommen lassen, entsühnen, und ihm die
Huld des Himmels von neuem erwerben. Der zweite Besuch heißt
tao sin : „Übergabe des Neuen". Der Kaiser wird bei dieser Gele-
genheit wieder vom Himmel beauftragt, das Volk für das kommende
Jahr zu regieren. Der dritte Besuch endlich wird ta jü genannt:
„Bitte um Regen". Der Monarch hat nämlich an erster Stelle für
die Wohlfahrt seiner Untertanen zu sorgen; als ackerbautreibendes
— 264 —
Volk aber hängt sein Wohl und Wehe hauptsächlich von einer
günstigen Witterung ab. Falls Dürre einsetzt oder Überschwem-
mungen hereinbrechen, betrachtet es der Kaiser als seine Schuld;
„er hat am Frühlingsanfang nicht gut gebetet u . Nur bei der ersten
Cermonie dqs tjao t'ien besucht der Kaiser den Himmelstempel; die
zwei andern Male werden die Opfer auf dem t'ien t'ä dargebracht.
Was nun die Opfer betrifft, so bestehen dieselben aus zwölf
schwarzen Ochsen, vier Schweinen, vier Schafen, zwei Hirschen
und sieben Hasen. Die Hasen sollen die Stellen der Pferde ver-
treten, die beim Opfer keine Verwendung mehr finden. Die Tiere
werden zunächst in den Schlacht-Palast geführt (ta schöng fing),
welcher in nordöstlicher Richtung vom Himmelstempel ziemlich weit
entfernt liegt. Beim Schlachten ist besonders darauf zu achten,
daß das Opfertier die Augen nicht schließt, denn es muß „sehend"
auf den Opferaltar gelegt werden; andernfalls hätte der Himmel
kein Wohlgefallen daran. Vom Schlachtpalast führt ein langer
überdachter Weg in verschiedenen Biegungen zunächst zum „Reini-
gungs-Palaste", wo die Tiere ausgeweidet und gewaschen werden.
Von hier trägt man sie zum Küchenpalast (pio schöng hu) wo sie
in Riesentöpfen ungeteilt gekocht werden. Nach vorschriftsmäßi-
ger Zurichtung können sie dann in feierlicher Prozession durch
den langen überdachten Gang zum Himmelstempel getragen werden.
Den ganzen Weg entlang singen Bonzen litaneiartige Gebete,
während der Kaiser in neun bestimmten Zwischenräumen sich
auf den Boden zu werfen hat und bei jedem Kau~t'ou dreimal
das Haupt zur Erde neigen muß. Für einen so hohen Herrn ist
der Opferritus somit schon mit mancherlei Anstrengung verbunden.
Besagter Gang ist nach einer Seite offen und zählt 72 Abteilungen
(tjen), jede Abteilung soll in Beziehung stehen zu den 36 Säulen,
welche den Himmelstempel stützen. Ein ganzer Apparat Gegenstände
ist für die Opferfeierlichkeit und Prozession notwendig. Dieselben
werden in zwei eigens für diesen Zweck hergerichteten Gebäuden,
dem „Ost- und West-Palaste u (tung-Ku si-Ku) aufbewahrt. Natürlich
benutzt der Kaiser bei der Opferhandlung eine besondere kostbare
Kleidung. Dieselbe wird unter einem gelb seidenen Zelte, das auf
einer Ausbuchtung der via triumphalis nach Osten hin aufgeschla-
gen ist, angelegt. Das Zelt wird Köng j Ung genannt: „Palast der
Kleiderwechslung".
Wenden wir nun zum Abschiede noch einmal unsern Blick
empor zum Himmelstempel. Fast glauben wir einen gigantischen
stummen Opferpriester in reicher Gewandung vor uns zu sehen,
— 265 —
den Cermonienhute mit goldenem Riesenknopfe auf dem Haupte.
Und sein Gesicht stellt eine mächtige, reich vergoldete Tafel vor,
auf der wir die Zeichen lesen t'ji nien tien: „Gebetstempel (um ein
glückliches) Jahr." Der Anblick wirkt feierlich erhabend; doch
der Gedanke, daß die Herrscher des Riesenreiches schon Jahrhun-
derte lang hier geopfert 1 ), aber nicht dem höchsten Wesen; gefleht,
nicht recht wissend zu wem; Sühne geleistet, ohne entsündigt zu
werden, dieser Gelanke weckt Traurigkeit in uns und Wehmut.
Schreiton wir jetzt auf der via triumphalis weiter nach Norden
zum t'ient'ä, dem „Himmelsaltare". Trägt ein Altar im Freien
schon überhaupt den Charakter des Erhabenen an sich, so wird
dieser Eindruck noch mehr erhöht, wenn man einen Altar in weißem
Marmor vor sich sieht, umgeben von 42 Triumphbogen, glänzend
in den Strahlen der Sonne und von solch gewaltigen Dimensionen,
wie er sonst seinesgleichen wohl nirgends auf der Welt hat. Dazu
paßt fürwahr als bestes Gewölbe der azurblaue Himmel und als
Staffage die dunkelgrünen Gipfel hundertjähriger Cypressen, durch
deren Wipfel es geheimnisvoll säuselt wie Opfergesang. Es naht
als „Hohepriester" der „Sohn des Himmels" und schreitet mit
prächtigem Gefolge langsam über die via triumphalis. Er läßt sich
nieder unter einem gelb seidenen Gezelte, das an einer Seite des
Altares aufgeschlagen ist. Sein Antlitz ist nach Süden gewendet,
während die Opfertiere auf langen Tischen, die Augen weit geöffnet
in peinlicher Ordnung dastehn, und die dienstbeflissenen Bonzen
ihres Amtes walten. Jetzt wird die Tafel des Himmels auf einem
mit schwerem Damast bedeckten Throne herbeigeschafft ; der Kaiser
erhebt sich von seinem Sitze und neigt gegen Norden gewendet
dreimal ehrfurchtsvoll sein Haupt zur Erde. Die nämliche Ceremonie
wiederholt er in drei verschiedenen Pausen. In acht gewaltigen
eisernen Opferschalen, die auf der östlichen Seite im Halbkreise um
den Altar stehen und mehr als einen Meter im Durchmesser haben,
werden dann zu Ehren der acht Ahnen des Kaisers auf dem Dra-
chenthron drei Rollen fünffarbiger Seide verbrannt. Während der
Nacht leuchten an drei Riesenstangen (saen-kuan-ken), die in süd-
westlicher Richtung am Altare aufgepflanzt sind, drei mächtige Later-
nen zu Ehren der drei Myten-Kaiser. Besagte Stangen haben die dicke
von Mastbäumen großer Schiffe. Als dieselben z. Z. neu gefirnist
wurden, waren sie von allen Seiten derart eingerüstet, als ob es
gelte einen Kirchturm zu bauen, und mehr als ein halbes Jahr
dauerte die Arbeit.
Der erste war Yting-lao, ein Kaiser der Ming Dynastie.
— 266 —
Nach Beendigung der Opferceremonie verfügt sich der Kaiser
mit seinem Gefolge zum Palaste im Opferhaine. Die kaiserliche
Residenz ist nämlich vom Himmelstempel, welcher bekanntlich in
der Chinesenstadt liegt, wohl eine halbe Stunde weit entfernt. Am Vor-
abende des Opfertages begibt sich der Kaiser unter großem Gepränge
von einigen Tausend Soldaten escortiert zum Haine. Er muß die
Opferhandlung morgens in aller Frühe nüchtern verrichten ; Abends
zuvor aber speist er im Paläste des Tempelhains. Zu diesem Zwecke
geht auch eine Anzahl Köche mit. Ich zählte über fünfzig Feuer-
ungen, die aus Luftziegeln im Freien aufgemauert waren. Ebenso
sah ich ganze Reihen heizbarer Schlafstätten (k'an) aus Luftziegeln
draußen aufgemauert. Auch das kaiserliche Bett ist ein k'an und
wird von außen geheizt. Übrigens ist der Palast in ziemlich be-
scheidenen Verhältnissen gehalten; zum Wohnen dient ein einzini-
merige8 und einstöckiges Gebäude. Dasselbe ist kellerartig überwölbt.
Dem Eingange gegenüber steht ein Thronsessel aus Ulmenholz,
dessen Lehne mit herrlich geschnitzten Landschafts- und Genreszenen
geziert ist. Zu beiden Seiten des Thrones sind Fächer aus Pfauen.
federn befestigt; den Sitz überdeckt ein Polster aus gelber Seide.
Außer einem niedlichen Teetischchen ist fast kein Möbel vorhanden.
Hinter dem Thron steht eine dreiteilige Schirm wand aus kostbarem
Holze, gleichfalls belebt durch wundervolle Schnitzereien. Die Wände
sind kahl; nur über dem Throne hängt eine vom Kaiser Kien-lung
eigenhändig geschriebene Tafel, auf welcher zu lesen ist: Tjin go
jo t'ien: „In Ehrfurcht dem mächtigen Himmel gehorchend". Vor
dem Palaste erhebt sich eine Esterade deren zwei Ecken mit pago-
denartigen kleinen Häuschen flankiert sind. Eines dient zum Ver-
brennen von Weihrauch; und in das andere wird z. Z. des kaiserlichen
Besuches eine knabengroße, metallne Figur gestellt, tung gin genannt,
die einen vergötterten Pagen des Kaisers vorstellen soll. Die Schinn-
wand verdeckt nach Westen hin eine Türe, durch die man in einen
zweiten ebenso einfachen Palast gelangt, der dem Kaiser als Schlaf-
gemach dient. Kein gewöhnlicher Sterblicher darf dahin seinen Fuß
setzen. Die Türen sind mit gelben Papierstreifen im Pluszeichen
(X) überklebt und versiegelt. Vor dem Palaste erblickt man rechts
und links vom Eingange zwei mächtige eiserne Wasserbehälter,
die sich zu Kneipianerzwecken vortrefflich eignen würden. Das
Wasser darin soll dem Kaiser für Reinigungszwecke dienen. Endlich
fällt uns noch ein niedriger, massiver Glockenturm in die Augen.
Auf meine Frage was derselbe zu bedeuten habe, erklärte man mir,
die Glocke würde geschlagen, sobald der Kaiser zum Himmelstempel
— 267 —
oder -Altare aufbreche, damit dort bei der Ankunft Seiner Majestät
alles rechtzeitig in Ordnung sei ; jede Unordnung werde strengstens
bestraft. Die ganze Palastanlage ist mit einem doppelten Wasser-
graben umgeben, in dem aber meistens das Wasser fehlt. Ebenso
tragen zwei Umfassungsmauern mit bei zur Sicherheit des kaiser-
lichen Herrschers. Die äußerste Umfassungsmauer bildet nach Aus-
sen hin eine überdachte Säulengallerie, worin sich die Leibwache
des Kaisers lagert; dieselbe ist geschützt gegen die Unbilden der
Witterung, hat aber keinerlei Zugang in die inneren Höfe der Paläste.
Dem drei höchsten Herrschern opfert der Herrscher des ge-
waltigen Chinesenreiches dreimal im Jahre im Laufe dreier Monate.
Die übrige Zeit ist der Tempel einsam und verlassen, weil es sonst
keinem Sterblichen erlaubt ist, dort seine Andacht zu verrichten.
Jetzt allerdings, da die Ausländer freien Zutritt haben, geht kaum
ein Tag vorüber, der keine Besucher brächte, und immer mehr
lichtet sich das geheimnisvolle Dunkel, das ihn bisheran umhüllte.
Und der moderne Eliaswagen, welcher unbarmherzig die Umfassungs-
mauer der Chinesenstadt durchschnitten und hart am Tempelhain
vorbeieilt, hat schon längst das tiefe Schweigen gestört, welches
bisheran Tempel und Hain umfangen hielt.
Pekinger Tagebuch.
Peking, 24. Februar 1902.
Ja i vii das glückliche Zeiten für die christliche Religion,
j als der Franziskanerpater Johannes von Monte Corvino
f%& dem Palaste des großen Khan gegenüber wohnte, und
J^j dw Kaiser aus seinen Gemächern die Psalmen singenden
Knaben mit Wohlgefallen anhörte. Seit der Zeit sind sechshundert
Jahre verflossen, und man sollte glauben, daß sei Zeit genug ge-
wesen, um das große Chinesenreich für den Glauben zu gewinnen.
Aber maen-maen-ti heißt die Devise der Chinesen, auch beim Christ-
werden : Eile mit Weile. Selbst die glorreichen Zeiten eines Pater
Ricci und Adam Schall waren nur vorübergehend. Seit Jahrhunder-
ten hat kein Herrscher des himmlischen Reiches den Missionaren
den Ein- und Zutritt in seinen Palast mehr erlaubt. Wohl waren
die Lazaristen-Patres immer die näohsten Nachbaren der kaiserlichen
Herrlichkeit, aber ein gegenseitiges „Le-uang", wie die Chinesen
sagen, ein Kommen und Gehen gab es nicht.
— 268 —
Recht bedeutsam scheint es daher für die christliche Religion
zu sein, daß der chinesische Kaiser und die Kaiserinwitwe den
Bischof Favier, sowie dessen Coadjutor Msgr. Jardin gestern zu sich
einladen ließen. Die Herren ließen sich das natürlich nicht zwei-
mal sagen und wurden dann mit großen Pomp in der verbotenen
Stadt empfangen. Dort erhielten sie Privat-Audienz, wobei außer
dem Kaiser und der Kaiserinwitwe nur der Prinz Ching gegenwärtig
war. Worüber gesprochen wurde, scheint noch Geheimnis zu sein;
jedenfalls sind aber die beiden Bischöfe mit der Audienz sehr zu-
frieden. Das Wort führte die Kaiserinwitwe, der Kaiser beobachtete
Stillschweigen ; nur soll er hier und da freundlich zugenickt haben.
Die alte Dame aber habe hoch und heilig versichert, es soUten nie
mehr derartige Boxerunruhen vorkommen, die Aufrechthaltung des
Friedens werde ihr erstes und ernstetes Bestreben sein. —
In dem Speise- und Erholuugsaale der Lazaristen duftet und
blüht es gegenwärtig, als ob voller Frühling dort eingezogen sei.
Und das ist er denn auch in Gestalt einer ganzen Reihe kostbarer
Blumen in nicht minder kostbaren Töpfen. Sie sind das Geschenk
des kaiserlichen Obereunuchen Li. Als s. Z. die verbündeten Trup-
pen Peking genommen hatten, nahte für die kaiserlichen Kammer-
damen eine schwere Zeit heran, und die meisten flohen in die Berge.
Dort war es natürlich nicht so gemütlich, wie daheim; da hieß es,
Entbehrungen durchmachen und Buße tun. Als nun schließlich
durch Vermittlung des Bischofs Favier die Sache dermaßen geregelt
wurde, daß die Damen wieder nach Peking zuiückkehren konnten,
ohne daß ihnen Leid geschah und Unehre angetan wurde, war
Niemand glücklicher und dankbarer, als sie und der verantwortliche
Li. Diese Dankbarkeit hat der Obereunuche nun in blühenden
und duftenden Blumen offenbart, gewiß ein passendes Neujahrsge-
sehenk in Bezug auf die kaiserlichen Schönheiten, die der Sturm
nicht entblättert und geknickt hat.
Peking, 12. März 1902.
„Papa weshalb feierst denn nicht öfter Geburtstag im Jahre*,
meinte der schlaue Willi, da er sich eben die Namenstagstorte
schmecken ließ. „Nur zufrieden Willi, die Mama ist noch da und
der Onkel, und die feiern alle noch Geburtstag", tröstete der Papa
den Kleinen. — Unsere Soldaten aus den verschiedenen Bundes-
staaten hier in Peking bilden auch eine „ Staatsfamilie u und da ist
denn auch jedesmal eine Freude, wenn ein Geburtstag gefeiert
— 269 —
werden kann. Ist das Leben in China ja doch einförmig und ein-
tönig genug, und andere Abwechslungen als die man sich selbst
bereitet, gibt es nicht.
Nachdem im Januar der Geburtstag Seiner Majestät des deut-
schen Kaisers gefeiert war, kam im Februar der Geburtstag des
Königs von Würtemberg an die Reihe, und gestern war das alte
Klubgebäude gedrängt voll zur Feier des Geburtstages des Prinz-
regenten Luitpolt von Bayern. Nicht nur Deutsche waren es, die
sich dort eingefunden, sondern es waren auch verschiedene andere
Nationen vertreten, und selbst Japaner und Chinesen fehlten nicht.
Alle wollten den Aufführungen beiwohnen, welche unsere Soldaten
machten. Die haben denn auch ihr Bestmöglichstes geleistet sowohl
in Gesang und Musik, als in allerhand Vorstellungen. Ein mehr-
stimmiger Gesangchor ^trug einige Stücke vor, die jedenfalls auch
für musikalische Ohren einen Hochgenuß bildeten. Auf der Bühne
war ein Turnreck errichtet, an dem eine Reihe kräftiger junger
Leute ihre exakten Übungen machten, die ihnen viel verdientes
Händeklatschen und Bravorufe einbrachten. Besonderes Vergnügen
erweckte ein Schnellzeichner, der in fabelhafter Geschwindigkeit mit
einem Stücke Kreide allerhand Bilder auf der Tafel hervorzauberte,
vom Schulbuben angefangen bis zum Fürsten Bismark; daß es
dessen Konterfei sein sollte, erkannte man sofort, selbst wenn es
der Künstler nicht gesagt hätte. Auch verstand er es, aus ein und
demselben Bilde sich einen Musketir, Gefreiten, Sergeanten und
Leutnant herausmausern zu lassen, indem sich der Umfang immer
mehr erweiterte, der Bart größere Dimensionen annahm und die
Abzeichen sich mehrten. Das Bild des Prinzregenten von Bayern
bildete den Abschluß.
Nachdem der Gesangchor durch die zu Herzen sprechenden
Melodien des deutschen Bundesliedes die Gemüter in feierliche
Stimmung versetzt, brachten die schmetternden Töne des Armee-
marsches 113 Begeisterung und Leben in die Versammlung. Im
Nu versetzte uns dann die Bühne auf afrikanischen Boden mit
tropischer Fauna und Flora. Aber auch die Neger kamen bald
zum Vorschein mit glänzenden Ringen in Nasen und Ohren. Die
zwei tapferen „Sachsen" mußten sich wacker mit den schwarzen
Kerlen herumbalgen, um nicht von ihnen verspeist zu werden ; aber
„sie fürchteten sich nicht". Ehemaliger Unteroffizier Kutschke hatte
sich allerdings eine schwarze Hälfte angefreundet, Lula genannt,
die aber wohl am liebsten ihren Geliebten als Braten aufgegessen
hätte. Daß es nicht so weit kam, konnte der untreue Kutschke
— 270 —
Heiner treuen Karoline verdanken, die ihm sogar bis nach Kamerun
gefolgt war. Und daran hatte sie wohl getan, denn auch die schwarze
Lula hatte schon längst einen Mann gehabt und jeder kam nun
wieder an sein rechtmäßiges Eigentum. — Beim Anblick der Kame-
runer Schutztruppe wird wohl mancher Musketir gedacht haben:
„Ne in Peking ist's doch noch scheener, als neben diesen schwär-
zen Deibels im heeßen Afrika stehen zu müssen. u
In No. 5 trat ein musikalischer Clown auf. Zwei Spekulanten
hatten in weiser Berechnung der L;ge leere Flaschen zu einer
musikalischen Tonleiter aufgehängt, denen sie mit wundervollem
Geschick allerhand Lieder entklimperten. Ein angenehmes Geschäft
muß das aber doch nicht sein, und viele Sportein wirft es jedenfalls
auch nicht ab. Glücklicher, wer die vollen Flaschen leeren kann
und selbst dabei die Lieder singt. Jedenfalls ist Niemanden anzu-
raten, in Anbetracht der vielen leeren Flaschen, die in Peking, und
anderswo noch mehr, der Füllung harren, als gläserner Musikant
sein Brot zu verdienen.
Das humoristische Turnen muß wohl nicht ganz mit rechten
Dingen hergegangen sein. Da wurden Übungen aufgeführt, die
selbst über das Können der Affen hinausgehen. Oder sollten die
drei Kapriolenmacher gar leibhaftige Affen gewesen sein? Jeden-
falls sahen sie solchen täuschend ähnlich.
„Onkel Braune mit der Posaune* ist ein wahres Genie in
seinem Fach, und er weiß nicht nur mit der Posaune, sondern auch
mit seiner alten Baßgeige zu hantieren. Am Besten stand dem
Künstler aber die verfrorne Schnapsnase, die mehr Natur gewesen
zu sein scheint, während sich der künstliche Vorder-Pegasus zum
größten Vergnügen der ganzen Gesellschaft als Fälschung entpuppte.
Das säuberliche Frauenzimmer in der „Gerichtssitzung" hatte
sich bald die Sympathie Aller erworben, und selbst der strenge
Wächter des Gesetzes blinzelte heimlich zu ihr hinüber.
Doktor Eisenbart vollführte in Schattenbildern seine Wunder-
künste. Da wurden dem armen Kranken ein Dutzend leere Konser-
venbüchsen, lebendes Geflügel, eine Rolle Stricke und dergleichen
Dinge aus dem Magen genommen — und die Körperverhaltnisse
waren mit einem Male wieder in normalem Zustande. — Ein anderes
Schattenbild zeigte einen Nachtfalter, der schon einige Male unter
dem Fenster seiner Geliebten ein Ständchen gebracht; auch hatte
er sich dabei das eine oder andere Mal einen Kuß erschnappt.
Eines guten Abends aber war ihm das Glück weniger hold. Da
er wieder sehnsüchtig unter dem Fenster stand und nach oben
— 271 —
wedelte, überschüttete ihn der Großpapa — nicht mit Wohlwollen,
sondern mit Wohl — gerüchen, und die Glückseligkeit hatte ein
jähes Ende.
Der große Zapfenstreich, von der Bataillonsmusik und den
Spielleuten veranstaltet, bildete einen würdigen Abschluß der Feier.
Jedermann war befriedigt und ging mit dem Bewußtsein nach Hause,
einen schönen Abend verlebt zu haben. Für dieses Jahr sind nun
die Geburtstagsfeierlichkeiten zu Ende. Finis coronat opus, hat der
Veranstalter der gesterigen Festlichkeit wohl gedacht. Er hat denn
auch vollauf den Beweis geliefert, daß bestes Können und ener-
gisches Wollen sehr viel zu leisten vermögen, mögen die Mittel
auch beschränkt, und die Zeit knapp bemessen sein.
Peking, 21. März 1902.
Habe es mir gedacht: Venenum in cauda. Kommt da der
Frühlingsanfang, der 21. März, heran und macht einen ganz gewal-
tigen weißen Strich durch all die grünen Hoffnungspläne der Aus-
flügler und Bauunternehmer. Schneit es da vom Himmel herunter
mit einem Eifer, als ob es gelte, die Welt zu begraben. Das wäre
ein nettes Weihnachtswetter gewesen und hätte einen das Fest noch
heimatlicher feiern lassen ; denn China im Schnee sieht der Heimat
doch weit ähnlicher, als China im Klee.
Die Chinesen feierten Frühlingsanfang bereits vor anderthalb
Monaten und damals war es auch Frühlingswetter ; vor einem halben
Monat wurde „Aufwachen der Insekten" gefeiert (King-tse) und
einige Fliegen haben sich denn in der Tat auch schon aus ihrem
Verstecke hervorgewagt. Gestern war „Mitte Frühling" (Tsch'un-fin)
und der behängt nun die schon knospenden Bäume schwer mit
weißen Schneeblüten.
Gebaut wurde in der letzten Zeit mit allen Kräften. Dem
Froste wurde getrotzt, indem man eine gute Portion Salzwasser
unter den Mörtel mengte und das Mauerwerk während der Nacht
mit Matten behing. Heute wohnt Ruhe unter allen Gipfeln ; unsere
Kulis schlafen in süßem Frieden und sammeln Kräfte für den mor-
gigen Tag, wenn's besser Wetter wird. Wo man einen Ofen hat,
setzt man sich dahinter und betrachtet die Schneeflocken, die vor
den Fenstern herumtanzen, und kann elegische Betrachtungen an-
stellen, falls Zeit und Lust dazu vorhanden sind.
Verstummt ist heute auch das freche Krächzen der Raben und
das Schnalzen der Elstern, die in den letzten Wochen ebenfalls
— 272 —
eine gewaltige Bautätigkeit entwickelt hattpn. Aber wohl kein
Heim wird gegründet, ohne daß es nicht zu Streitigkeiten käme
um das rechtmäßige Besitztum oder um die „bessere Hälfte". Heut«
machen sie sich das wenige Futter streitig, das sie mit vieler Mühe
unter dem Schnee hervorkratzen.
Langsam gravitätisch schreitet da durch die verschneiten
Straßen noch eine Karawane Kamele, schwer mit Kalk beladen.
Mit jedem Schritt mehrt sich ihre Last; ein ganzer Hügel von
Schnee hat sich auf ihrem Rücken abgelagert. Aber unverdrossen
folgt das eine Tier dem andern und das erste dem Führer. In
Peking fange ich an zu begreifen, daß sich der Araber auch in sein
Kamel verlieben kann. Es sind das so recht die Trappisten der
Tierwelt. Schweigsam, immer gesammelt, arbeitsam, geduldig, arm
in Nahrung und Kleidung, dienen sie ihrem Herrn.
Peking, den 30. April 1902.
Also der Kaiser und die Kaiserinwitwe haben trotz Gegen-
vorstellung des Prinzen Ching doch die kostspielige Reise zu den
Ahnengräbern unternommen. Und sie haben sich dort länger auf-
gehalten, als anfangs im Reiseprogramm vorgesehen zu sein scheint.
Gestern nachmittag gegen drei Uhr zogen die Majestäten endlich
durch das Chien-men wieder in den Palast ein. Schon morgens
um neun Uhr hatten sich Schaulustige auf der Mauer eingefunden,
und ihre Anzahl wuchs mit jeder Stunde. Chinesen aber, welche
sich unter dieselben schmuggeln wollten, wurden von wachehalten-
den Soldaten unbarmherzig hinuntergetrieben, falls sie sich nicht als
Diener von Ausländern legitimieren konnten.
Daß so eine Kaiserreise riesig viel Geld kostet, begreift jeder,
der die langen Reihen von Wagen und Packträgern zählt, die dem
Zuge vorangehen und nachfolgen. Schon um neun Uhr kamen die
ersten Wagen heran und nachmittags um vier Uhr waren die letzten
noch nicht eingezogen. Jedenfalls waren mehr als vier- oder fünf-
hundert schwere Karren zu zählen, beladen mit Proviant, Möbeln,
Zelten, Töpfen und allem Möglichen, was unterwegs nicht zu finden
ist. Ja, es scheint fast, als wenn der Kaiser sich auch seinen
Blumengarten nachtragen ließ. Künstliche und natürliche Blumen
wurden von Kulis in langen Reihen zurückgebracht. Alle möglichen
Nippsachen, Blumenvasen, Uhren und dergleichen Dinge schleppten
viele Träger schwer beladen daher. Doch ihr verstaubtes, mit Schweiß
überronnenes Gesicht wurde von einem roten Hute überschattet,
— 273 —
und das war Ehre genug und versüßte die Arbeit. Die meisten
hatten überdies noch einen gelben Lappen als Fahne irgend-
wo befestigt: an den Wagen sah man solche Fahnen in der Regel
dem Maultiere über dem Rücken (will ich sagen) flattern, und
bezeichneten damit den Wagen und die Last als kaiserliches Ei-
gentum. Freilich sahen die Frachtwagen und auch die elenden
Karrentiere nichts weniger als kaiserlich aus.
Der Zug bot ein ungeordnetes Durcheinander: Frachtwagen,
Packträger, Salonwagen, Sänftenträger, Reiter, alles folgte in buntem
Aufeinander. Die Salonwagen haben eigene Farbe und Form. Das
Gelb ist just so wie die Farbe unserer Postwagen in Deutschland.
Was die Konstruktion aber angeht, so sind die Räder nicht in der
Mitte des Wagenkastens angebracht, sondern am äußern Ende, was
für den Insassen angenehm, für das Tier aber weniger bequem sein
dürfte. Nun, eine solche Bequemlichkeit darf sich in China übri-
gens auch nur der Kaiser erlauben oder seine Frauen, die wohl in
den gelben Wagen fahren mochten.
Mancher von den Europäern hatte sich längst hungrig gesehen,
und hätte sich da oben auf der Mauer eine kleine Kantine etabliert,
so würde sie heute sicher glänzende Geschäfte gemacht habe. Ich
glaube, bei einer späteren Gelegenheit wird man es sich zu Nutzen
machen. Als nun gegen halb drei Uhr die Kavallerie unter Musik
durch die Tore zog, suchte sich jedermann einen geeigneten Platz
zu ergattern, um den „Himmelssohn" wenigstens einmal im Leben
von Angesicht zu sehen. Das Fatale dabei war nur, daß man so
recht nicht wußte, in welcher Pagode er seine Andacht verrichten
werde. Eine Pagode liegt rechts vom Wege, die andere links,
beide aber waren vorbereitet, und die Wege dorthin waren mit
gelbem* Sand bestreut. Auch die Bonzen schienen im Zweifel dar-
über zu sein, welchem Gott heute die Ehre des kaiserlichen Besuches
zu Teil werden sollte, dem Kriegsgotte Kuendi links oder der
Göttin Pussa rechts.
Als dann die Kavallerie vorbeigeritten — gegen hundert au-
stralische Pferde und eine Anzahl Ponies — kam die Infanterie
herangezogen in drei verschiedenen Abteilungen, jede zu ungefähr
fünfhundert Mann. Die Kerls marschierten gar nicht so übel; daß
einige die Beine etwas krumm hielten, mußte man ihnen verzeihen,
denn sie waren jedenfalls müde. Endlich ließ sich denn eine gelbe
Sänfte erblicken, und richtig, sie wurde nach links getragen direkt
vor die Pagode des Kriegsgottes. Nachdem sie niedergesetzt und
ein wenig nach vorne* aufgekippt war, stieg der Kaiser heraus und
H. Pieper, „Neue Bündel". 18
— 274 —
ging höhenden Schrittes in die Pagode. Was er dort machte,
konnte man naturlich nicht von oben sehen. Lange blieb er nicht
darin, und wie er gekommen, stieg er auch wieder in die Sänfte,
ohne sich umzusehen oder den Europäern oben auf der Mauer einen
Blick zu gönnen.
Wie sich die Zeiten andern ! Wo sich einstens die gewaltigen
Tortürme der Chinesen erhoben, gehen jetzt die Ausländer spazieren
und sehen, wie von einem Amphitheater, auf den Innentorhof hin-
unter. Das Schauspiel ist der „HimmelsHohn" und die chinesi-
sche Virago, die noch vor wenigen Jahren kein ungeweihter
schauen durfte.
Als die Kaisersänfte fortgetragen war, erschien bald darauf die
zweite Sänfte; darin mußte die Kaiserin witwe sitzen. Mancher
glaubte», die Kaiserin werde doch sicher der sanften Göttin Pussa
einen Besuch machen und eilte schnell auf die andere Seite der
Mauer. Aber er wurde getäuscht; auch diese Sänfte wurde zur
Pagode des Kriegsgottes getragen und dort niedergesetzt. Der
Deckel dieser Sänfte war mit Pfauenfedern reich verziert, während
über der Kaisersänfte nur ein maskenartiges Seidengewebe hing.
Im Gegensatz zum Kaiser entstieg die Kaiserinwitwe ihrem Trag-
stuhle, ohne daß dieser gekippt wurde.
Mit der Andacht hatte es die alte Dame — die übrigens gar
nicht so alt ist und aussieht — vor der Hand noch nicht so eilig.
Sie schaute sich erst einmal ganz gemütlich die Ausländer an, die
auf der Mauer lehnten. Diese hingegen hefteten ihre Blicke auf die
hohe Frau, die so liebenswürdig war, ihnen recht viele Muße
hierfür zu schenken. Dann ging sie in den Tempel. Als sie nach
einer Weile aus demselben heraustrat, begann das gegenseitige
Angucken von Neuem. Mancher Fremdling war verlegen,* wie er
der Kaiserin einen Ausdruck der Höflichkeit bezeugen sollte und
zog ehrfurchtsvoll seinen Hut. Für den Moment war es feierlich
stille, und die hohe Dame ging in ihrer Freundlichkeit so weit,
einige Worte hinauf zu sprechen, freundlich zu nicken und zu
winken. Wie es schien, galt das Nicken und Winken hauptsächlich
den anwesenden Damen.
Hierauf ging es wieder in die Sänfte hinein und weiter hinter
die Doppelmauern der verbotenen Stadt. Die Glücklichen, die den
rechten Platz gewählt hatten, waren vollauf befriedigt. Sic hatten
den Sohn des Himmels gesehen, die Kaiserinwitwe mit Muße
betrachtet und waren erfreut über das bezeigte Wohlwollen. Obwohl
nun ja dem gnädigen Kopfnicken alle Achtung zu schenken und
— 275 —
dasselbe hoch genug zu schätzen ist, meine ich doch, daß man sich
darob nicht allzu sehr entzücken lassen darf. Wir wünschen nur
das Wohlwollen, das die hohe Dame in ihrem Äußern den Auslän-
dern gegenüber bekundet, auch in ihr Herz hinein. Wenn es schon
darin ist, dann um so besser.
Peking, den 15. Mai. 1902.
„Num quid confitebitur tibi pulvis ?" Soll der Staub dich
denn preisen ? Hier in Peking hätte der Psalmist so fragen können,
ohne an seinen eigenen Staub zu denken. Statt der Lerchen er-
hebt sich hier der Staub zum Himmel und zwar in einer Mächtig-
keit, daß er bisweilen die Sonne verdunkelt und den Tag zur Nacht
umwandelt. Gestern nachmittag um drei Uhr wenigstens haben
wohl die meisten, die im Zimmer zu tun hatten, Lampen angezün-
det, denn ohne diese konnte man nicht mehr arbeiten. Viele
Chinesen bekamen heillosen Schrecken und meinten, der Drache
durchziehe die Luft. Um seinen Zorn zu besänftigen, eilten sie zur
Pagode und verbrannten Weihrauch. Eine Christenfamilie, die ich
zufällig besuchte, fand ich auf den Knieen liegend und gemein-
schaftlich betend. Von den dienenden Boys baten einige, nach
Hause gehen zu dürfen, um die Mutter zu trösten oder den Vater
zu suchen. Nach Verlauf von einer Stunde klärte sich der Himmel
wieder auf. Ein kleines Gewitter, das eingesetzt hatte, spendete
etwas Regen, der die Luft vom Staube reinigte.
Heute früh um neun Uhr war in der französischen Kathedrale
feierlicher Seelengottesdienst für die in Westindien Verunglückten.
Außer fünf Bischöfen und einer Anzahl Priester nahmen auch die
Vertreter fast sämtlicher Nationen daran Teil; das große Gottes-
haus war bis auf den letzten Platz von Chinesen gefüllt. Während
ein älterer Pater die Requiems-Messe zelebrierte, hielt Bischof Favier
vor einer mächtigen Tuba, welche mitten in der Kirche aufgestellt
war, das feierliche Liberal
Peking, 4. Aug. 1902.
Bekanntlich sind zur Zeit der Wirren in Peking die vier
Hauptkirchen daselbst sämtlich zerstört worden, mit Ausnahme der
Pei-t'ang (Nordkirche, Kathedrale), welch letztere aber auch arg
beschädigt wurde. Indes ist dieselbe sofort nach dem Einzüge der
fremden Truppen wieder hergestellt worden ; die beiden Türme aber
18*
— 276 —
wurden noeh um ein bedeutendos höher aufgeführt, als Hie früher
gewesen. Allmählich fängt man jetzt auch an, die anderen Kirchen
wieder aufzubauen. Zunächst werden einige Wohnungen für den
bauleitenden Priester und seine Leute errichtet, und ein Lokal dient
zugleich als vorläufige Kirche. — Bei den Aufräumungsarbeiten in
der Ostkirche (Tung-fang) wurden kürzlich auch zwei Brunnen, die
vollständig verschüttet waren, gereinigt. Alles Mögliche hatten die
Boxer hineingeworfen, zumeist schwere Ornamentsteine und Stücke
einer zertrümmerten Kommunionbank aus Marmor. Unter diesem
Schutt wurden aus einem Brunen fünf, aus dem anderen sechs Lei-
chen hervorgeholt, welche noch verhältnismäßig gut erhalten waren.
Die Armen, haben jedenfalls ein schnelles Ende gefunden. Abgesehen
von dem Brunnenwasser mußte ein Stein von oben, der ihren Kopf
traf, genügen, um den sofortigen Tod herbeizuführen. Im ganzen
sind in der Ostkirche gegen 400 Menschen ums Leben gekommen,
eine Anzahl Waisenkinder und Christen aus der Umgegend ; ferner
vier einheimische Schwestern und ein französischer Priester namens
Garriques. Wenn die hohen Trümmermassen der zerstörten Kirche
aufgeräumt werden, kommen ohne Zweifel noch viele Leichen
zum Vorschein, die unter denselben verschüttet sind. Von der
Kirche stehen nur mehr die äußeren Fundamente. Die Posta-
mente der Säulen haben die Boxer bis tief in den Boden aufge-
wühlt. Man vermutete wohl Silber darunter oder — Kinder-
augen (aus denen mich Boxerbehauptung die Missionare Arznei
machen sollten).
Peking, 10. Febr. 1903.
Das Gesandtschaftsviertel ist um ein neues Gebäude vermehrt
worden. Diesmal ist es ein kirchliches. Ein schmuckes Gotteshaus
in gotischem Stil erhebt sich dem belgischen Konsulate gegenüber,
ungefähr in der Mitte der Gesandtschaftsstraße. Zwei reich verzierte
Türme schmücken die Front; das Langschiff ist allerdings ziemlich
eintönig und schmucklos gehalten. Das Mauerwerk ist aus kaiser-
lichen Ziegeln aufgeführt; diese Ziegel übertreffen die gewöhnlichen
um das zehnfache an Gewicht und sind auch eigens fest gebrannt.
Säulen und Gewölbe der Kirche sind aus Holz aufgeführt, wie es
auch bei der bischöflichen Kathedrale (Peit'ang) der Fall ist. Abge-
sehen von der mangelnden Festigkeit macht eine solche Bauart auch
keinen monumentalen Eindruck; eine Feuersbrunst aber kann in
derartigen Kirchen in wenigen Stunden die größten Verheerungen
— 277 —
anrichten. Baumeister der Kirche war der greise Bischof Msgr,
Favier, der auch die Peit'ang Kathedrale erbaut und dieselbe nach
den Boxerunruhen hat wieder herstellen lassen. Fast täglich kam
der alte Herr in einem chinesischen Karren, bespannt mit einem
trefflichen Maultier, von seiner dreiviertel Stunden entfernten Resi-
denz auf den Bauplatz gefahren, traf Anordnungen, gab seine Anwei-
sungen und fuhr dann zur Peit'ang zurück.
Die neue Kirche ist ausschließlich für die Ausländer bestimmt,
besonders auch für das katholische Militär. Der Gottesdienst für
unsere deutschen Truppen, deren Lager in unmittelbarer Nähe der
Kirche sich befindet, wird voraussichtlich dort ebenfalls stattfinden.
Zu wünschen wäre nur, daß die französichen Soldaten im Kirchen-
besuche mit einem besseren Beispiel vorangingen, als es bisheran
geschehen ist. Der Drill bei unseren deutschen Truppen zeigt sich
nich nur im Dienste als kaiserlicher Soldat, sondern auch im Dienste,
den der Soldat seinem höchsten Feldherrn, dem allmächtigen Gott
gegenüber schuldig ist. Unsere Truppen werden zum pflichtmäßigen
Gottesdienste beordert. Die Franzosen aber stellen es in das Belieben
des einzelnen, ob er an Sonn- und Festtagen dem Gottesdienste
beiwohnen will oder nicht. Infolge davon ist der offizielle Gottes-
dienst so gut wie von Truppen leer.
Von Peking nach Puoly.
as soll aber ein glorreicher Einzug werden, dachte ich mir
nicht ohne Hochgefühl, als ich von Peking fuhr, in Be-
Jj* Leitung einer chinesischen „ Staatskarosse ai ), die ich für
g^ das halbe Geld gekauft, und einen großen Gaul, den ich
noch in letzter Stunde im Preise von 35 Dollar erstanden hatte.
Doch mu-tsä-gin, tch'öng-tsä-t'ien: „ Der Mensch macht seine Pläne,
das Gelingen hängt vom Himmel ab." Die Nemesis meines stolzen
Hochgefühls sollte nicht lange ausbleiben. Meine liebe „Alice",
die hochbeinige Stute hatte trotz ihres gräflichen Namens elende
Tage verlebt bei ihrem früheren Herrn, davon gaben die hervor-
stehenden Hüftenknochen und die durchschimmernden Rippen ein
beredtes Zeugnis. Aber sie sollte es bei mir besser haben; war
l ) In Peking ist im Allgemeinen alles teurer als bei uns in Schantung.
Nur die Pekinger- Wägen (Vjao-t8che) sind bedeutend billiger. Da ich eines
solehen für die Mission bedurfte, benutzte ich die Gelegenheit, dort einen zu kaufen.
- 278 —
sie doch noch sehr jung, erst neun Jahre alt, hatte man mir gesagt,
und da läßt sich in Kürze das fehlende Fleisch und Fett anfuttern.
Zu meinem größten Leidwesen aber mußte ich erfahren, daß Alice
bereits eine recht alte Schachtel sei, mit der ich in Schantung wahr-
lich keinen Staat mehr machen konnte. Es schien mir somit das
Beste, sie bei Zeiten zu verschachern, nicht einem Juden, sondern
einem Chinesen, der mir 38 Dollar darfür zahlte. Ich war wieder
im Besitze meines Geldes, den Profit von drei Dollar aber hatte
mir das Tier bereits an Futter verfressen. Wieder stand ich da
allein mit meinem Karren, hegte aber noch immer die stille Hoffnung
mit der Zeit auch das notwendige Gespann zu bekommen.
In der Tat sah ich mich nach wenigen Tagen im Besitze
eines herrlichen Pferdes, das mir freilich nichts gekostet, aber —
auch nicht gehörte. Es war ein Geschenk des Herrn Generals an
den Bischof von Anzer. Aber ich wollte doch die Freude haben
damit einen feierlichen Einzug zu halten in Puoly. Zudem konnte
ich für billiges Geld ein starkes Maultier bekommen; (Unser Bru-
der Öconom hatte schon längst Verlangen nach solchem) das sollte
das Gespann bilden vor meinem „Staats wagen u . Alles war klug
durchdacht und fein berechnet nur t'ien pu gung: „Der Himmel
wollte es anders haben". Schon öfter waren in den letzten Tagen
Regengüsse niedergegangen und noch immer machte der Himmel
kein freundliches Gesicht. Tags vorher als ich eben aufbrechen
wollte, erhielt ich Nachricht, daß die Wege umpassierbar seien, an
ein Durchkommen mit dem Karren sei nicht zu denken.
Also „es wäre so schön gewesen", aber es hatte nicht sollen
sein. Ich mußte mich für eine Barke entscheiden um auf derselben
meine Reise zu Wasser zu machen von Tient.rin nach Lintsing.
Von dort hatte ich dann noch einen Landweg von 14 Stunden, der
unter günstigen Verhältnissen in einem Tage zurückgelegt werden
konnte. Schon war ein Schiff gemietet zum Transport der Waren,
die ich für unsere Waisenhäuser gekauft hatte. Als alles verladen
war, wurde dann auch der Wagen hinaufgezogen ; die Räder muß-
ten ins Innere des Schiffes verladen werden, der Wagenkasten aber
paradierte auf dem Vordersteven, während am Ruder die deutsehe
Flagge wehte. Ich selber mußte zwischen Kisten und Kasten
mir ein Plätzchen suchen, mein nächster Nachbar waren die
Wagenräder.
Meinen Mafu schickte ich auf dem Landwege fort. Ihm hatte
es das Schicksal zugedacht seinen Einzug zu halten auf dem euro-
päischen Pferde, daß er nach Puoly zu bringen den Auftrag bekam.
— 279 —
Der Sicherheit halber ließ ich noch einen anderen Chinesen mitgehen,
der ein Maultier führte, das anfangs bestimmt war, meinen Wagen
zu ziehen. Hoch und heilig hatte ich ihm auf die Seele gebunden
die Tiere unterwegs gut zu pflegen und sie wohlbehalten in die
Mission zu führen. Mein Boy und ich stiegen dann auf das Schiff;
er hockte im Wagenkasten, ich saß auf einer Glaskiste, und weil
man sich nicht füglich den ganzen Tag fixieren kann, hieß ich ihm
mir den Rücken zuzuwenden. Ehe ich dem Leser verrate wie
lange ich da gesessen, will ich ihn zunächst auf das Schiff zur
Besichtigung führen, damit er sich den Genuß vorstellen kann,
wenn so eine Fahrt recht lange dauert.
Unser Schiff ist ein „Dreibretter-Kasten" (Saen-pan drei Bretter)
wie alle Chinesenschiffe, genau gearbeitet nach dem Typus, den die
Zopfträger schon vor vielen hundert Jahren kannten. Es dient zum Wa-
rentransport und deshalb fehlen denn auch alle Bequemlichkeitseinrich-
tungen, wie man sie wohl auf Hausbooten trifft, ja selbst ein Stuhl
oder Tisch ist nicht zu finden. Als der Kapitän mich einlud sein „Heim
zu besichtigen, pries er es als ein Ausbund von Reinlichkeit und zeigte
dabei auf die mit buntem Papier verklebten Fensterlöcher. Daß
das Schiff aber wimmelte von einer Unzahl Kakerlaken, Wanzen
und sonstigem Kleinvieh, davon sagte er wohlweißlich nichts. Zum
Glück blieben mir die Wanzen ferne, die Schaben aber benagen
alles Eßbare, was sie in der Nacht erhaschen können. Interessanter
als das Schiff sind seine Mannschaften. Der Kapitän ist eine sehnige
Gestalt mit Boxergesicht und seinerzeit auch zweifelsohne ein solcher
gewesen. Er leugnet das freilich entschieden ab, obwohl ihm zur
Zeit der Wirren das Haus verbrannt worden sei. Jetzt freilich
lebt er ganz seinem Geschäfte und man muß gestehen, daß er kein
Fremdling darin ist. Man braucht ihn nur auf seinem dreibeinigen
Stuhle sitzen zu sehen, wie er die eine Hand am Steuer hält, und
mit der andern das Segel schwenkt oder die Treckleine ordnet.
Das Ende dieser Leine, deren Kraftpunkt oben am Mäste liegt, ist
am Steuerarm befestigt »und kann leicht verlängert oder verkürzt
werden, je nachdem die Umstände es erfordern. Seine bessere Hälfte
führt unser Kapitän nicht bei sich im Gegensatze zu den meisten
andern Schiffern, denen die Frau das Essen machen muß. Aber
seine zwei Söhne bilden ein Teil der Besatzung ; der ältere ist ein
stämmiger Bursche, der jüngere aber erst ein Knirps von neun
Jahren der noch im Adamskostüm herumläuft. Aber er kann schon
sprechen und arbeiten wie ein Alter und macht seinem kleinen
Namen lao-höl „Altes-Kind" alle Ehre. Kürzlich, als ich mich auf
— 280 —
den Rand des Schiffes setzte und meine Füße auf eine anliegende
Barke stützte, bat er mich entsetzt, ich solle doch schnell aufste-
hen und anderswo Platz nehmen. Auf zwei Schiffen halb sitzen
verderbe den Handel (luo-liao-mä-mä ;) das Glück falle alsdann ins
Wasser. Endlich sind noch zwei Kuli vom Kapitän angagiert, die
als Zieher fungieren, sich aber auf die faule Haut legen, wenn
günstiger Wind bläst. Wir sollten den eigentlich alle Tage haben,
sonst hat es seine Richtigkeit nicht mit dem Motto, das unser Schiff
trägt; zou tnny, schöng fung: „Sobald die Anker gelichtet, weht
günstiger Wind."
Als ich mit meinem Boy eingestiegen, wurden denn auch so-
fort die Anker gelöst, und stromaufwärts gings durch einen Wald
von Schiffen und Kähnen in allen möglichen Formen und Größen.
Da durchzukommen war bisweilen keine Kleinigkeit, -und wir waren
froh, als wir am andern Morgen freie Bahn hatten. Die Schiffer
pfiffen und schrieen den Wind herbei, aber er blieb aus, und die
Zieher waren gezwungen, sich flott ins Zeug zu legen.
Der Abend des zweiten Tages brachte uns ein wenig Abwechs-
lung. Es war der 15. im 7. chinesischen Monate. An diesem Tage
werden den Seelen der im Wasser ertrunkenen Opfer gebracht. Ein
großes Schiff, festlich beleuchtet, fuhr auf dem Flusse umher. Eine
Anzahl Frauen sangen Gebete zu Ehren Buddhas, und am kreuz-
förmig aufgerichteten Mastbaume waren bunte Laternen aufgehängt.
Hinter diesem Schiff fuhr noch ein kleiner Kahn, worin einige junge
Leute beschäftigt waren, winzige Laternen und ausgehöhlte Wasser-
melonen, worin ein Docht brannte, alle zehn Schritte weit auf das
Wasser zu setzen, damit die irrenden Seelen den rechten Weg zur
Unterwelt fänden.
Der Morgen des dritten Tages hob an mit günstigem Winde.
Leicht glitt das Fahrzeug über die Wasserfläche, und wir legten an die-
sem Tage mehr zurück, als* in den zwei vorhergehenden zusammen.
Die Matrosen aber machten ihrem Namen (Mottenschläfer) alle Ehre.
Den ganzen Tag lang pflegten sie dem dolce far niente, um Kraft zu
sammeln wenn es wieder an die Leine ging. Diese Zeit sollte nur
zu bald kommen. Am anderen Tage wandte sich der Wind nach
Süden und verblieb dort hartnäckig bis ungefähr zu Ende der
Reise. Alles Flöten konnte ihn nicht mehr günstig stimmen. Nur
der Kanal führte ihn zeitweilig hinter die Segel, wenn er nämlich
eine Schwenkung machte in entgegengesetzter Richtung. Solche
Biegungen gibt es allerdings eine ganze Anzahl. Die Länge des
Kanals beträgt deshalb stollenweise das dreifache des Landweges;
— 281 —
einmal zählte ich nur 30 Schritt Abstand von der Wasserfläche,
die wir soeben passiert waren. Schade um das viele Land,
das der Kanal durch seinen Schnörkelweg fortgenonunen, äußerte
ich einem Chinesen gegenüber. Zudem müssen die Schiffe den dop-
pelten und dreifachen Weg machen. Der Chinese belehrte mich
des Besseren. Der Kanal ist so angelegt, sagte er, damit er im
Stande ist, die oft plötzlich eintretenden Wassermassen aufzunehmen.
In einem verkürzten Bette müßte das Wasser über die Ufer treten
und würde dann die Ernte meilenweit vernichten.
Als wir einige Tage gefahren waren, sollte ich Qrfahren, daß
der Chinese Recht gehabt. Das Wasser stieg in wenigen Stunden
um 2 — 3 Meter höher, verschlang die an den Ufern von armen
Anwohnern bestellte Saat, und drohte stellenweise sich einen Weg
in die Felder zu erbrechen. Besonders gefährdet sind die Knieende
im Laufe des Kanals, wo das Wasser beständig an den Ufern nagt
und unaufhaltsam Erde fortschwemmt. Man hat deshalb an solchen
Stellen vielfach eine Art Bassin angebracht, d. h. ein weiteres Stück
Land, wohl mehrere Morgen groß, ist ausgehoben, und von der Erde
sind Wälle um dasselbe errichtet, sowie eine Art Reserve-Erdhaufen,
um Material zu haben, wenn das Wasser über die Ufer treten sollte.
Diese Reservoirs können natürlich eine große Menge Wasser auf-
nehmen, und man läßt sie voll laufen, wenn ein Dammdurchbruch
zu befürchten ist.
Zum widrigen Winde gesellte sich jetzt auch noch die reißende
Flut des Stromes. An ein Bugsieren des Schiffes war kaum mehr
zu denken, und es war stellenweise fast unmöglich von der Stelle
zu kommen. Um das Elend voll zu machen, setzte auch noch wäh-
rend zwei Tagen Regen ein, und wenns regnet ist bekanntlich der
Chinese nur schwer aus seiner Behausung zu bringen. Unsere
Mottenschläfer schliefen den Schlaf der Gerechten, während der
Regen herniederrieselte. Gerne hätten sie der süßen Ruhe noch
länger gepflegt; aber als der Regen am zweiten Tage etwas nach-
ließ, wurden sie aus ihren Luken getrommelt und ans Seil gespannt.
Eine angenehme Arbeit war es freilich nicht, nur mit dünner Hose
bekleidet, auf dem Kopfe ein großes Ricinusblatt als Schutzdach,
mit durchweichten Schuhen auf dem lockeren und glatten Ufer zu
tappen. Doch als ich den Leuten einige Pfund Schnaps versprach,
legten sie sich mit neuem Mute ins Seil und immer weiter ging es
im Kampfe gegen Wind und Regen und die reißende Flut. Aber
nur schneckenartig langsam bewegte sich das Schiff voran. Ehe
wir eine Haltstelle erreicht, überraschte uns die Dunkelheit'mitten
— 282 —
im freien Felde. Die Zieher weigerten sich weiter zu gehen; sie
konnten, sagten sie, keinen Fuß fassen auf dem nassen Boden, noch
auch den Pfad erspähen. Fast wären sich Kapitän und Mannschaft
in die Ilaare geraten, nur meine Dazwischenkunft und das Verspre-
chen eines guten Trinkgeldes hielt die Leute auseinander, und brachte
sie wieder an die Arbeit. Es war stockfinstere Nacht; noch öfters
wurde Miene gemacht zum Halten; der Kapitän aber brachte dann
immer wieder von neuem in Erinnerung, sie sollten doch bedenken,
daß es keinen Dünger da sei, den sie auf dem Schiffe führen (dann
könne er ja unbesorgt auf dem Felde übernachten), sondern ein Euro-
päer. Und wenn da etwas passieren sollte, hätte er die Verantwortung.
Als wir endlich einen Ankerplatz erreicht hatten, bekamen die
Leute ihren wohlverdienten Schnaps, der sie erwärmte und alle
Müdigkeit vergessen ließ.
Am anderen Morgen war wolkenloser Himmel ; der Wind aber
blies uns mit hartnäckiger Beständigkeit entgegen. Allmählich fing das
Leben auf dem Schiffe doch ungemein langweilig zu werden an. Öfters
stieg ich ans Ufer, um mit den Landleuten ein wenig zu plaudern.
Meinen Kasten konnte ich ruhig fahren lassen. Selbst wenn
selbiger einen weiten Vorsprung gewonnen hatte, war er bald wie-
der eingeholt, da ich die vielen Flußkrümmungen auf direktem
Wege abschnitt. Dem (leide zu Liebe sah ich gestern einen Bauern,
dem bei der Überfahrt über den Fluß ein Ochs hineingefallen war,
dem Tiere nachspringen, um es zu retten. Der Ochs arbeitete sich,
allerdings mit vieler Anstrengung, durch die starke Flut und ge-
langte glücklich ans Ufer. Nicht so der Chinese, der ihn retten
wollte. Auch er hielt sich lange Zeit über Wasser; aber die Flut
riß ihn immer weiter stromabwärts, und ehe er ans Ufer gelangen
konnte, versank er im nassen Grabe.
Die Ernte am Kanal entlang ist sehr verschieden. Der Unter-
schied ist hauptsächlich durch das frühe oder spätere Eintreffen
des Sommerregens bedingt. Stellenweise haben auch die Raupen
besonders der Hirsenernte arg zugesetzt. Man sucht die Tiere zu
fangen und bedient sich dazu blecherner Wannen, welche von einem
Kinde durch die Furchen gezogen werden, während Frauen oder
ältere Leute hinterhergehen und die Halme zu beiden Seiten über
der Wanne mit einem leisen Schlage abschütteln. Die Raupen
fallen in die Wanne und werden am Ende der Furche zertreten,
oder in Löcher geschüttet und vergraben. Auch sah ich, wie man
eine Anzahl schwarzer Käfer in diesen Löchern hielt, welche die
Raupen mit großem Appetite verzehrten.
— 283 —
Die männliche Bevölkerung ist hauptsächlich beschäftigt Boh-
nen zu behackten und Sorgho zu entblättern. Die Blätter, welche
den Maisblättern ähnlich sind, bilden getrocknet ein vorzügliches
Tierfutter besonders für die Ochsen und haben heuartigen Geruch.
Alle Leute mit denen man zusammentrifft, erkundigen sich, wie
es mit der Cholera im Norden stehe. Die Epidemie hat den ganzen
Fluß entlang viele Opfer gefordert. Fast kein einziges Dorf wurde
passiert in dem nicht Totenmusik gemacht worden wäre.
Kein Schiff geht vorüber, das sich nicht beim Laupa (Kapitän)
nach den Verhältnissen in Tien-tsien erkundigte. Die erste Frage ist
naturlich immer, ob die Ausländer dort noch das Regiment führten.
Auf das erfolgte Nein folgt dann stets (falls man mich nicht sieht)
ein Ausruf der Freude. Die zweite Frage betrifft den Schiffszoll.
Und wenn sie dann erfahren müssen, daß nummehr auch unter dem
chinesischen Regimente die Schiffe samt und sonders einen Ge-
werbeschein (tyuen) zu bezahlen haben (was früher nicht der Fall
war), erfolgt ein Ausruf der Enttäuschung. Die Schiffsleute sind im
allgemeinen, wenigstens soweit ich hinter den Brettern in unbewachten
Augenblicken aus ihren gegenseitigen Gesprächen entnehmen konnte,
dem Ausländer nicht besonders hold gesinnt. Es sind daran offen-
bar die neuen Abgaben schuld, welche die „Yang-gin u , wie sie glau-
ben, zuerst erfunden und ihnen aufgebürdet haben. Der Chinese
ist so lange lieb Kind als seine Käsch verschont bleiben ; geht es
diesen aber ans Leben, fühlt er sich im eigenen Leben getroffen,
und er wird störrisch und ungemütlich.
Die Jugend ergötzt sich vielfach am glitzerigen Ufer und macht
Rutschpartien, indem sie sich auf der schiefen Ebene herunterglei-
ten läßt mit einem jedesmaligen Plumps ins Wasser, was den Ben-
geln ein Mords vergnügen zu machen scheint. Die Hosen zerreißen
sie sich nicht dabei, da sie keine andere tragen als jene, die ihnen
die Natur zugeschneidert hat, und die sind ebenso schnell gewaschen
als geflickt. Deshalb lassen sie die alten Großväter, die oben am
Ufer im Schatten der Weiden sitzen, auch ruhig gewehren und er-
innern sich* vielleicht vergangener Zeiten, wo sie's auch so getan.
Alles paßt übrigens zusammen: gelbes Wasser, gelbes Ufer, gelbe
Chinesenknirpse.
An einsamen Stellen des Ufers sonnen sich Schildkröten am
Ufer und fliehen eilig ins nasse Element zurück, wenn ein Schiff her-
annaht. Auch ihnen hat die Natur eine Chinesenhaut zubedacht. Kein
Chinese aber mach „mit ihnen in Verwandtschaft stehen ; a das von
jemanden behaupten, hieße ihn arg fluchen und dann wäre seine
- 284 —
Geduld zu Endo. Vermutlich wird auch die Geduld des verehrten
Lesers bald zu Ende sein. Meine war es schon längst trotz
langjähriger l'bung, doch die Hauptprobe sollte noch kommen :
vencnum in fine.
Wir sollten heute in Lintsing eintreffen, dem Ziele der Fluß-
reise. Ende gut alles gut, dachte ich, denn der Wind war uns
schon in der Frühe freundlich gestimmt und er blies kräftig genug
um das Schiff trotz der reißenden Gegenflut auch ohne Zieher
schnell über das Wasser zu schieben. Das war natürlich eine Wonne
für die Schiffsleute, denn heute konnten sie sich ausruhen von den
Anstrengungen der vorhergehenden Tage und vergnügt schmunzelte
der Laopa im Gedanken daran, daß er heute den Rest seine Sportein
werde einstreichen können, nebst Trinkgeld. Doch die Freude war
noch verfrüht. Als sich die Mottenschläfer gemütlich auf dem Schiffe
ausgestreckt hatten und einige Zeit in Morpheus Armen ruhten,
der Kapitän aber am Steuer saß und nickte, kam mit einem Male
ein Wirbelwind heran, packte in das weite Segel, ein Ruck und
Mast und Segel lagen auf der Seite. Das Schiff wurde dabei derart
auf die Kante gedrückt, daß an einer Seite das Wasser hineinströmte.
Ein Schrei des Entsetzens weckte die Schläfer auf und mit katzen-
artiger Gewandtheit war jeder an seinem Posten. Mit knapper
Not gelang es, das Schiff vor dem völligen Umschlagen zu bewahren,
aber eine Anzahl Kisten standen im Wasser. Es blieb nichts anderes
übrig als uns stromabwärts treiben zu lassen zur nächsten Halt-
stelle. Dort wurde Mast und Segel wieder ausgebessert, die nassen
Kisten ausgepackt und in die Sonne gestellt. Am folgenden Tage
war alles wieder so weit in Ordnung, daß wir die Weiterreise
antreten konnten, doch gelang es auch heute noch nicht unser Ziel
zu erreichen.
Endlich tagte der 3. September ; es nahte die Stunde unserer
Erlösung. Siebenzehn Tage lang hatte die Fahrt gedauert. Wir
langten gegen Mittag in Lintsing an. Am Flußufer aber erwarteten
mich schon Boten aus Puoly und der getreue Max. So nämlich
hatte ich das für den Bischof geschenkte Pferd getauft (weil ich seinen
früheren Namen nicht ermitteln konnte) in Erinnerung an den ver-
ehrten Herrn M. M. und der in Peking verlebten Tage. Noch am
nämlichen Abende machte ich einen Kitt von sechs Stunden und
legte den Rest des Weges (80 li) in der Frühe des folgenden
Tages zurück. Gegen Mittag gelangte ich in Puoly an, begrüßt
von Waisenkindern, Greisen und Christen. Geschah mein Einzug
auch nicht im „ Staats wagen ", so war er nichtsdestoweniger ein
— 285 —
freudenreicher, und selbst der Max schien sich zu freuen, als er sich
von der großen Menge heiterer Gesichter umringt sah. Ihm aller-
dings wurde noch mehr Bewunderung zu teil als mir selber, denn
mich, den Europäer hatte man früher schon oft genug gesehen
nicht aber ein europäisches Pferd. Also, sagte man sich, ist es doch
eine Märe gewesen mit dem mu-ma (hölzernen Pferde) an die man
bisheran geglaubt, und welche die Träger der abgeschlissenen
Riesen -Hufeisen gewesen sein spllen, welche die chinesischen
Kleinschmiede verarbeiten.
Dritter Teil.
Aus dem Missionsleben.
Geächtet und vertrieben.
Tsingtau, 18. Juli 1900.
Freudeerfüllten Herzens begrüßte ich im Spätherbst vorigen
Jahres nach zweijähriger Trennung China wieder, das Land meiner
Wünsche und Hoffnungen. Den Wind, welcher uns auf dem Meere
so scharf aus dem Osten entgegenblies, betrachtete ich als Heimats-
wind. Gern ertrug ich es, als ich die Reise von Tientsin nach Puoly
in einem verdeckten Wagen machen mußte, um nicht erkannt zu
werden ; denn noch schlugen die letzten Wellen der Empörung und
der Verfolgung, welche die Helden „vom großen Messer" angezettelt
hatten. Überall auf dem Wege sprach man von nichts andrem als
von den Sektierern und ihrem Werke. Indes kam ich als „kranke
Frau* oder als „junge Braut* in meinem verhängten Wagen glück-
lich durch. Wohl dauerten die acht Tage der Fahrt gar lange, aber
die freudige Hoffnung, in Bälde unter meinen lieben Pflegebefohlenen
zu weilen, ließ mich alles Ungemach vergessen.
[n Puoly angelangt, war meine erste Tätigkeit, zu trösten, zu
ermutigen, zu helfen so viel in meinen Kräften stand. Die Ruhe
war leidlich hergestellt, und die Christen atmeten erleichtert auf.
Zudem lebten sie der Hoffnung, wieder in den Besitz ihrer geraub-
ten Güter zu gelangen. Sic hofften wochen-, monatelang; fast war
ein Jahr verflossen, aber noch immer hofften sie vergebens. Endlich
kam Mitte Juni vom hochw. P. Provikar die freudige Nachricht, es
sei den Christen voller Schadenersatz zugesichert; die Flüchtlinge
— 287 —
könnten in ihre Heimat zurückkehren; der Vicckönig habe das Beste
versprochen ; in kurzer Zeit werde er einen Abgesandten ( Ui-juen)
schicken und den armen Christen sollte zu ihrem Rechte verholfen
werden. Am 17. Juni d. J. ließ mir P. Petry durch einen Boten
die Nachricht überbringen, es sei ein Abgesandter des Vicekönigs
nach Z'aufu (wozu das Dekanat Puoly politisch gehört) gekommen ;
ich möchte dorthin gehen und mit ihm verhandeln. Frühmorgens
am anderen Tage machte ich mich auf den Weg. Nach zweitägiger
angestrengter Reise gelangte ich am dritten Tage dort an. Aber
welche Enttäuschung! Bereits war der Abgesandte des Vicekönigs
telegraphisch abberufen. In Peking sei Revolution ausgebrochen,
die Verhandlungen könnten jetzt nicht geführt werden. So waren
mit einem Schlage die besten Hoffnungen unserer Christen wiederum
vernichtet. In Begleitung des P. Petry begab ich mich zum Mili-
tärkommandanten Liung, welcher sich der Mission gegenüber immer
sehr wohlwollend bewiesen hatte, um von ihm näheren Aufschluß
zu erfahren. Dieser hohe Mandarin, welcher s. Z. in Begleitung
von Li-Hung-Dschang in Europa gewesen war, grüßte uns nach
europäischer Weise und drückte uns warm die Hand; seine Augen
aber verrieten, daß er etwas Besonderes auf dem Herzen habe.
Anstatt sich denn auch in den üblichen leeren chinesischen Redens-
arten zu bewegen, nahm er ein soeben eingelaufenes Schreiben
des Vicekönigs aus Tsinanfu zur Hand und legte es mir vor. Durch
dieses Schreiben wurden sämtliche Mandarine beauftragt, die Euro-
päer aus ihren Bezirken zu entfernen und sie unter militärischem
Schutze zur nächsten Hafenstation bringen zu lassen. „Auch eueres
Bleibens ist nicht mehr hier", bedeutete uns der Kommandant; „wir
können für euere Sicherheit nicht mehr aufkommen. Ich werde
euch einige Soldaten mitgeben, damit ihr unbehelligt abziehen könnt. u
Wir wußten genug; unser Herz war voll, und wir hatten gar
keine Lust mehr, den uns dargereichten Süßwein zu kosten. In
unsere Wohnung heimgekehrt, fanden wir ein Telegramm des hochw.
P. Provikar Freinademetz aus Tsining: „Wegen Rebellion schutzlos
erklärt. Schnell das Notwendigste ordnen und hierher kommen/
Es brannte mir unter den Fußsohlen ; im Fluge wäre ich gern
nach Puoly geeilt, aber trotz der großen Eile dauerte die Reise
dennoch zwei Tage. Als ich abends spät ankam, fand ich die
Residenz in der größten Aufregung. Der gute Bruder Ulrich weinte
fast vor Freude, als er mich wiedersah. Während meiner Abwesen-
heit war ein Brief des P. Provikars eingetroffen, worin er uns
von der bedenklichen Sachlage Mitteilung machte, es aber jeden]
— 288 —
freistellte, zu bleiben oder zu gehen. Kurz darauf wurde durch ein
Telegramm «dieser Brief als ungültig erklärt, alle Europäer maßten
sich schnell entfernen und in Sicherheit bringen**. Alle Europäer
müssen sich schnell entfernen: welch ein Befehl! Wenn je in meinem
Leben, so ist mir damals das Opfer des Gehorsams schwer gefallen.
Ich konnte mich gar nicht mit dem Gedanken vertraut machen,
Puoly zu verlassen; verlassen die vielen hülflosen Waisenkinder,
die todesmüden Greise; verlassen die weinenden Christen; verlassen
die Gräber der verstorbenen Mitbrüder; verlassen die Stätte so vieler
Arbeiten und Mühen, so viele Neuchristen, die sich schon so oft
wacker gehalten im harten Kampfe; verlassen das Werk, an dem
so viele Vorgänger unter Mühe und Tränen gearbeitet; verlassen
die Wiege der Mission und sie vielleicht nie mehr wiedersehen! —
Keinen Augenblick konnte ich während der langen Nacht schlafen;
ich glaubte einen Kampf auf Leben und Tod durchkämpfen zu
müssen. Wohl erinnerte ich mich der Worte: „Besser ist Gehor-
sam als Opfer", aber erst als ich dem Heiland vor dem Altare
mein Leid geklagt, konnte ich mich in etwa wieder fassen.
Am folgenden Tage mußten in aller Eile die notwendigsten
Anordnungen gemacht und die Vorbereitungen zur Abreise getroffen
werden. Der P. Provikar hatte vier chinesische Priester geschickt,
die in der Residenz weilen sollten, um sich im Augenblicke der
größten Gefahr verkleidet zu retten. Wir erwarteten auch noch
den P. Volpert, der sich in einem Nachbarbezirke aufhielt und mit
uns entfliehen sollte. Gegen Mittag langte er an.
Furchtbar waren die Nachtstunden vorübergegangen, der Tag
war nicht minder schrecklich. Hier weinten Christen, dort rangen
Greise ihre Hände, bald klammerten sich die Waisenkinder an die
Kleider des Missionars: wo man stand oder ging, sah man nichts
als herzzerreißende Scenen. Dennoch mochten die guten Christen
den Missionar nicht direkt bitten, er solle bei ihnen bleiben, weil
sie für sein Leben fürchteten. Wie ein Lichtstrahl schoß mir der
Gedanke durch den Kopf : Geh' nach Tsining, unterbreite dem Pro-
vikar die Sachlage und bitte ihn, dich zurückkehren zu lassen. —
„Tröstet euch", ermahnte ich deshalb alle, „wir gehen nur bis
nach Tsining, kommen aber, wenn eben möglich, bald zurück^
Dieser Trost war wie das milde Abendrot beim Abschied der unter-
gehenden Sonne. Auch diese Nacht wurde nicht geschlafen; die
Christen mußten nach Hause heimkehren; die Bewohner der Resi-
denz aber waren nicht aus unserer Umgebung zu entfernen. Kurz
nach Mitternacht lasen wir die h. Messe; dann wurde ein kleiner
— 289 —
Imbis genommen, und fort ging es, die unseren Herzen so traute
Stätte zu verlassen. Ein Glück, daß die noch dunkle Nacht das
traurige Abschiedsbild mitleidsvoll verhüllte.
Auf vieles Bitten hin hatten sich die Soldaten, welche mich
aus Z'au-fu begleitet, dazu verstanden, mit uns bis nach Tsining
zu gehen. Die Reise dorthin verlief noch verhältnismäßig günstig.
Die Heiden sahen unsere Militärbedeckung und wußten, daß wir
noch nicht ganz schutzlos seien. Eine halbe Tagereise von Tsining
entfernt, kam uns ein Bote entgegen, den der Herr P. Provikar
geschickt. Er bat uns dringend, uns doch ja nicht in die Stadt
zu begeben, weil die Durchreise zu gefährlich sei. Da standen wir
denn ratlos mitten auf dem Felde, ohne zu wissen wohin. Die
Soldaten erklärten bündig, uns nicht weiter als bis nach Tsining
begleiten zu dürfen; ohne Bedeckung aber zu reisen, wäre diesmal
eben so viel gewesen, als sich in den sicheren Tod zu begeben.
Solche Lagen im Leben sind furchtbar, besonders wenn man das
Leben anderer noch zu verantworten hat. Als wir unschlüssig
einige Stunden weiter geeilt waren, traf uns ein zweiter Bote aus
Tsining mit einem Briefe des Provikars: „Pax Christi. Diesen
Abend die Lage noch ungefährlich; kommt deshalb über Tsining \ u
Auf den Knieen hätte ich dem lieben Gott für diese Kunde danken
mögen. Schnell ging es in die Stadt hinein; wohl sahen wir dro-
hende Blicke, niemand aber wagte es, Hand an uns zu legen.
In der Residenz trafen wir den Herrn Provikar mit drei an-
deren Patres und einem Laienbruder. Es wurde nun beratschlagt,
was am besten zu tun sei. Eben war ein Telegramm aus Tschifu
vom deutschen Konsul (Hrn. Dr. Lenz) eingelaufen, worin er uns
dringend ersuchte, uns möglichst schnell in Sicherheit zu begeben.
Auch waren Nachrichten eingetroffen, daß „der deutsche Gesandte
in Peking mit allen dortigen Europäern massakriert seien, daß die
Jesuiten und Franziskaner ihre großen Residenzen nicht mehr hätten
halten können, daß bereits mehrere Missionare ermordet seien und
die Mandarine mancherorts die Missionare mit Gewalt hinausgetrie-
ben hätten". Sollen wir uns opfern, um die Christen, die beim
Priester aushalten werden, ohne sich zu verbergen, noch sicher in
den Tod zu bringen, oder sollen wir uns zu erhalten suchen, um
für die Christen noch mehr wirken zu können? Die Mehrzahl der
Missionare war dafür, uns vorläufig nach Tsingtau zu begeben.
Dorthin war bereits Tags zuvor eine Karawane von 14 Missionaren
abgereist. Nur mit schwerem, schwerem Herzen entschloß sich der
Herr P. Provikar dazu. Er hatte immer vorgehabt, mich aus Puoly
R. Pieper, „Neue Bändel". 1»
— 200 —
wegzulocken (und das war ihm ja gelungen vi saneta? obedienti»,
vermittels des gelobten Gehorsams), um dann selber dorthin zu
gehen und sich zu opfern. „Aber weshalb soll ich mich denn nicht
opfern ? . . . Ich bin doch schon halb tot", meinte der fromme Mann,
„und muß so wie so bald sterben. An meinem Leben ist nichts
mehr gelegen, wahrend Sie noch lange für den lieben Gott arbeiten
können". Da indes alle Patres den Herrn Provikar dringend baten, doch
von seinem Plane abzulassen, weil ja die zurückgebliebenen chinesi-
schen Priester zur Zeit der Not ihren Landslcuten beistehen könnten,
entschloß er sich endlich, mitzugehen. Abends spät kam auch noch ein
Jesuitenpater (P. Höffel) zu uns, der, aus der Nachbarmission ver-
trieben, nirgends mehr einen Ausweg gefunden hatte; zwei seiner Mit-
brüder waren einige Tage zuvor von den Sektierern ermordet worden.
Sehr früh morgens verließ der traurige Zug die Tore der
Residenz. Man mußte den Hrn. P. Provikar förmlich hinausschieben,
denn noch immar wankte er in seinem Entschlüsse. Als wir unge-
fähr zwei Stunden weit von Tsining entfernt waren, wurde Halt
gemacht. Hr. P. Provikar ließ mich zu sich rufen. Soll ich's ver-
raten, was mir sein edles Priesterherz offenbarte? Nun der Leser
wird es schon erraten haben: Sterben als Opfer für die Mission,
das war sein sehnlichster Wunsch, und deshalb, so beteuerte er,
könne er den Seelenfrieden nicht finden, wenn er, als Oberer der
Mission, nicht in der Mission verbliebe. Das sich mehrere Missio-
nare hinopferten, könne und dürfe er nicht erlauben, denn er sei
für das Leben aller verantwortlich. Was sollte ich antworten? Ich
nahm mit den anderen Mitbrüdern Rücksprache ; schließlich meinten
alle, man dürfe sich nicht länger dem Verlangen des heldenmütigen
Mannes widersetzen. Wir knieten nieder und baten mit Tranen
in den Augen um seinen Segen und empfahlen uns seinem frommen
Gebete. Sobald Bruder Ulrich den Entschluß des Hrn. Provikars
vernommen, lebte auch der seine mit erneuter Heftigkeit auf. Er
wollte den P. Provikar beschützen, er wollte sich mit ihm opfern.
Als ich in Z'aufu gewesen, hatte der Bruder geglaubt, ich werde
sofort von dorther nach Tsining reisen, ohne zuvor nach Puoly
heimzukehren. In einem Briefe, den er an mich abgeschickt hatte,
bat und beschwor er mich, ihm die Erlaubnis zu erwirken, in Puoly
verbleiben zu dürfen, dort wolle er sterben. Nunmehr wurde auch
seiner Bitte willfahrt. Mit einem „Auf Wiedersehen im Himmel"!
verabschiedeten wir uns, und die beiden kehrten um.
Von Jenfu kamen uns zehn Soldaten entgegen, welche der
Mandarin (Taotä) zu unserem Schutze bestellt hatte. Schon am
— 291 —
ersten Abend hatten sie unseren Leuten gegenüber verlauten lassen,
sie seien bestellt, nicht um die Europäer zu beschützen, sondern
nur des „Gesichtes" halber mitgeschickt; sollte Gefahr im Anzüge
sein, würden sie die fremden Teufel im Stich lassen. In einem
Dorfe, wo man sich nach ihrer Sendung erkundigte, streuten sie
unter das Volk, sie brächten die Ausländer an die Grenze, wo sie
geköpft werden sollten, gleich den vielen Tausenden, die bereits in
Peking und Tientsin gefallen seien.
Die Reise von Tsining nach Tsingtau dauerte volle zwölf
Tage. Glücklich wurde sie beendet, Gott sei Dank, aber nie in
meinem Leben werde ich diesen Schmerzensweg vergessen. Keiner-
lei Gefahren blieben uns erspart: Gefahren zu Lande und zu
Wasser, Gefahren von Blitz und Ungewitter, Gefahren von Räubern
und Christenfeinden ; unter allen möglichen Leiden hatten wir zu
dulden: Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Angst und Bangen.
Besonders beschwerlich gestaltete sich der Rest der Reise, welchen
wir auf einer elenden Schiffsbarke von Tsingkou nach Tsingtau an
der Ostküste durch das chinesische Meer zu machen hatten. Fünf
Tage mußten wir auf der Barke aushalten, bei Tag und Nacht
unter freiem Himmel, beschienen von der heißen Julisonne, ohne
weiteres Obdach als unseren Schirm (und jeder hatte nicht mal
einen). Der Schirm bildete auch das einzige Obdach bei den Ge-
wittern, die täglich niedergingerf und unsere Habseligkeiten bis auf
den letzten Faden durchnäßten. Das kleine Schiff hatte Ölkuchen
als Ladung, welche durch die Feuchtigkeit in Verwesung überge-
gangen waren und einen entsetzlichen Geruch um sich verbreiteten.
Bei einem starken Gewitter schlug der Blitz mit furchtbarem Knalle
neben uns ins Meer ; die Schiffsleute machten verzweifelte Gesichter
und mochten wohl die Europäer verfluchen, die sie in solche Gefahr
gebracht. Eines Abends konnten wir wegen starken Sturmes nicht
anlegen; im offenen Meere mußte Anker geworfen werden, der nach
vielen vergeblichen Mühen endlich faßte. Das Schiff schaukelte
wie eine Nußschale auf den sturmbewegten Wogen, wir mußten
uns förmlich anbinden, um nicht heruntergespült zu werden. Als
der Sturm etwas nachgelassen, wurde unsere Barke von vielen klei-
nen Fahrzeugen umkreist, in denen finstere Gesellen saßen, die wir
sofort als Seeräuber erkannten. Schnell griffen wir zu unseren
Waffen und zeigten den Kerlen das blanke Ende ; allmählich zogen
sie ab. Zum Glück waren einige muntere Naturen unter uns,
denen der gute Humor niemals ausging und die ein fröhliches
Liedchen sangen, wenn es anders nicht mehr gehen wollte. Die
19»
— 292 —
Schiffsleute konnten uns nichts besseres bieten als Reis und Bohnen
in Wasser gekocht, welche uns aber mit der Zeit derart verleidet
wurden, daß mancher es vorzog, Hunger zu leiden, als daran seinen
Hunger zu stillen.
Endlich, endlich tauchten die Spitzen der Berge von Tsingtau
in der Ferne auf. Zum Glück blies noch zu guterletzt ein gunsti-
ger Wind, der die Fahrt beschleunigte. Schon glaubten wir nach
einer Stunde unsere Mitbrüder begrüßen zu können, als sich uner-
wartet der Wind änderte und das Schiff nicht mehr vom Flecke
kam. Nur angestrengtes Rudern konnte es vor dem Zurücktreiben
bewahren; alles mögliche wurde versucht, um es weiterzubringen,
aber umsonst; auch gaben wir allerlei Signale, um in der Bucht
die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, aber vergebens. Die Nacht
kam herangezogen, im Hafen erglänzten die Lichter — so nahe
dem Ziele und doch konnten wir es nicht erreichen. Den Schiffs-
leuten wurde ein gutes Trinkgeld versprochen, wir selber griffen
mit in die Ruder: ja es half, das Schiff kam ein wenig weiter.
Kurz vor Mitternacht klopften wir an die Pforte der Missionsstation
und konnten unsere dortigen Mitbrüder begrüßen.
« cccecce ag
Von Tsingtau nach Kiautschou.
Kaumi, 2. Jan. 1901.
jjlsu im alten Jahre sollten wir doch das Ende unseres Exils
«rieben. Es war Sylvestertag, als ich mit Bruder Rudolf
ein Schifflein bestieg, das uns noch vor Sonnenuntergang
über die Bucht nach Kiautschou bringen sollte. Adien
Tsingtau! Du hast uns während der Zeit unserer Verbannung gast-
liche Aufnahme bereitet; habe Dank dafür.
Es war ein herrlicher Tag, ein klarer Sonnentag nach drei-
tägigem Regen- und Schneewetter. Die hohen Zacken des Lao-
gebirges stachen mit ihren schneeigen Firnen scharf ab gegen das
blaue Firmament. Zur Linken lagen die Höhen des Perlgebirgos,
einer riesigen Totenbahre gleich, bedeckt mit gewaltigem Leichen-
tuche. Ringsumher war es totenstill, das Meer glatt wie ein Spiegel,
und das leichte Fahrzeug schoß pfeilschnell über die blaue Fläche.
Eine solche Fahrt ist ein wahrer Hochgenuß: unten das Meer mit
seinen Geheimnissen, in der Ferne silbern schimmernde Gebirge, am
Himmel die milde Wintersonne, drinnen im Herzen das Frohgefühl
— 293 —
zu wissen, daß es hinausgeht auf die alte Stätte der Arbeit.
Wie sich der Kaufmann freuen mag, wenn er mit reichen Schätzen
beladen über das Meer segelt zu den lieben Seinen! Sollte sich
der Missionar nicht freuen, wenn er heimkehren darf zu seinen ver-
lassenen Schäflein, denen sein Herz gehört!
Wer sollte es glauben, daß die Bucht, jetzt so friedlich schlum-
mernd, sich zu Zeiten erheben könnte, als peitsche sie ein wilder
Dämon. Unerwartet und unvermerkt mit wahrer Windeseile setzt
der rauhe Nord ein und läßt dem fahrenden Schiffe bisweilen gar
keine Zeit mehr, seine Segel zu legen. Das Fahrzeug schlägt um,
und mancher, der sein halbes Leben auf dem Wasser zugebracht,
findet dann sein Grab darin. Überhaupt ist das Wetter in Tsing-
tau so unbeständig, wie ich es anderswo in China kaum getroffen
habe. Nicht selten lächelt am frühen Morgen die Sonne hinter den
Bergen herauf und wünscht guten Tag, aber plötzlich ist sie hinter
schwarzen Wolkenbergen oder hinter dem chinesischen „Grauhimmel"
verborgen, und alle Herrlichkeit des Tages ist dahin.
Eine sehr angenehme Beigabe auf dieser schönen, anregenden
Fahrt war, daß wir ein Stück greifbare Erinnerung aus der Heimat
mit uns führten, ein Stück westfälischen Schinken. Im allgemeinen
kann sich ein Missionar hier, so weit von der Heimat entfernt, der-
artige lukullische Genüsse nicht gönnen — ein Pfund westfälischen
Schinken kostet in Tsingtau 2,20 M. — und er tut es nur dann,
wenn ihm der Zufall oder vielmehr eine gute Seele so etwas zu-
gestellt hat. Das wird dann aufgehoben für die Zeit der Not, für
Reisen und dergleichen, wenn außer gekochtem Wasser sonst nichts
zu haben ist. Ist das doch ein duftiges Stück Fleisch, dieser west-
fälische Schinken: paßt ganz zu den knorrigen Eichen und den
harten Köpfen in meiner Heimat. Zum westfälischen Schinken gehört
eigentlich der westfälische Pumpernickel, und auch diesen kann
man in Deutschchina kaufen, wohlverschlossen in Blechdosen. Freilich
kommt er nicht aus Westfalen, sondern aus Berlin, ist also eigent-
lich Berliner Pumpernickel. Was auch ihn weniger empfehlenswert
macht, ist wiederum der hohe Preis: eine Dose (ein Pfund) kostet
70 Cents, also mehr als eine Mark. Da wäre zu bedauern, wer
ihn als tägliches Brot genießen müßte.
Schon neigte sich die Sonne dem Untergange zu, als wir die
Ningpaofahrzeuge passierten, eine Reihe mächtiger Kauffahrteischiffe,
die aus dem Süden, aus der Nähe von Schanghai, alljährlich einige
Mal in die Kiautschoubucht kommen, um den Handel ins Innere
zu vermitteln. Als Ausfuhr nehmen sie meistens Reis, Papier,
— 294 —
Zucker, Bambus und sonstige südländische Produkte mit, während
sie für die Rückfahrt Erdnüsse, Bohnenöl, Kohl, Birnen, Nüsse,
trockene Gottesbirnen und andere Früchte Schantungs verladen.
Wo die Bucht seicht zu werden beginnt, bleiben sie vor Anker
liegen. Kleine Schiffe vermitteln den Handel so weit hinauf, als
der Fluß fahrbar ist; dann muß der Schiebkarren eintreten.
„Voran, voran !" mahnten wir unsere Schiffer, Vater und Sohn,
die sich am Ruder abwechselten; „denn es wird dunkel." „Morgen,
morgen kommen wir an," trösteten sie uns. „Nein nicht morgen,
sondern heute müssen wir ankommen; denn wir haben Eile." „Aber
die Eile bringt uns auch nicht weiter; die Flut ist am abziehen, es
geht gegen den Strom, und bald liegen wir auf dem Trockenen.
Das gescheiteste wäre, Anker zu werfen und so lange zu warten,
bis die Flut zurückkäme und uns weiter den Fluß hinauftrüge. u
Als die Schlauberger dann wirklich Anstalten machten, ihre Anker
zu lösen, mußten wir noch energischer mit ihnen reden. Schon
hatten uns mehrere Fahrzeuge überholt und schössen an uns vor-
über. „Weiter voran," befahlen wir; „so lange andere Wasser
haben zum Rudern, habt ihr es auch." Als wir endlich aufs Trockene
gekommen, hieß es Geduld haben und sich ins Unvermeidliche
und den kalten Schiffskasten fügen. Zum Glück dauerte es nicht
sehr lange, da begann das Wasser wieder zu steigen, und unter
vielem Schreien ging es durch den Schlamm langsam weiter. In
den chinesischen Flußmündungen ist meistens ein Drängen und
Schieben wie bei uns auf der Kirmeß vor einer Schaubude. Es ist
nur ein Schaukeln nach rechts und links; aber man kommt nicht
voran. Wer es dann eilig hat, nimmt am besten ein Schlafpulver
und macht die Augen zu und sucht sich über das Unvermeidliche
hinwegzutäuschen. Jedermann bringt das freilich nicht fertig, und
auch uns wollte der Schlaf nicht kommen trotz vorgerückter Nacht-
stunde. Die Füße aber schliefen schon seit langem von allem Lie-
gen und Hocken, und die Kälte wurde mit jedem Augenblick
empfindlicher.
„Springen wir vom Schiffe aufs Ufer und versuchen es auf dem
Trockenen," meinte der Bruder. „Ja, wenns nur trockenen wäre;
da durch den Schlamm zu waten beim Dunkel der Nacht scheint
mir auch kein Plan zu sein. Doch ich wills versuchen. Bleiben
Sie auf dem Schiffe ; ich werde ins Dorf vorauseilen und mich nach
einer Herberge umsehen. Hier zu schlafen ist doch nicht möglich,
man würde ja zum Eiszapfen frieren." Ich schloß mich einigen
Chinesen an, die gleichfalls aus ihren Schiffen gestiegen, und tappte
— 295 —
vorsichtig über die halbgefrorene Eiskruste, über Schlamm und
Morast voran. Die Chinesen kamen leichtfüßig hinüber, ich hinge-
gen sank einige Male ein, nicht bis an den Hals, aber doch weit
genug, um erst nach ordentlichen Anstrengungen wieder herauszu-
kommen. Endlich gelangten wir in das elende Chinesendorf Mat'ou.
Die Chinesen, denen ich gefolgt war, sahen sich nach einer Herberge
um, und ich bat sie, auch mir eine anzuweisen. „Es ist überhaupt
nur eine Herberge hier für bessere Leute, und das ist eben diese,
wo wir anklopfen/ antworteten sie. Es war schon oft angeklopft,
auch hatte man von innen Laute vernommen, die Türe wurde aber
noch immer nicht losgemacht. „Nun mal endlich aufgemacht !"
schrie der Anführer. „Es wartet draußen ein europäischer Meister,
der bei dir übernachten will." Gleich darauf wurde die Türe los-
geriegelt, und wir konnten ins Chinesenhotel einziehen. Im „Vor-
zimmer" hing eine halbe Sau; daneben lag ein Chinese und schlief.
Der Wirt, der uns Einlaß gewährt, war ein alter Mann mit weißen
Haaren und hohlen Wangen. Die Kleider hatte er noch lose um
die Schultern hängen, um sie gleich wieder als Oberbett beim
Niederlegen sich aufzulegen. Der da rechts bei der toten Sau schlief,
kümmerte sich wenig oder gar nicht um die angekommenen Gäste,
sondern schnarchte in einer Weise, daß man hätte glauben sollen,
die Sau habe ihm geholfen. „Aber, guter Mann, Anstalten gemacht
und geholfen, daß wir einen Raum zum Schlafen bekommen." „Alles
ist besetzt," erwiderte er trocken, „ich wüßte wahrhaftig nicht, wo
ich Euch hinlegen wollte; kommt selbst und überzeugt Euch." Er
führte mich dann in sein „Gastzimmer". Aber da lagen nicht nur
die Betten voll von Leuten, sondern auch am Boden lagen die Gäste
herum wie die Schafe. Es waren meistens Karrenschieber und Esels-
treiber, die nun bei Nacht einen ähnlichen Lärm vollführten, wie
es ihre Gefährten bei Tage zu tun pflegen. Nein, dann lieber aufs
Schiff zurück, dachte ich, als hier am Boden zu liegen, wo das
Schlafen doch eine Unmöglichkeit ist. „Ich sehe, Ihr habt absolut
keinen Platz, aber könnt Ihr mir anderswo kein Obdach verschaffen?"
„Am besten geht Ihr in das deutsche Hotel," sagte der Wirt; „da
gibt es europäisches Essen und Trinken, und Platz wird man auch
noch wohl haben." „Das hättet Ihr auch gleich sagen können,"
antwortete ich ihm. „Seid denn so gut und laßt mich dort hinführen."
Ein Führer war sofort zur Stelle, und so ging es denn weiter durch
Dunkel und Morast.
Als wir einige Zeit herumgetappt waren, wurde Halt gemacht
vor einem Chinesenhause, besonders erkenntlich gemacht durch eine
— 296 —
lange Fahnenstange, die vor demselben aufgepflanzt war. „Hier
ist das europäische Hotel, hier klopfet an,* sagte mein Begleiter.
„Herein!* wurde von Innen gerufen. Wahrhaftig, dachte ich, das
klingt ja deutsch wie daheim, [ch trat in ein niedliches Stübchen;
in der einen Ecke desselben brannte ein Ofen, in der anderen stand
ein Christbaum. Der Wirt und ein Gast, beide Deutsche, saßen
beim Ofen und knackten Nüsse. Eine angenehme Wärme umfing
meine frostkalten Glieder. Rechts stand das Büffet mit Flaschen
aller Größe und Gattung und dem verschiedensten Inhalte. „Grüß
Gott! Noch ein Gast zur späten Abendstunde; ist aber kein Chinese,
sondern ein Landsmann.* „Leider haben wir nur zwei Stübchen
und zwei Betten,* antwortete der Wirt, „und gerade heute sind
zwei Gäste gekommen. Also ist eigentlich kein Platz mehr übrig;
aber wenn Sie sich behelfen, werde ich schon Rat schaffen.* Der
Wirt schaffte Rat, nicht nur für mich, sondern auch für den Bruder,
der unterdessen auch vom Schiffe gestiegen und mir nachgefolgt
war. Als wir etwas gegessen und getrunken, fanden wir Unterkunft
in einem Chinesenzimmer; die Betten waren halb europäisch, kalb
chinesisch. Müde, wie wir waren, sanken wir bald in Morpheus
Arme. Am anderen Morgen brachte mich ein Eselein nach Kiau-
tschou, wo ich die anderen Missionare noch traf, die eben im Begriffe
standen, ihre Weiterreise ins Innere anzutreten. Der Weg ist lang
und die Tage sind kurz, zudem ist tiefer Schnee gefallen, welcher
die Wege stellenweise vollständig unpassierbar macht. Da wird es
an mancherlei Abenteuern nicht fehlen, und wenn alle wieder glücklich
in ihre Bezirke gelangt sind, können wir getrost Deo gratias sagen.
Erste Stimmungsbilder
nach den Boxerunruhen.
Puolv, U7. Matt 1901.
^ii sitze ich wieder seit anderthalb Muntjl^^f int lntt^*,
' von Schantung, aber mich noch kcii^^ jrk'llpin < M v
irgend eine Nachricht hat sich vf^ «V
Man fühlt sich ho immam
glauben Deutsch-China sei verschwi
den Chinesen ihren UeraemwiU
gemacht. In Tsingtau, wo
granime gab und auch die
— 297 —
Besuch machten, fühlte man sich fast wie daheim. Hier muß man
wieder „von Gerüchten leben", und die sind meistens nicht sehr
erbaulich; oder man macht sich seine eigenen Kalkulationen und
die fallen auch in der Regel nicht sehr erfreulich aus. Es ist eine
Atmosphäre wie vor Ausbruch eines gewaltigen Orkans, und man
will oft nieinen, unter den Füßen glühe vulkanischer Boden. Solche
Gefühle entspringen natürlich hauptsächlich von all den „ schreck-
lichen Dingen, die da noch kommen werden", welche die Chinesen
aber mit einer Gewißheit erzählen, als hätten sie Prophetengeist.
Vor drei bis vier Wochen war es mit den Gerüchten noch viel
schlimmer, als nämlich die Boxer über den Mandarin von Tung-
schang-fu hergefallen waren, und ihm den Garaus gemacht hatten.
(Tung-schang-fu ist 50 Li von hier entfernt). Da glaubten sie wieder
Herr der Lage zu sein. Als aber eine energische Hetze auf sie
gemacht worden ist, haben sie Fersengeld gegeben. Die Frau des
ermordeten Mandarinen soll noch Leichenwache bei dem im Yamen
aufgestellten Sarge ihres verstorbenen Gatten halten und soll sich
nicht eher zufrieden geben wollen als bis 300 Boxerköpfe zu ihren
Füßen liegen.
Auf den Märkten werden vielfach Bilder feilgeboten, auf denen
die Kämpfe der Europäer mit den Chinesen in bunten Farben ge-
malt sind. Besonders werden die „Schlachten" von Tientsin und
Paotingfu dargestellt. Wer Sieger war, kann sich der Leser leicht
denken, natürlich wieder die Chinesen. Und sie sahen auf den
Bildern so wild und schreckenerregend hinter den laufenden Euro-
päern drein, daß man schier glauben sollte, es gäbe unter den
Chinesen nur Helden. Ob das Volk auch an den Schwindel glaubt !
Warum nicht gar! Was man wünscht, das glaubt man gern. Eine
eigentliche Niederlage der Chinesen ist den Zopfträgern überhaupt
unverständlich.
Die Mandarine sind im allgemeinen geschmeidig und geben
gute Worte. Einer aber, der diese Herrn etwas genauer kennt,
fühlt bald heraus, daß es ihnen gar so ernst nicht damit gemeint
ist. Mir will indes scheinen, als hätten die Mandarine und Gelehr-
ten aus den Wirrnissen der letzten Zeit wenigstens das gelernt, daß
sie allmälig anfangen müssen, sich mehr für das „Europäische" zu
interessieren; wenigstens erkennen sie jetzt die Europäer als eine
Macht an, mit der man doch eventuell zu rechnen hat. Ist ihr
Wissen in Geographie und dgl. auch meistens sehr stümperhaft, so
wissen sie nun doch vielfach schon, daß China sehr groß und Ruß-
land auch nicht grade klein ist; daß Deutschland tapfere Soldaten
— 298 —
hat, und daß Japan etwas näher bei China liegt, als Europa. Das
überlegene, selbstbewußte Lächeln indes, das bisweilen ihren Mund
umspielt / wenn sie sich nach europäischen Verhältnissen erkundigen
und ihre ausländische Wissenschaft zum besten geben, zeigt genug-
sam, daß sie die Gleichberechtigung der Barbaren des Westens
im Rate der Weisen im Reiche der Mitte doch noch stark in
Zweifel ziehen.
Wir fragen uns oft, was die Zukunft wohl bringen mag? Die
Ansichten sind verschieden. Der Ansicht ist aber jeder, daß die
Zukunft noch viel heikler werden wird, wenn das Militär der euro-
päischen Mächte abzieht, bevor die Chinesen gründlich gedemütigt
sind. Denn sie sind sich wohl bewußt, daß es nicht so leicht
wieder zu einem zweiten Feldzuge gegen sie kommen wird. Ein
zweites Mal dürfte aber an ein so verhältnismäßig leichtes Entrin-
nen der meisten Europäer aus dem Innern in die Hafenstädte wohl
nicht mehr zu denken sein. Die Chinesen sind oft unberechenbar;
vielleicht geht es besser, als mancher denkt ; vielleicht wird es auch
schlimmer, als die Mehrzahl erwartet. Das „Parati estote" dürfte
aber wohl jeder Europäer im Innern von China die ersten Jahre
nicht vergessen und auch darüber hinaus noch nicht.
Das Frühjahr hebt wieder an, wie im vorigen Jahre: Wind
und Staub und nichts wie Staub. Wenn nach der neuesten Regen-
theorie der Staub mit dem Regen so eng zusammenhängt, wo bleibt
dann aber in China der Regen; Alle Fingerlang erhebt sich ein
Staub, der die Sonne verfinstert und den Tag zur Nacht macht; ist
aber der Wind vorbei, ist auch bald der Staub verflogen ; der Regen
aber bleibt aus. Die Aussichten auf eine gesegnete Weizenernte
sind im Allgemeinen recht günstig. Der kalte Nord nimmt aber
die jungen Sprossen unter dem Schnee, welcher dieses Jahr aus-
nahmsweise reichlich gefallen ist, arg mit. Allenthalben verlangt
man wieder nach Regen. Im Frühjahr aber bleibt er besonders
gerne aus; „Tsch'uin jii sian-sä ju u , sagen die Chinesen, d. h. der
Frühlingsregen ist gleich dem Ol (so rar und kostbar). Sollte es wie-
der zur Mißernte kommen, dann werden die hungernden Chinesen trotz
aller Friedensbeschlüsse doch keinen Frieden halten: Parati estote!
Yangku (Stadt), 12. April 1901.
Bin gestern hier in die Stadt gekommen, um die Angelegen-
heiten der Kirche und der Christen mit dem Mandarin in Ordung
zu bringen. Von allen unseren Christen in Süd-Schantung sind
— 299 —
nämlich die Christen aus dem Bezirk Yangku (wozu auch Puoly
gehört) bisher am schlechtesten fortgekommen, was die Besorgung
ihrer Angelegenheiten betrifft. Während in den meisten anderen
Bezirken so ziemlich wieder Ordnung hergestellt ist, und den Be-
raubten auch eine mehr oder weniger entsprechende Endschädigung
zu teil wurde, harren die armen Christen von Yangku vergebens
darauf, und die meisten nagen am Hungertuche und wohnen so
zu sagen unter dem freien Himmel, da ihre Häuser größtenteils
zerstört wurden. Daß ihnen bisher keinerlei Gerechtigkeit wider-
fahren, daran ist Niemand Schuld als der hiesige Mandarin. P. Pro-
vinzial hat s. Z. viel mit ihm unterhandelt und der gute Pater bot
seine ganze Beredungskunst auf, um ihn einigermaßen für die Sachen
der Christen zu gewinnen, aber umsonst. Selbst als später ein
Abgesandter des Gonverneurs geschickt wurde, der die Verhand-
lungen leiten sollte, konnte noch nichts erreicht werden, da ihn der
Mandarin zeitig genug mit vielem Gelde bestochen hatte. Der
Mandarin aber suchte sich das „ Wohlgefallen u seines Vorgesetzten
zu erkaufen, indem er mehr Steuern aufbrachte als Vorschrift war
und die Kasse desselben mit Silbergeschenken füllte. Nichtsdesto-
weniger hat er ob aller Ungerechtigkeit, die er sich beim Volke
zu Schulden kommen ließ, seinem Posten entsagen müssen. Bei
Nacht und Nebel mußte er unter Soldatenbedeckung abziehen, denn
das Volk wollte ihm an den Kragen. Und jetzt der Nachfolger!
— Er rühmt sich ein Freund der Europäer zu sein und die Ver-
hältnisse der Ausländer aus dem ff zu verstehen : Tatsache ist, daß
er den europäischen Weinen freundlich zuspricht, überhaupt den
westindischen Comfort hochschätzt — ein Freund der Christen
aber ist er mit Nichten und auch wohl kein Freund der Europäer,
mag er dieses aucli zehnmal in einem Atemzuge beteuern. Äußerlich
freilich tut er den Missionaren gegenüber sehr zuvorkommend und
beobachtet peinlich genau die Etikette, erheben aber die Christen
ihre Rechtsansprüche, dann hat er allerhand Einwände und Ent-
schuldigungen. Jetzt soll ein zweiter Abgesandter des Vicekönigs
kommen, und ich erwarte ihn seit gestern. Die Christen leben der
Hoffnung und ich noch mehr ; aber meine Haupthoffnung habe ich
auf den hl. Joseph gesetzt ; wenn Er nicht hilft und zwar mit starker
Hand, dann ist auch jetzt noch wenig Aussicht vorhanden, daß die
Angelegenheiten zu einem günstigen Resultat geführt werden. Wir
haben dem hl. Joseph versprochen, Sein Schutz-Fest in besonderer
Weise festlich zu begeben, wenn Er uns helfend Seine Vaterhand
reiche — ich hoffe auf Ihn auch diesmal und bin überzeugt, daß
— 300 —
Er uns nicht im Sticht» laut. Ja wa> sollt*» aber auch aus den
armen Christen worden, wenn ihnen keine Hilfe geschähe. Manche
sind fast um Kunde der Verzweiflung und wenn sie die Gnade nicht
«rehalten, hatten nie überhaupt nicht so viel ertragen und leiden
können. Dazu kommt da- halbe Hungerjahr von 1900 und die
schlechten Aussichten für das kommende Jahr. Nein, so eine Wit-
terung, wie sie uns der heurige Frühling gebracht, habe ich trotz
aller abnormalen Zustande selbst in China noch nie erlebt. Aber
auch kein Tropfen Regen ist in die>em Frühjahr gefallen: nichts
wie Staub und Wind. Wind und Staub, und das geht in einem fort,
Tag für Tag. Mancherorts haben sich förmliche Staubhügel gebil-
det, ähnlich wie bei uns daheim, wenn im Winter der Wind den
Schnee zusammenfegt. Die Hohlwege sind geebnet, viele Felder sind
zu Niederungen ausgehöhlt. Die Wintersaat ist indes verschwunden
und wo noch Einiges stehen geblieben, hat sich eine oft fußdicke
Sandschicht darauf gelegt. Daß die Sonne vollständig verfinstert
war. und daß man bei Tage das Licht anzünden mußte, ist öfter
als einmal vorgekommen. Vor wenigen Tagen, als aber der kalte
Norden mit voller Gewalt loslegte und wahre Sandmauern vor sich
her trieb, sind viele Leute, die sich auf den Feldern oder auf den
Wegen befanden, im Staube erstickt. Kein Wölkchen verirrt sich
mehr an den blauen Himmel; man sollte schier glauben, Eliaszeiten
seien angebrochen. Seit ich von Europa heimgekehrt, habe ich in
Puoly keinen Regen mehr erlebt, daß es mir fast schwer wird,
mir auch nur einen regelrechten Landregen vorzustellen. — Was
der liebe Gott doch eigentlich mit China und den armen Chinesen
vorhat? Seine Strafrute folgt Schlag auf Schlag. Schon jetzt be-
ginnen sich Räuberbanden zu bilden und das hungerleideude Volk
schließt sich ihnen an. Falls es in diesem Jahre zu einer eigent-
lichen Mißernte kommt, ist eine allgemeine Revolution in hiesiger
Gegend unausbleiblich. Aus der Nachbar-Provinz Tschely, wo im
verflossenen Jahre die Ernte vollständig mißraten, sterben die Leute
zu Tausenden des Hungertodes. Tagtäglich kann man Auswanderer
vorbeiziehen sehen, die der heimatlichen Scholle, die für sie ein
( )rt des Schreckens geworden, entflohen sind, um anderswo ihr Leben
zu retten. Wahre Jammergestalten sind es, denen der Tod seine
Knochenhand bereits in den Nacken gelegt hat. Beim Anblick
eines solchen Elendes müssen alle Gefühle der Rührung und des
Mitleides erstarren: Der Missionar sieht sich einem Strome gegen-
über, dessen Lauf er nicht hemmen kann. Wie oft habe ich das
Herz einer armen Mutter brechen müssen (und auch das Herz des
— 301 —
Missionars war dabei zum Zerbrechen voll!), die mir ihren weinen-
den Säugling vor die Füße legte, mit der Bitte, ihn zu ernähren.
Wie oft mußte ich die Türe verriegeln, um einen jammernden Vater
abzuhalten, der sein Kleines, dem die Mutter gestorben, „dem Prie-
ster schenken" wollte, um es vor dem Hungertode zu retten.
„So lange noch Kinder wachsen, wächst auch noch Brot", hat
ein gelehrter und frommer Mann gesprochen (P. Kreiten) und er
hat recht geredet, wird jeder sagen, der es hört. Aber dennoch
sollte man hier in China bisweilen an der Richtigkeit seines Aus-
spruches zweifeln, wenn man nämlich die Unmassen von Kindern
sieht, die obdachlos und brotlos und nicht selten auch elternlos
herumirren oder -liegen. Wer soll ihnen denn Brot brechen oder
läßt der himmlische Vater keines für sie wachsen? Ganz gewiß
doch! Er, der für die Spatzen sorgt, sollte sich der Kleinen nicht
annehmen, die Seine Lieblinge sind! Der fromme Tobias belehrt
uns, wer Brot unter sie austeilen soll: „Hast du viel, so gib auch
viel, hast du wenig, so gib auch von dem Wenigen mit freudigem
Herzen. u Für Manchen ist eine Mark viel, für Manchen aber be-
deutet eine Mark ein Weniges. Viele halten es in ihrem Leben
gerne mit der Witwe im Evangelium, indem sie den Heller der Armen
zahlen. Dabei gleicht aber nur ihre Gabe jener der Witwe: ihre
Gesinnung ist eine ganz andere. Sie könnten auch das Opfer der
Reichen bringen, vor unserm Herrgott aber belieben sie gerne arm
zu scheinen, weil sie sich von ihrem Reichtum nicht gut tren-
nen können. —
Puoly, 10. Mai 1901.
Dieser Tage ist hier ein erquickender Regen gefallen, eigent-
lich der erste, den ich seit beinahe zwei Jahren in Puoly gesehen
habe. Es hat fast drei Tage geregnet und drei Nächte dazu. Ein
ganz milder Landregen war es, der Zeit genug fand, in das dürstende,
ausgetrocknete Erdreich einzusickern. Dem Himmel sei gedankt!
Nach einer solchen Trockenheit freut man sich mit der lechzenden
Natur und ist entzückter, als wenn Wein oder Bier vom Himmel
geträufelt wäre. Dieser Regen nützt uns vorläufig mehr als alle
Friedensverhandlungen und Vorschläge der Diplomaten und besänf-
tigt zu allermeist die aufgeregten Gemüter. Fällt die Weizen ernte
in hiesiger Gegend auch spärlich aus, so können doch die Leute
für die Herbsternte anbauen, und die ist ja die Hauptsache. Hoffent-
lich hat sich jetzt auch der Wind ausgeblasen. Gestern war
— 302 —
chinesischer Sommeranfang und da hat sich kein Lüftchen gemuckst.
Wenn aber an diesem Tage Windstille ist, dann hält sich der Wind
für den ganzen Sommer kaduk, sagen die Chinesen. „Zu Sommer-
anfang ist der Wind erstorben; ist er nicht erstorben, dann bläst
er noch vierzig Tage lang", lautet ein Sprichwort, und die chine-
sischen Sprichwörter sind meistens nicht ganz ohne. — Die Furie
des Krieges scheint allmählich in der Ferne zu verschwinden. Das
Volk spricht hier kaum mehr vorn Kriege. Wozu auch gar; Geld
hat er ihm noch wenig gekostet oder gar keins, und ein gefallener
Sohn oder Bräutigam ist nur in seltenen Fällen zu beklagen. „Was
sollen die paar gefallenen Söldlinge aus dem Norden oder Süden
gegen die Millionen, die sich noch ihres Daseins erfreuen l u Tat-
sache ist, daß ich in hiesiger Gegend noch keinen Chinesen habe
klagen hören, der seinen Sohn vermißt, weil er im Kriege gefallen.
Und was den „Sohn des Himmels* (den Kaiser) angeht, so mag
er ruhig in der Ferne weilen, den gewöhnlichen Mann kümmert
dies herzlich wenig. Er muß sich durchschlagen und sehen, wie
er fertig wird; mag der Himmelssohn es auch so machen, wenn
ihm sonst keine Macht zu geböte steht. Auch ist es dem chine-
sischen Staatsbürger höchst gleichgültig, ob der Kaiser in Peking
oder in Singanfu oder anderswo weilt; des Kaisers holdes Antlitz
darf sein sterbliches Auge ja doch nicht schauen, und Steuern muß
er entrichten, einerlei ob der Drachenthron im Norden aufgeschla-
gen ist oder im Süden. Auch die Boxer sind so ziemlich von der
Bildfläche verschwunden. Da sind ja in der letzten Zeit so viele
Strafen angedroht und durch Maueranschläge bekannt gegeben, daß
es ihnen ordentlich in die Knochen gefahren sein muß. Freilich
wissen die Sektenbrüder sehr wohl, daß es längst nicht so schlimm
gemeint ist, als es da auf dem Papier steht und daß auch in China
die Suppe nicht so heiß gegessen wird, als sie die „europäischen
Teufel" auftischen. Mit der Bestrafung der Übeltäter wird es denn
auch keineswegs so eilig und ernst genommen, als mancher wohl
erwarten mochte. Wohl muß der eine oder andere seinen Kopf
lassen, dafür werden aber Tausende schuldlos erfunden oder man
läßt sie in Ruhe. Die chinesische Justiz scheint sich bei Bestra-
fung der Boxer nach dem mittelalterlichen Grundsatze zu richten:
Wer einen straft, straft hundert. „Wie sollten wir, u erklärte mir
neulich ein Mandarin, „all das unschuldige Volk zur Rechenschaft
ziehen können, da damals die Spitzen der Regierung (der Mandarin
spielte auf den berüchtigten Yühien, Vicekönig von Schantung, an)
selber die Boxer beschützten und ihnen gewogen waren? Wer
— 303 —
selber nicht mittat, mußte wenigstens irre werden." Der Gedanke
ist ja wohl wahr, aber es handelt sich nur darum, ob bei einem zu
milden Vorgehen die Zukunft gesichert bleibt. Wer sich'den trügeri-
schen Illusionen hingeben wollte, müßte die Chinesen nicht kennen.
Puoly, den 11. Juli 1901.
Gestern Abend donnerte und blitzte es hier ganz gewaltig,
aber der lang ersehnte Regen blieb aus. Die Chinesen sagten:
„Tieft kuan chui ta lei f pu chui chia jü a : „Der Himmel hat nur
Donner, aber keinen Regen. u Heute hat indessen der Himmel
bewiesen, daß er auch noch Regen hat, denn Regen ist gefallen,
der lang ersehnte und viel erflehte, zwar nicht in Strömen, aber
doch genug für die dürstenden Fluren. Jetzt kann die Spätsaat
bestellt werden (Bohnen, Mais, Buchweizen) und die bestellten Saaten
(Sorgho, Hirse), die dem Vertrocknen sehr nahe waren, können
neubclebt aufatmen. Jetzt wächst es wirklich, „daß man's hört".
Jeden Morgen ist der Sorgho um fast eine Pingerlänge höher ge-
schossen. Gott sei Dank! Die Aussichten für eine wenigstens ziem-
lich gute Herbsternte sind jetzt gesichert. „Uen tjin tjin, mä-pu-lio
na-jan chao jü u , sagen hocherfreut die Bauern: „Für zehntausend
Pfund Gold ist solch ein herrlicher Regen nicht zu kaufen. u So
ein Regen belebt nicht nur die Felder, er besänftigt auch, wenig-
stens einigermaßen, die aufgeregten Gemüter und nützt uns vorläu-
fig mehr als alle Friedensverhandlungen und -Versicherungen.
„Der Himmel kann nur donnern hat aber keinen Regen",
diesen Ausspruch gebrauchen die Chinesen auch in figürlichem
Sinne; wenn Jemand nämlich zu drohen versteht, aber seinen Dro-
hungen keinen Nachdruck zu geben vermag. Oder wenn sie Donner
und Regen aus dem Spiel lassen, sagen sie wohl : Der Mann spricht
große Worte und gebraucht kleine Käsch (Mu-gin schuo ta chua,
sehe sio ts'ien) das heißt : er ist ein Großsprecher und macht nur die
Leute bange.
Die Chinesen haben vor den Europäern und besonders vor
den europäischen Soldaten gewaltigen Respekt gehabt und mancher
hatte auch wohl schon geglaubt, sein letztes Stündlein habe geschla-
gen und „die Dynastie der großen Klarheit u sei dem Untergange
geweiht. Jetzt ist es aber anders geworden. Gewiß die Soldaten,
die Deutschen sind tapfer und schießen vorzüglich, aber — China
ist groß und der Chinesen Beine sind flink. Was wir nicht mit
Waffengewalt erringen konnten, das haben wir mit vielen Versprechen
— 304 —
und guten Worten erreicht. „Hou-Ie tsä schuo". Kommt Zeit
kommt Rat. Die Europäer haben tüchtig gedonnert und uns bange
gemacht: der Regen ging leidlich vorüber.
Wir Missionare müssen wohl froh sein, wenn uns die Chinesen
nicht allzu bald den Hals umdrehen oder gar die Haut abziehen,
und wir werden es uns schon gerne gefallen lassen, wenn sie uns
nur schief angucken. Aber Schade ist es, daß man im vorigen Jahre
um diese Zeit nicht die Erfahrungen hatte, die man jetzt gesammelt
hat, dann wäre der Feldzug vielleicht anders ausgefallen und es
wären andere Resultate erzielt worden. Die Chinesen sind uns dies-
mal einmal wieder zu schlau gewesen und — es wird vielleicht
noch nicht das letzte Mal gewesen sein.
Ob es in der Zukunft ruhig bleiben wird, hängt teils davon
ab, ob der Kaiser seine Residenz nach Peking zurückverlegt. Die
Kaiserin-Witwe hat bereits bei den Gräbern ihrer Ahnen auch für
sich ein Mausoleum errichten lassen, das viele Millionen gekostet
hat: da« wäre wohl ein Grund, mit dem man die alte Dame be-
wegen könnte, das verlassene Heim wieder aufzusuchen. Wenn sie
aber an die gefahrdrohende Stellung der Europäer in Peking denkt,
mag es ihr wohl schwül ums Herz werden: „Tsien u lu, hou u
t schuang" „Vorwärts kein Weg, rückwärts keine Stätte — da ist
schwer ein Entschluß zu fassen.
Aber auch für den Fall, daß es die chinesische Regierung
mit dem Frieden aufrichtig meint und nach Peking zurückkehrt,
werden noch Jahre vergehen, ehe die Gemüter der Zopfmänner
vollständig wieder beruhigt sind. Die Überreste der Boxer aber —
und die dürften gar nicht so klein sein — werden es noch oft genug
versuchen, die Fahne der Empörung von Neuem zu erheben und
falls sie ihnen dann nicht sofort entrissen wird, kann sich das Boxer-
Drama immer wieder von neuem aufspielen. Wir werden in nächster
Zeit noch oft genug von Sengen, Morden und dergleichen hören.
Was aber nach dreißig oder fünfzig Jahren sein wird, ehe die Kriegs-
entschädigung vollständig eingelöst ist, wer vermöchte das zu sagen.
Die Schwarzseher sagen: Nach dreißig bis fünfzig Jahren holen
sich die Chinesen ihre Kriegsentschädigung von den Europäern zu-
rück. Wer die Dinge aber ohne schwarze Brille betrachtet, wird
sich sagen müssen: dreißig bis fünfzig Jahre ist eine lange Zeit,
lang genug, um allerlei Überraschungen zu bringen.
Doch wozu sich mit der Zukunft beschäftigen in banger Sorge.
Jeder Tag hat genug der Plage und die Gegenwart macht uns
vollauf zu schaffen.
— 305 —
Puoly, den 3. Oktober 1901.
Die ineisten Menschenkinder haben es nicht gerne, wenn sie
während der Nacht im Schlaf gestört werden. Läßt doch mancher
selbst den Freund vergeblich klopfen, wenn er gar zu spät an die
Türe kommt. Und in China muß man mit dem Türöffnen im Dunk-
len erst recht vorsichtig sein, denn gewöhnlich sind es keine Freunde,
die spät um Einlaß bitten.
Eben hatte ich mich gestern Abend zur Ruhe gelegt, als es
an der großen Pforte rappelte. Ich hörte, wie der Pförtner bereits
mit dem Klopfenden unterhandelte und keine Lust mehr hatte, ihm
zu öffnen. Draußen bellten die Hunde, als ob Räuber im Anzüge
wären, und das viele Schießen ringsumher schien auch nicht für
die Eatz zu sein. Schnell war ich auf den Beinen und fragte zum
Fenster hinaus, was da denn los sei. „Der Kopf eines Geköpften",
rief mir der Pförtner zu. „Eben sind Leute aus dem Mandarinate
gekommen und führen das Haupt des Li-gu-le mit sich." — „Laß
die Leute zum Wirtshaus gehen, sagte ich; in so später Nacht-
stunde wird die Türe nicht mehr geöffnet." Die Sache schien mir
ein wenig verdächtig. Ich fürchtete, anstatt des toten Räuberhaup-
tes könnten am Ende lebende Räuber zum Tore hereinschlüpfen;
weise Vorsicht ist bei den Chinesen immer am Platze.
Heute morgen ist denn nun aber doch das leibhaftige Haupt
des Li-gu-le in die Residenz gebracht worden. Gestern Abend spät
wurde es dem armen Sünder vom Rumpfe getrennt, und da der Man-
darin wohl fürchtete, der Geist des Li-gu-le könne ihm während
der Nacht Lärm machen, ließ er das Sünderhaupt noch während der
Nacht an den Ort seiner Untaten bringen.
Li-gu-le war nämlich einer der Haupthelden, die im vorigen
Jahre mit einigen Tausenden Boxern die hiesige Residenz drei Tage
und drei Nächte lang bombardierten. Als sich die Zeiten geändert
hatten, fahndete der Mandarin lange vergeblich auf ihn. Nur durch
List gelang es schließlich den Schergen des Mandarins, des Übel-
täters habhaft zu werden. Als Li-gu-le seine Untaten eingestanden
und auch eine Reihe Mitgenossen angegeben hatte, hat der Man-
darin kurzen Prozeß mit ihm gemacht. Das hätte der arme Mensch
vor einem Jahre, als er mit unzähligen Gesinnungsgenossen die hie-
sige Residenz zu erstürmen suchte, wohl nicht gedacht, daß hier
so bald sein Haupt aufgehängt werden solle, zum abschreckenden
Beispiel für andere. Wir haben jedoch von dem Aufhängen Abstand
genommen, und die Büttel mit dem Haupte des armen Sünders
heimgeschickt. Unserthalben mögen es die Verwandten wieder an
K. Fiepe i, „Neue Bündel". 20
— 306 —
den Rumpf nähen, damit der Geköpfte im Jenseits nicht kopflos
vor dem Jen-wang, (Itichter in der Unterwelt zu erscheinen braucht.
Im Übrigen haben es hier die Herrn Mandarine in Bestrafung
der Schuldigen nicht so eilig und sind, wo eben möglich, bestrebt,
Milde vor Recht ergehen zu lassen. Wer sich «kaduk* halt und
sein Leben nicht durch fortgesetzte Räubereien verwirkt, hat nicht
viel zu fürchten. Unser Mandarin Siä scheint überhaupt gerne den
Ruf eines .milden Herrschers u ernten zu wollen und glaubt seine
.braven Kinder" mit guten Worten regieren zu können. Wenn
er seine Pappenheimer besser kannte, würde er ganz gewiß andere
Saiten aufziehen. Die Folgen seiner Großmutterwirtschaft machen
sich denn auch mit jedem Tage mehr bemerkbar. Die Wege sind
unsicher, da es überall von Raubern wimmelt; Verkehr und Handel
stockt ; Einbrüche während der Nacht und Räubereien bei Tage sind
an der Tagesordnung. Es ist schon eine wahre Kunst, die Brief-
boten nach Tsining und anderen Städten unbehelligt durchzubringen.
Schon zweimal wurde mir eine ganze Sendung Briefe geraubt. Der
Vorgänger des Herrn Siä, der „alte Je* (wild), machte seinem Xa-
men alle Ehre, denn er war ein wahrer Schrecken aller Bösen. Hatte
er nicht allzusehr nach dem Fette der Guten gegeizt, wäre er gmr
kein so übler Mann gewesen. Die Räuber hatten damals saure
Gurkenzeit, aber dafür stahl Herr Je selbst die „Groschen* aus den
Taschen seiner Untergebenen; ob gerecht oder ungerecht, darüber
machte er sich wenig Sorgen. Deshalb hat er sich auch einem
Räuber gleich bei Nacht und Nebel davon gemacht, seine T Schäf-
chen* aber brachte er glücklich ins Trockne.
Armes Chinesenvolk! geschoren mußt du werden. Verschone
die Wölfe, dann beißen dich die Hunde.
Puoly. den 6. November 1901.
Jetzt, wo der Friede ins Land gezogen, fangen die Leute
allmählich an, den Krieg zu fühlen. Aber das ist ja ein wahres
„Heidengeld", das uns die weißen Teufel aus den Rippen schneiden
wollen: muß das doch eine hungerige Bande sein!" Wenn die
Leute bisweilen so denken und sprechen, kann man es ihnen nicht
sehr verargen. Sie haben die Boxer nicht aufgefordert Unheil über
das Land und den „Himmelssohn" zu bringen, und .mitgeholfen"
haben sie nur da, wo die Hoffnung blinkte, etwas zu erhaschen.
Die Boxer aber haben sich nun aus dem Staube gemacht, und der
gemeine Mann kann die Lasten tragen. Wenn das noch Lasten
— 307 —
wären, die der Krieg wirklich verursacht hat! Unter dem Titel
Kriegsentschädigungen sucht man aber dem Volke auf alle mögliche
Weise Geld abzuzwicken. Den Herrn Mandarinen ist damit wieder
einmal gute Gelegenheit geboten, ihr Schäflein ins Trockne zu brin-
gen. Das meiste Geld bleibt natürlich, wie gewöhnlich, in den
Taschen der Väter des Volkes hängen. Und dabei können sie doch
nichts dafür, daß die Ausländer so exorbitante Forderungen gestellt
haben. Auf allen Klaviaturen wird herumgetappt, um das Volk zu
täuschen und dabei trocken zu melken. Alle erdenklichen Steuern
will man auflegen und versucht es bald hiermit, bald damit. Neu-
lich war gar die Rede davon fortan müsse für jedes eierlegende
Huhn Steuer bezahlt werden. Da könnten sich ja wahrlich noch
einem Miquel neue Gesichtspunkte zur Verbesserung der Finanzen
erschließen! Auch spricht man von Marktsteuern, Kopfsteuern,
Haussteuern und Salzsteuern. Die Kopfsteuer wäre wohl das beste
Mittel, um endlich einmal zu erfahren, wie viele Zopfträger es denn
eigentlich im „himmlischen Reiche" gibt. Die Salzsteuer besteht
aber bereits mancherorts. Schon suchten mich wiederholt Deputa-
tionen aus den Dörfern eines Nachbarbezirkes auf, um sich Rat zu
holen, wie sie sich das entsetzlich viele Salz, daß ihnen der Man-
darin zum Essen und zum Bezahlen auf den Hals schickte, vom
Leibe halten können. Die armen Leute sind vielfach wirklich zu
bedauern; manche konnten sich früher den „Luxus" des Saltzge-
brauches nicht erlauben, da sie nicht einmal Geld hatten, Brod zu
kaufen. Andere kauften für den halben Preis „kleines Salz" (sio-ien).
Jetzt soll Jedermann, einerlei ob arm oder reich, in bestimm ler
Zeit ein bestimmtes Quantum, Salz essen und wenn er das nicht
tut, wird ihm mit dem Bambus „Raison beigebracht". — Alles das
sind Dinge, die noch vorläufig über den Horizont der Bauern hin-
ausgehen. Wenn sie jedoch einmal begriffen haben, um was es sich
handelt, dann werden sie's genug haben, nicht nur das Salz, sondern
noch manches Andere. Der Chinese duckt. sich so lange, wie nur
eben möglich; wenn es aber einmal zu arg wird, dann bekommt
auch er es „satt". Es läge im allgemeinen Interesse, zu verhüten,
daß ihnen der Appetit nicht verdorben würde.
Unsere Bauern hier vom platten Lande haben auch nicht die
leiseste Ahnung von der Sühnemission, die Prinz Ch'un nach Deutsch-
land vollführte. Wie sollten die guten Leute auch so etwas erfahren.
Die Herren Mandarine beobachten wohlweislich silentium trictissimum,
ebenso die Gelehrten, die von dem Vorgange etwas wissen. Zei-
tungen aber, die aus nah und fern Neuigkeiten verkünden, werden
20»
— 31)8 —
vom gewöhnlichen Mann nicht gehalten, (In er sie doch nicht lesen
kann. Was das Volk wissen soll, kommt schon zu Heiner Kenntnis,
auch ohne Zeitungen und Telographendienst. Wenn z. B. ein
europäischer Prinz dem Kaiser Kuang-hsü einen Sühnebesuch ab-
gestattet hätte, dann wurden es die Spatzen von jedem Dache her-
unterschreien und man würde von den Ketten erzählen, mit denen
der arme Prinz gefesselt gewesen sei und den unzählichen Kou-t'ous,
die er vor der chinesischen Majestät habe machen müssen.
Puoly, 17. Dez. 1901.
Seit Jahren soll es nicht mehr so kalt gewesen sein, wie im
heurigen Winter. So weit das Auge reicht, ist Alles mit fußtiefoni
Schnee bedeckt und seine Kegion soll sich meilenweit erstrecken.
Die Leute sind darob sehr erfreut, besonders jene, deren Acker mit
Weizen bestellt sind. Unter der Schneehülle steht die Saat gut,
geschützt gegen Frost und Kälte ; auch kann das Vieh die Sprossen
nicht mehr abweiden. Im Winter bilden Weizenfelder gemeiniglich
die Wiesen für Kühe und Kälber, Ochs und Esel, Schafe und Ziegen.
Einige Bauern wollen freilich nichts davon wissen, indem sie behaup-
ten durch das Abweiden werde die Saat beschädigt. Dann tun sich
meistens einige Dörfer zusammen und lassen Theater spielen. „Laen
tsing chi u heißt ein solches Theater: „Verhindern (abzuweiden)
das Grüne*, nämlich den Weizen, denn anderes Grün ist im Winter
bei uns hier auf den Feldern nicht zu finden. Theaterspielen ist
bei den Chinesen das beste Mittel, eine Sache bekannt zu machen,
denn um einem Theater beiwohnen zu können, pilgert man gerne
aus weiter Ferne herbei. Auf roten Zetteln steht an den Ecken
angeschlagen, welche Strafe jene zu erwarten haben, deren Vieh
auf den Feldern angetroffen wird. Für ein großes Stück (Kuh,
Pferd oder Esel) ist meistens ein Tio zu zahlen, für ein kleines
(Ziege, Schaf) die Hälfte. Dann heißt es, sich in Acht nehmen,
aber die Nächte sind oft dunkel genug, um sich nicht attrapieren
zu lassen, während das Vieh auch im Dunkeln weiden kann. Sollte
es aber eingefangen werden, dann hat es sich natürlich „losgerissen"
oder „die Stalltüre war nicht gut geschlossen u .
— 309 —
Nur Mut! immer weiter!
Puoly, 15. Febr. 1901.
Jio freudig pochte das Herz des Missionars, als die Kunde
kam: „Zurück ins Innere!" Zurück in den alten Wir-
kungskreis, zurück zu den verlassenen Schäflein, von
Cf^SSSSÜS denen ihn die Gewalt getrennt hat. Mancher hatte kaum
zu glauben gewagt, daß „die Zeit der Erlösung" so schnell heran-
nahen werde. — Zurück also in die Heimat, mag der kalte Nord
auch noch so stürmen und die Schneeflocken ihre Reigen tanzen.
Die Witterung tat denn auch ihr Möglichstes, um die Reise zu
einer wahren Bußfahrt zu machen. „Liu la pu tsch'u möl u sagen
die Chinesen, d. h. „im sechsten und zwölften Monate soll man nicht
auf Reisen gehen." Im sechsten nicht wegen Hitze, Regen und
Überschwemmung, im zwölften nicht wegen Schnee, Frost und Kälte.
Die Vorsehung wollte es aber, daß beide Fahrten, sowohl nach Tsing-
tau als von dort wieder zurück, gerade in den sechsten und zwölften
chinesischen Monat fielen. So verschieden die Witterung war bei
Flucht und Rückkehr, ebenso verschieden waren auch die Gefühle
in der Brust des Missionars. Damals Trauer, Bangigkeit um die
verlassenen Christen: jetzt freudiges Hoffen, neuer Mut, erstarktes
Gottvertrauen.
Ja jetzt heißt es schaffen, arbeiten mit erneuter Kraft, heißt
es tätig sein, um das Zerstreute zu sammeln, das Zerstörte aufzu-
bauen; jetzt heißt es das gebeugte Rohr kräftig zu stützen, den
glimmenden Docht zu neuer Glut anzufachen. Zu alledem bedarf
der Missionar neuen Mut und der — Gott sei Dank — fehlt ihm
nicht. Nur fürchte ich, lieber Freund Leser, daß bei Dir in den
letzten Monaten der Mut ein wenig gesunken, Dein Interesse für
die Mission ein wenig erkaltet ist, besonders für die chinesische.
Vielleicht hast Du bei Dir gedacht oder gar gesprochen, es ist ja
doch Alles umsonst. Die Chinesen sind ein gar zu barbarisches
und hinterlistiges Volk. Was die Missionare heute unter vielen
Mühen und Arbeiten aufbauen, das wird nach wenigen Jahren doch
wieder in Trümmer geschlagen und alles Arbeiten ist umsonst; und
auch meine Sparpfennige, die ich für die Mission geopfert habe,
sind in einen durchlöcherten Sack gelegt. — Aber nur langsam,
mein lieber Freund, so arg ist es nun doch nicht. Vor Allem, und
das merke Dir für immer — der liebe Gott hat keinen durchlöcherten
Sack. Dein Verdienst, und wäre es auch nur ein Pfennigsverdienst,
— 310 —
ist in goldenem Schreine aufgehoben und dazu hat es der liebe Gott
noch gebucht mit unausl<~Hchban»n Lettern. Das Verdienst beim
lieben Gott, und das ist ja die Hauptsache — geht Dir niemals ver-
loren, mag es in China auch noch so darunter und darüber gehen.
Dann ferner: (flaube nicht, es «ei bei un<* nichts mehr vorhanden
aN Trümmer und Ruinen. Unsere Hauptre^idenzen mit ihren An-
stalten sind unversehrt geblieben und auch sonst noch mehrere Kirchen
und Gebetshäuser. Was aber zerstört ist, wird die Regierung wenig-
stens einigermaßen ersetzen. Und dann — und das ist wieder die
Hauptsache — das geistige Gottesgcbände in den Herzen unserer
Christen ist nicht zerstört worden. Fast alle haben treu und uner-
schrocken an ihrem hl. Glauben festgehalten. Hab und Gut hat
man ihnen geraubt, nicht aber den wahren Glauben. Ja es scheint,
als sei bei Manchem das Glaubenslicht durch den Sturm zu noch
größerer Glut angefacht worden.
Also nur Mut. mein lieber Leser und nicht verzagt. Ich meine,
Du müßtest eigentlich den Missionar aufmuntern, damit er nicht
kleinmütig werde auf seiner verantwortungsvollen Laufbahn, und
jetzt muß der Missionar gar Dir noch Mut zusprechen. Doch viel-
leicht bedarfst Du eines solchen Zuspruches auch nicht, da Du Dir
selber Mut einzuflößen verstehst und die Ereignisse hienieden immer
vom richtigen Standpunkte aus betrachtest, vom Standpunkte des
Glauben*. «Was der Herr tut. ist wohlgetan — Denen, die Gott
lieben, gereichen alle Dinge zum Besten — Wen Gott lieb hat, den
züchtigt er*. — Solche und andere Wahrheiten sind Deine Wahl-
sprüche und Du klammerst Dich daran empor. Es sind das auch
die Trostsprüche des Missionars. Er weiß, daß man ihm Alles rauben
kann, Gesundheit und Leben, nicht aber — die Krone; daß man
ihm Alles nehmen und zerstören kann, nicht aber — das Verdienst.
Es ist ja menschlich und das begreift der Missionar sehr wohl,
daß es dem Herzen wehe tut. wenn wir die Arbeiten unserer Hände,
die Ersparnisse unseres Fleißes gleichsam mit einem Schlage ver-
nichtet sehen. Aber soll uns das entmutigen! Zahle die Millionen,
die auf dem Meeresboden vergraben liegen, über welche die Wogen
des Oceans hinwegrauschen, die keine menschliche Hand heraus-
zuheben im Stande ist. Und diese Millionen werden alle Jahre ver-
mehrt durch Schiffe, die ihren Untergang finden und ins nasse Grab
hinabsinken mit allen Schätzen, welche sie enthalten. .Doch traurig,*
denkst Du. — .Ja wohl,* aber Du denkst nicht: Man solle die
Schifffahrt doch einstellen, dann gingen auch keine Schiffe mehr zu
gründe.* — Wie das Herz des Landmannes blutet, wenn er seine
— 311 —
Saat vom Wetter zerschlagen am Boden liegen sieht. Wie viel
Arbeit und Schweiß hat es ihn gekostet, ehe er sie so weit gebracht ;
jetzt sind seine Hoffnungen zerstört. „Doch traurig," denkst Du.
— „Ja wohl a — aber Du denkst nicht: „Der Landmann sollte doch
das Land nicht mehr bestellen, dann könnte ihm der Hagel auch
seine Saat nicht vernichten. u Wie oft muß der Winzer vergeblich
düngen, pflügen, hacken, schneiden : seine Reben bringen ihm keine
Trauben. Aber überläßt er deshalb den Weinberg seinem Schicksal?
Nein, er hofft immer von neuem, und im Frühlinge pflegt er mit
neuen Hoffnungen seine Reben. — So in der Natur; ähnlich ist es
auf geistigem Gebiete. Glaube nur, lieber Leser, auch in Europa
hat es nicht immer so „glatt* abgegangen. Die Martyrer-Akten
liefern dafür ein beredtes Zeugnis. Unsere herrlichen Dome und
Gotteshäuser sind vielfach erbaut auf zerstörten Kapellen, auf Boden,
der mit Martyrerblut getränkt wurde.
Darum nicht verzagt und sollte es gar noch ärger werden wie
im verflossenen Jahre. Fahre fort Dich zu interressieren für das
hohe Werk der Glaubensverbreitung. Fahre fort zu beten, zu
opfern, unbekümmert um das, was noch kommen mag:
„Nur stille liebes Herz,
Und laß den Stern der Hoffnung, der uns blinket,
Mit frohem Mut und klug entgegensteuern."
*^9i^^X^£^r-
Maria Helferin der Christen!
Ijn der Residenz Puoly im Speisezimmer hängt eine Tabelle,
i worauf Folgendes zu lesen ist :
| Gelöbnis.
JIM Gefertigter gelobte feierlich im Angesichte der ganzen
Gemeinde Puoly und von nahezu 1000 Flüchtlingen, das Fest
Maria Auxilium Christianorum (Monat Mai) fünf Jahre lang feier-
lich mit 13stündigem Gebete (Expositio Stmi. Sacramenti) begehen
zu wollen, wenn die Residenz Puoly bei der großen Verfolgung
unversehrt bleibt.
Puoly, den 8. Juli 1900.
Jos. Freinademetj,
Provicar.
— 312 —
Gestern nun feierten wir das Fest „Maria Hülfe der Christen*
und zwar so feierlich als möglich. Zwar bot der Garten wenig
Blumen — diese Frühlingskinder wollen bei uns so recht nicht
gedeihen in dem versalzenen Boden — und auch die Flur war öde
und grau, denn die Sonne hatte Alles ausgetrocknet. So mußten
denn künstliche Blumen und viele Kerzen helfen, um das „Wunder-
bild" der lieben Gottesmutter würdig zu zieren. Die Christen waren
recht mit Feldarbeit beschäftigt, aber jeder opferte doch freudig
und gerne einige Stunden, um sie in stiller Andacht zu verbringen
vor dem Allerheiligsten. Oben auf dem Altare stand das Bild der
Gottesmutter und manches tränenfeuchte Auge richtete seine Dankes-
blicke zur Gebenedeiten empor. Sie, die mächtige Schutzfrau der
Christenheit, hat in hart bedrängter Zeit die Gebete der Flehenden
gnädiglich erhört und hat ihren mütterlichen Schutzmantel über
Residenz und Gemeinde Puoly ausgebreitet. Hätte uns Maria nicht
beschützt und zwar in so auffallender, wunderbarer Weise, dann
wäre die Wiegenstätte der Mission in Süd-Schantung ohne Zweifel
dem Erdboden gleich gemacht und mit ihr zugleich die ganze
Christengemeinde ruiniert worden. Zur Erbauung aller frommen
Kinder Mariens — wozu der freundliche Leser hoffentlich auch
gehört — sei der Vorgang hier kurz erzählt:
Bekanntlich kehrte der hochw. Herr P. Provicar Freinademetz
mit Bruder Ulrich auf der Flucht nach Tsingtau gleich am ersten
Tage wieder in das Innere der Mission zurück, weil sich der hochw.
Herr Pater nicht von der Heerde trennen konnte, für die er damals
als Vertreter des Bischofs die Verantwortung hatte. Der gute Bruder
Ulrich aber wollte den Provikar gerne begleiten, da er hoffte, als
Märtyrer zu sterben, weshalb ihm denn auch seine Bitte, mit um-
zukehren, gewährt wurde. In Puoly angelangt, fanden sie die ganze
Residenz in größter Aufregung. Viele Christen glaubten der Über-
macht der Boxer gegenüber doch nicht Stand halten zu können
und waren eben im Begriffe, die Residenz zu verlassen, um sich
zu heidnischen Verwandten zu flüchten. Aber kaum waren sie
einige Stunden weit fortgezogen, als Boxer über die Flüchtlinge
herfielen, sie sämtlicher Habe beraubten und einen Christen tot-
schlugen. Schleunigst kehrten die Armen wieder um nach Puoly;
man sah ein, daß Fluchtversuche unmöglich waren. Sich vertei-
digen bis aufs Blut und dann sterben für den lieben Gott, das war
nun die Parole Aller. Die noch nicht getauften Katechumenon
wurden schnell vorbereitet und dann getauft; alle anderen Christen
beichteten, kommunizierten und bereiteten sich auf den Tod vor.
— 313 —
Täglich aber erschienen an der großen Pforte Häscher des Manda-
rinen, der in immer strengeren Befehlen Räumung der Residenz
verlangte. Zu guterletzt setzte er einen Termin fest, bis wann sämt-
liche Christen die Residenz zu verlassen hätten, widrigenfalls er
mit seinen Soldaten im Vereine mit den Boxern die Residenz an-
greifen und zerstören werde. Daß noch zwei Europäer darin seien,
davon hatte der Mandarin keine Ahnung, sonst hätte er zweifelsohne
schon längst losgeschlagen. Der hochw. Herr Provicar überlegte
nun mit den anwesenden chinesischen Priestern und den Christen-
vorstehern, was am besten zu tun sei. Alle waren der Meinung,
die Residenz müsse der Übermacht des Feindes unterliegen. P.
Provikar und Br. Ulrich möchten auf verdeckten Wagen fliehen, da
für sie bei einem Überfalle überhaupt nicht an Rettung gedacht
werden könne. Die Christen aber wollten sich zur Wehr setzen
so lange es möglich sei. Noch immer schwankte P. Provikar in
seinem Entschlüsse, der Abschied von den Christen schien ihm
unmöglich. Nur der Umstand, daß die Christen gegen die Soldaten
des Mandarinen kämpfen wollten, wozu er seine Einwilligung nicht
geben zu dürfen glaubte, brachten ihn zur Überzeugung, daß es
wohl das beste sei, dem allgemeinen Drängen nachzugeben und
zu fliehen. In Betreff der Waisenkinder hatte man schon einige
Tage zuvor die nötigen Vorkehrungen getroffen und sie bei guten
Christen unterzubringen gesucht resp. die größeren zu ihren Ver-
wandten geschickt.
In nächtlicher Stille verließen die beiden Flüchtlinge die Resi-
denz — der gute Bruder das zweite Mal — und gelangten nach
einer 7tägigen Reise auf verdeckten Schiebkarren bei größter Som-
merhitze glücklich in die cirka 80 Stunden entfernte Residenz Wang-
tschuang an. Die Strapazen der Flucht, die Gefahren bei Tage
und Nacht könnten am besten die beiden Flüchtlinge selber schil-
dern, wenn ihnen die Bescheidenheit nicht den Mund schlösse ; nur
bei Gelegenheit erfährt man das eine oder andere davon.
Nach Abzug der Europäer wurden Aufregung und Unordnung
in der Residenz mit jedem Augenblicke größer. Ein Teil der
Christen wollte gleichfalls flüchten, ein anderer Teil zog es vor, zu
bleiben. Jene, welche fliehen wollten, suchten sich von dem Gute der
Residenz (Kleider etc.) das anzueignen, was ihnen gut schien.
(„Wenn die Residenz zerstört wird, fällt doch Alles in die Hände
der Feinde", sagten sie sich.) Es hätte nicht viel gefehlt, dann
wäre unter den Christen selber Streit und Meuterei entstanden,
und der lauernde Feind hätte um so leichteres Spiel gehabt. Doch,
— 314 —
was war das ! Es läuteten ja die Glocken und in der Kirche horte
man nichts wie Weinen und Schluchzen. Alles stürzte ins Gottes-
haus: „Liebe Gottesmutter, hilf uns", flehte der eine. „Liebe
Gottesmutter, errette uns", betete der andere. Das Bild der Him-
melskönigin, eine mittelgroße Figur, welche die Gottesmutter mit
gefalteten Händen in betender Stellung darstellt, war der Brenn-
punkt, auf den alle Augen gerichtet waren — ihren Augen entquol-
len Tränen: Maria weinte.
Wer hat das Bild weinen sehen? Alle, die in der Kirche
versammelt waren, freilich lauter Chinesen. Ob ihre eigenen Augen,
die von Tränen überliefen, auch in den Augen des Bildes Tränen
zu sehen glaubten, ob also das Gesehene auf Täuschung beruhte
— das wage ich nicht zu entscheiden. Tatsache aber ist, daß von
diesem Augenblicke an alle Christen eines Herzens und eines Sinnes
waren, und daß Niemand mehr den Gedanken hegte, die Residenz
zu verlassen. Die liebe Gottesmutter wird uns schützen, so rief der
eine dem anderen zu; nur mutig gekämpft. Und wie mutig die
Christen gekämpft und wie gnädig die Himmelskönigin die Christen
und die Residenz beschützt hat, das hat die Folge bewiesen. Zu
drei verschiedenen Malen suchten die Boxer in einer Übermacht von
vielen Tausenden die Residenz anzugreifen, aber jedesmal wurden
sie zurückgeschlagen. Die Rebellen sollen zu Haufen gefallen
sein, auf Seiten der Christen aber war kein einziger Toter.
Sobald die Kunde von diesen wunderbaren Vorgängen nach
Wang-tschuang kam, beschlossen die beiden Flüchtlinge, P. Provicar
und Bruder Ulrich sofort wieder nach Puoly heimzukehren. Schon
am andern Tage begaben sie sich in aller Frühe auf den Weg.
Und auch die Heimreise verlief glücklich, obwohl die Gefahren
noch größer waren, als das erste Mal.
Seit dieser Zeit ist das Bild der hehren Gottesmutter Gegen-
stand allgemeiner Verehrung für die Christen von Puoly und der
Umgegend. Schon Mancher will in allerlei Nöten Hilfe und Trost
erfahren haben. Ich führe nur ein Beispiel an aus nächster Nähe
und von gestern.
Ein Kind in unserem Waisenhause, ein Mädchen von 8 Jahren
war vor Jahresfrist blind geworden. Auch wurde sein Allgemein-
befinden mit jedem Tage schlechter ; jeder, der das Kind sah, glaubte,
es müsse sterben. Als nun das Fest der lieben Gottesmutter her-
annahte, ermahnte die Vorsteherin des Waisenhauses das Kind, es
solle einmal die liebe Gottesmutter recht vertrauensvoll und an-
dächtig anflehen; die sei gut und mächtig, die könne es noch
— 315 —
gesund und sehend machen. Ein anderes Kind führte die kleine
Blinde in die Kirche. Dort kniete sie vor dem Bilde nieder und
betete: „Liebe Gottesmutter, ich bin eine arme Waise, habe sonst
Niemanden, der mir Mutter ist. Sei Du meine Mutter hilf, daß ich
sehend werde ; ich will auch immer fromm und brav sein und Dich
niemals beleidigen. u Als das Kind so gebetet, sprach es zu dem
anderen Mädchen, das neben ihm kniete: „Ich kann sehen \ u Ohne
Führung ging es dann in das Waisenhaus und überraschte auch die
Vorsteherin mit dem freudigen Rufe: „Ich kann sehen \ u —
Zu dem Vorfalle kann ich Folgendes konstatieren: 1. Daß
das Kind vorher wirklich nicht sehen konnte, und 2. daß es nun-
mehr sieht. Ob es durch ein Wunder das Augenlicht zurück erhalten,
will und kann ich nicht entscheiden. Weshalb übrigens sollte die
liebe Gottesmutter nur ihren bedrängten Kindern in Europa wunder-
bar zu Hilfe kommen und nicht auch den armen Chinesen, wenn
sie es verdienen! —
Maria, Hilfe der Christen, bleibe uns auch in Zukunft eine
gute Mutter: beschütze gnädiglich Puoly und die ganze Mission!
O OCCCC** **»
■>!
Zwei Tage Aufenthalt.
SB
ntef Regen rieselt hernieder, und vom Dache plätschert es
schon seit gestern. Viele Tropfen vereinigen sich mit den
Jl Pfützen da unten ohne Aufsehen und Geräusch, nur dieser
oder jener klatscht auf die Fläche und schlägt eine Blase.
Aber nicht lange glänzt das luftige Gebilde der nächste Tropfen
zerschlägt ihn : Tropfen und Blasen sind verschwunden. Im Leben
hienieden geht es ähnlich so. Es ziehen die Menschenkinder über
die Bildfläche; der eine oder andere macht von sich reden, man
nennt seinen Namen, und die Zeitungen feiern ihn. Aber es dauert
nicht gar lange, dann kommt der Tod heran, und den er faßt, muß
folgen. Die Zeitungen bringen die Todesanzeige, einen Nekrolog,
und damit ist er vorläufig abgetan. Wird er länger genannt und
spricht man noch nach Jahren von ihm, war es kein gewöhnliches
Alltagskind mehr Aber auch der Tropfen Wasser, welcher
still und unbemerkt sich mit dem Elemente da unten verbindet, hat
gerade so gut seinen Zweck erfüllt wie jener, der klatscht und eine
Blase schlägt. Wie so mancher verdient gelobt und gefeiert zu
werden, — aber unbeachtet zieht er vorüber, und doch hat er nicht
— :-:n" —
i. •:;-•;.;* »r-:i»-i/. -'»:.••••••: m.» r *ja2>*z ►eiir?' <nim. ~W*?Ä3e -*ihiup*n
..•:■■ fii;.,»r' ji'.-:i •■uinitniüf!T*?-jii :«rr
i..' :.<i.l ::.:ir v.*;.V f: t (h* V *^r* ••■•«^Ilü*- -»IUI Ulir Ü«r JWXZIT*
j*-r*r.ri ?.» - ■".li-.» inii..^-,--» . ,i n.j-:n: 1k iiar nun. ädfttwreiif Zhi;.
•:•-»: j-Ti*. .b«f.r<i-;ir;«i!«r»'i ■.i::.:i.«tv1i*m um u*!n li«s5»i_ iiartiiziMCiuiUf?!.
■ i»- V«u;r-i i;«»f r:i »?iii- *rr— :*:*■ zr-u-icxf^i^n. ätt mwm Ami-
iii'».«»i*?i"i ii "lii" ' !•— i»;.-^ruiiu* uu»-:irfii'^r*!i. Vrt ot: aa^mt i«L
-:j •••»• *r-.--*r-H.*Miwv «Ir:j»f»f j^.u*r -nrrii* -ftimissL vrareL ,pr«ma*
j.tmi» : .*»?(iiii(^-i»!i.* V *»in r;i uam alt-- -m*»i armer ChinH**ei
i« ■*;.•! •..>»?! -in im ■•••mi»mi v»* j T , '* j itt* j siL— *»i mit ^»»-niuiiL 111. Viiwe?
mit ^Tiiitiniu. v ii- (!»•■ nm*r»- -£..irfri*?i'.. , i v»»-n*r uu in. -wsIiht uihc
nui'.ri» fi»» b«ii«ii»:i»f •■-*:€: ur* inu , :i"*i n m*»in*»ii ff**finrH- uhc mtoL imic
#'.r rii» — •r-nii-» *vt,» v »»vi. uuii uu tit* inm*. t* mt^iiüflir. uuf iuu?ws-
j'i-vfir i*»* V t»'»M... i : .-r*»:uii" iiiiiL 7'inzirat ttu: *^ emirt- Ihi
'i'tii' r.li* t'.'lii. tit. »- lllii'^-lnUi** 1 ! vir».. Ulli UHRt IMC TütStliBmiL
üi'.-ir .•'-!*' üi'.u-2'i.»*: u»'V i^i. vir* *- «*i':il*!?ilüL Q&ZL iTfifirinUDflL.
•*j i.Mi'i!^ ,.-i U',':\ i'.'wvÄi*:i in«: »•Uiä:. ,, ur*M». wHimeiBiulj :mflmt'
, : \.\^»'i..i^r.»!r>M iv :,, -n»'iri**-8* at:-:ni:u:r vir»»i». at auf Wamst fifc
li-ni»" int..* ,.ji '. ; n v -'t^üiib^uii 1 i.w jvi nun! äiMSL dtm ITtiäl
iiii"iii x.i»!iti»" v »-:i*hv:i ;;i iVHUi^i. uiit dl 1 jLUKimuniBiifarfll ksmfll
* .u*:i ii-*" iii» ,, ii»\' . : :. sJ r^.» J ■ , •■£ , ■ , ■ siuT» 1 i^i üi"x Hrrunii zn5riöäflE
/.i ü-.'-i v b* v,j /:.ki jr-nu';!.!* r*r au* I»i« , :l hie h» icoas noch laiir
'«■'..»■• t.v. '.•a-Fi.:. rf . l - - Ot v>->i '■■•TvLir i -?»: Ai^^p^ÖKi^wynwaaEnf«
• . i . i . ll ... ..^i., ; ,, : iN> £ . .._„. IV - : i- r ..-.. r . L . : .. Ti*-« xTtDÜuitfÄ. iki*
v.t* -:.i.;* 7.".**.- "..-• ■£'.■: .i^-; i.^ :•■■ -n H :*ri V.i r-:x TY'akfbtmri
?■•"'. :.V-*.t v .". ;/..**,.-.• i s«:;„.-;_:-ifc,T. :< ^' £"fc.T:Z 1LT?2 £■*? ix fe G*-
1 •** *^ V-? Z- . >-*-.-Li--: : . •^■■^r-i-fc.-.r*-- : r r ^fcT'-x " fc iri*-li^«n wrik«.
: '- --•-.■> r M.MTr ;>•-; '.--. jV.\\ : --.-; -*.; T ■■■!•:. -*f.*i>T» bis Ab
•>.: # ^v'-* ^/- - .: ;>•..-.« v;. --* -v .rrs- ':.\r~\ k^r.i-r:. « ninlich auch
• /_ - ■■■•■• Hv//-^- : ; ö-v Fr«-. -'.: 7^ ; --4ju:m M d«r Hui.
— 317 —
dessen Ehehälfte keinen Zuckerverkäufer über die Straße gehen läßt,
ohne zu verkosten, ob seine Sachen auch gut sind. Putzmacher-
innen gibt sie allerdings nichts zu verdienen, da sie sich selbst den Putz
macht, was bekanntlich ein leichtes ist, da die Mode nicht wechselt.
Beim Nachbar nebenan wird geflucht und Gift und Galle ver-
schenkt in den gröbsten Ausdrücken. Ich fürchte jeden Augenblick,
einer der Streitenden mache Ernst mit seiner Drohung und spalte
seinem Gegner das Haupt oder tue Dinge an ihm, die noch schlim-
mer sind. Und doch sind es Brüder, die da streiten und sich
gegenseitig verwünschen. Man will die Erbschaft teilen; das ist
immer eine heikle Sache. Tsing ktien naen tuen tja-u-sche, sagt
der Mandarin, wenn ihm ein Erbschaftsprozeß unterbreitet wird:
„Häusliche Angelegenheiten gerecht zu entscheiden, ist selbst einem
klugen Mandarin kaum möglich/
Während der Regen einige Augenblicke aussetzt, spricht ein
alter Chinese vor, der sich als „Dorf große " präsentiert. Er hält
mich anfangs für den verstorbenen Bischof von Anzer, den er
schon oft gesehen und gesprochen habe, und er ist nicht wenig
bestürzt, als ich ihm mitteile, der Bischof weile nicht mehr unter
den Lebenden. Eingehend erkundigt er sich, wann und wo der
„Friedensbischof" {ngan — Friede, phonetisch = Anzer) gestorben sei.
Er weiß so viel zu erzählen, wie der Bischof immer so gut und
herablassend gewesen und ihn behandelt habe als einen lieben
Freund. „Weißt du auch," fragte ich den Alten, „wo dein Freund
jetzt weilt?" „0, der ist sicher auf einen wonnigen Platz gekom-
men, irgendwohin, wo es gut ist. Der hat ja sein Lebtag nur Gutes
getan, und wer Gutes tut, wird belohnt." „Möchtest du nach deinem
Tode nicht mal gern deinen Freund sehen und auch an den won-
nigen Ort kommen?" „0 wie gern; aber das wird nicht möglich
sein." „Gewiß ist das möglich, aber du mußt den nämlichen Weg
gehen, den der Bischof gewandelt und den er dir sicher schon ge-
zeigt hat." „Ich verstehe nicht, was das für ein Weg ist." „Das
ist der Weg der wahren Lehre; du mußt Christ werden und dich
aufrichtig bekehren. Tust du das, dann darfst, du hoffen, nach
deinem Tode auch dorthin zu kommen, wo es gut ist, und du wirst
dann auch deinen Freund wiederfinden." „Ja wenn das möglich
wäre, wollte ich ja gern Christ werden ; ich meinte immer, das habe
keine Eile; aber ich bin jetzt doch schon alt, und es ist vielleicht
gut, bald Ernst damit zu machen."
Noch lange unterhielt ich mich mit meinem Besucher. Gute
Worte und Versprechungen hat er genug gegeben, ob es ihm aber
— 318 —
ermt damit ist. muH die Zukunft zeigen. Nur schade, daß die
Chinesen >o ^ern naeh dem Munde reden! Im Kerzen denken sie
oft ganz anders, und die KiittäuMhuiig hinterher wirkt nicht selten
wie ein kalter Wasserst ralil.
Kin gewaltiges Drohnen wahrend der Nacht labt mich empor-
fahren. Nicht weit von der Herherge entfernt ist eine Hauswand
eingefallen. Die Fundamente waren vom Regen durchweicht, und
da dieselben aus Luftziegeln befunden, gaben sie nach. Zum Glück
war das Dach noch eigens dureh llolzaäulen gestützt, sonst wurden
die Kinwohner unter den Trümmern begraben liegen. Jetzt sind
wie mit dem Schrecken davongekommen, nur ein Schweinchen, das
in der Nahe der eingefallenen Mauer lag, hat sein Leben lassen
müssen. Die Kinder scheinen darüber ganz untröstlich zu sein;
sie stehen da im Hegen neben dem Tiere und weinen bittere Tranen.
Eben kommt mir eine Arme in den Sinn, die ich gestern auf
dem Damm des gelben Flusses gesehen habe. Ihre Behausung
bestand aus einigen Fetzen Strohmatte, welche durch Sorghostengel
zu einem Dache vereinigt waren. Darunter lag sie auf etwas Streu
gebettet, ein Kochtopf stand draußen; darin machte sie sich das
Essen. Doch hatte? sie schon seit drei Tagen kein Feuer mehr
angelegt, weil sie malariakrank daniederlag und niemand da war,
der ihr einen Dienst erwiesen hätte. Ihr Mund murmelte nur mehr
leise Worte des Schmerzes; aber in den groben Augen spiegelte
sich da» ganze Bild einer schmerzdurchwühlten Seele. Nicht nur
war ihr Heim von den Fluten des Huangho weggespült nebst Hab
und Out — ihr Liebstes, der einzige Sohn, hatte auch sein Leben
dabei gelassen, und dieser Schmerz war es. der besonders stark an
ihrem Herzen nagte.
Mein Entschluß ist gefaßt. Auch wenn das Wetter sich nicht
aufklärt, geht es morgen weiter, da übermorgen Sonntag ist. Hier
in dieser elenden Wohnung ist es unmöglich, die h. Messe zu feiern.
Auch fühle ich schon das Malariafieber herannahen. Dem nassen
Zimmerboden entsteigen alle möglichen Dünste;, und die lauwarme
Temperatur erzeugt Krankheitsstoffe.
Lan~uo nennen die Chinesen Untiefen auf den Wegen, die
das Wasser sich gegraben. Man kann dieselben gewöhnlich nicht
entdecken, da Wege und Felder während der Regenperiode nur
mehr einem See gleichen. Lanuo heißt, „Wellenhöhle*, kann aber
auch „ Wolfshöhle u bedeuten. 1 ) Wenn nun der Karren in so eine
'; In .Slawonien wird eine Pfütze, die mit einer Luftblase leicht berührt
itst, auch «,Wolf* genannt.
— 319 —
Wellenhöhle gerät, schlägt er fast regelmäßig um, und dann bleibt
einem kaum mehr ein Faden trocken am Leibe und von den
Habseligkeiten im Wagen. Deshalb haben die Fuhrleute vor den
Lan-uo im Wasser die nämliche Scheu wie vor den Lan-uo in den
Bergen: wer hineinstürzt, kann von Glück sprechen, wenn er mit heiler
Haut herauskommt. Mein Fuhrmann versteht sich recht wohl auf
die Kunst des Wagenlenkens, aber dennoch gerieten wir einmal in
eine Wellenhöhle. Von außen und innen in einer übelen Verfassung,
langten wir endlich in Tätja an. Prompt setzte dann das Fieber
ein und führte das geplagte Menschenkind zuerst in die Regionen
des ewigen Eises und dann zum Aequator nach Afrika; drei Dosen
Chinin brachten es zurück in die gemäßigte Zone und stellten das
Gleichgewicht wieder her.
Auf der Reise nach Tjüfu.
'enn nicht Dürre im Lande ist, dann brechen mit Gewalt
§ die Wasser ein; wenn das Land aber weder an Dürre
noch an Überschwemmung leidet, dann wütet sicher die
f^jjSSgJJj^ Revolution. (Pu han tsiu jen; pu jen tsiu han; pu jen
pu han, tsiu tuen. Sprüchwörtliche Redeweise.) Der so sprach, war
ein chinesischer Altvater, dem des Lebens Mühsale schon manche
Furche auf die Stirne gedrückt und die spärlichen Haare völlig
gebleicht hatten. Er saß auf einem Flußdamme im Kreise seiner
Familie und der wenigen Habseligkeiten, die man aus dem zusammen-
brechenden Hause gerettet hatte. Es waren mit ungestüm die Flu-
ten des Kaiserkanals hereingebrochen, da die Wälle dem Andränge
des Wassers keinen genügenden Widerstand zu bieten vermochten.
Die gelben Fluten wälzten sich durch den Dammbruch in die Felder;
in wenigen Stunden sah das Auge, soweit es reichte, nichts als
Wasser; die üppigen Saaten waren vernichtet, nur der Sorgho
streckte hier und da seinen schwarzen Aehrenbüschel aus dem
Wasser empor. Wie ich aber auf den Damm gekommen zu
den Unglücklichen, das soll der freundliche Leser sogleich
erfahren.
Pechvogel, wie ich gewöhnlich auf Reisen bin, sollte ich auch
auf dem diesjährigen „ Sommerausfluge u das Pech haben. Meinen
Herrn Konfrater, P. T., dem ich den Begleiter zu machen hatte,
machte ich sogleich auf die fatale Eigenschaft aufmerksam. Er
H
— 320 —
meinte dann, ob ich vielleicht am 13. April geboren sei. Nein doch
nicht am 13. April, aber am 3. „Na" sagte er, „dann war es um
zwei Tage zu spät."
Unser Keiseziel hatte dem Heiligtume des „heiligen Mannes"
gegolten, des Konfuzius, seinem Grabe nämlich und seinem Tempel
in der Stadt Tjüfu. Mein Konfrater war weit im Süden Chinas
tätig, und da ihn einmal das Schicksal nach Schantung geführt,
mochte er nicht gerne die Gelegenheit versäumen und wollte alles
„Sehenswerte mitnehmen". Als gründlichen Forscher in den klassi-
schen Schriften des Konfuzius mußte ihn natürlich auch der klassi-
sche Boden besonders interessieren. Auch in China gilt es : Je wei-
ter vom Heiligtum, um so größer das Verlangen danach. Jeder
studierte Südchincse fühlt sich glücklich, wenn er einmal das Land
des „heiligen Mannes" betreten darf, während zahllose Chinesen,
die kaum eine Stunde von Tjüfu entfernt sind, kaum je im Leben
das Heiligtum des Konfuzius und sein Grab besuchen gehen.
Als wir dann alles Sehenswerte genug besehen und bewundert
hatten — der eine mehr, der andere weniger: jeder gemäß seiner
äußeren oder inneren Disposition — wollte mein Konfrater auch noch
gerne den Tempel des Mentius aufsuchen, in der Stadt Tschouhien.
Da die Reise bisheran so glatt verlaufen, meinte er, mein Geburts-
tag, der 3. April, sei wohl ein Sonntag gewesen.
Der Weg von Tjü-fu nach Tschou-hien beträgt 50 bis 60 Li.
Die Tour war miserabel genug; der Wagen ging meistens bis an
die Achse durch Schlamm und aufgeweichte Erde. Daß er nicht
stecken blieb, war Ehrensache der vier kräftigen Maulesel, die sich
um so mehr anstrengten, je näher wir dem Ziele kamen. Am Mittag
war dasselbe erreicht, und während die Tiere ihr verdientes Futter
bekamen, besuchten wir die Pagode. Mentius, der „Heilige zweiter
Kategorie", (ja-scheng) ist als solcher gut erkenntlich. Alles ist in
weit bescheidenem Verhältnissen gebaut und angeordnet im Vergleich
zur Pagode des Konfuzius, des „Heiligen sondergleichen". Nur die
Bäume machen keinen Unterschied zwischen den beiden Heiligen.
Mir wollte es fast scheinen, als ob die Bäume in dem Mentius-Hain noch
kräftiger und größer seien, als bei den Tempelanlagen des Konfuzius.
Die „Herrlichkeiten" waren bald abgeschaut; zu guterletzt auch
noch ein Wunderbaum, „der Krankheiten heilt, besonders wenn sie
sich auf das Herz beziehen" (Sin-li-t'öng). Man war freundlich
genug, uns etwas trockenes Holz von dem Wunderbaume anzubieten,
um es als Heilmittel mitzunehmen. Wir schlugen die Medizin indes
bescheiden ab: unser Herz war noch guter Dinge, nur der Magen
— 321 —
knurrte; aber auch er sollte bald befriedigt werden. Als wir in
die Herberge zurückgekehrt waren, trug der Wirt allsogleich Table
d'höte auf: Knoblauch, Bohnenkäse, Suppe, chines. Eier, und dgl.
— lauter leckere Sachen für zwei in China ergraute Missionare.
Nachdem wir dann gespeist hatten, hieß es heimfahren. Eine
drückende Hitze machte sich fühlbar; daß Regen dahinter steckte,
war vorauszusehen. Ich wäre deshalb lieber im nächsten Dorfe
geblieben, wo sich eine geräumige Herberge befand, zumal die
Sonne zur Rüste ging. Mein Herr Konfrater aber entschied, weiter
zu reisen. Es wird nicht regnen, sagte er so überzeugend, als sei
er ein Wetterprophet, und daß man es ihm glauben mußte. Also
nur weiter! Zunächst hieß es, über einen Fluß setzen. Ein Schiff
war nicht vorhanden, deshalb mußte er durchwatet werden. Dienende
Chinesengeister waren bald zur Stelle, welche zunächst die beste
Fährte ausfindig machten, wo die Karren fahren konnten, ohne im
Sande zu versinken. Die Sache schien mir doch nicht recht geheuer,
und ich hätte lieber aussteigen mögen, um durch das Wasser zu
reiten. Die Chinesen aber baten uns, wir möchten ruhig im Karren
bleiben, es würde alles gut gehen. Hinein denn ins Wasser! „Fuhr-
leute, vergeßt ja nicht, gut auf die Tiere zu schlagen, a mahnten
noch die Führer; „wenn die Karren auch nur einen Augenblick
anhalten, so versinken sie im Sande. u Also, „holiah hott, holiah
hott", immer weiter. Schon sind wir in der Mitte des Flusses, da
sitzt der Deichselesel mit allen Vieren fest im Sande. Alles „holiah
hott* und alle Prügel bringen ihn nicht mehr heraus ; im Gegenteil
scheint er aus der Not eine Tugend machen zu wollen und läßt
sich ruhig im weichen Sande und dem lauen Wasser zum sommer-
lichen Bade nieder. Die Maultiere haben im allgemeinen alle ihre
Launen, und was das eine tut, tut das andcie in der Regel mit.
Als ich mich umsah, erblickte ich auch den Karren meines Kollegen
im Wasser stecken. Die Chinesen hatten heillose Angst und bemühten
«ich au* allen Kräften, uns auf das Trockene zu bringen. Dort
warfen sie sich auf den Boden und baten um Verzeihung, „weil sie
uns so schlechte Wege geführt hätten". Dann ging man daran,
Tiere und Karren aus dem Flusse zu holen. Der Vorspann einiger
Pferde brachte die Gefährte wieder ins Rollen, und auch die Esel,
durch das Bad gekräftigt, machten Anstrengungen, herauszukommen.
Unsere Habseligkeiten waren natürlich naß bis auf den letzten
Faden, und damit auch der obere Korperteil zu dem unteren in
das passende Verhältnis komme, setzte sofort ein milder Regen ein.
Das Übersetzen des Flusses hatte natürlich viel Zeit in Anspruch
K. P i e p e r , „Neue Bündel*. 21
— 322 —
genommen; schon fing es an zu dunkeln, und noch hatten wir einen
Weg von mehr als drei Stunden vor uns. Ich faßte den Entschluß,
niemals mehr auf Wetterpropheten zu hören; mein Herr Konfrater
aber hat vielleicht den Vorsatz gemacht, nie mehr das Wetter zu
prophezeien. Zum Glück fanden wir nach vielem Herumfragen
noch eine kleine Herberge. Die Tiere mußten draußen im Regen
stehen, uns aber bot sich Unterschlupf in einer armseligen Hütte.
Zum Willkommen stieß ich erst gewaltig mit dem Kopf gegen einen
Balken, denn es war dunkel in dem Loch. „Der Balken gibt nicht
nach," meinte mein Konfrater; ich möge doch nicht allzu eindringlich
dagegen rennen. Auch war die Hütte feucht und dumpf und
geschwängert mit allerhand Dünsten; Schwärme Moskitos aber
brachten uns ein Abendständchen. Wohl hatte ich ein Netz bei mir,
um mich zu schützen gegen die frechen Blutsauger, aber das Netz
war naß und unbrauchbar geworden. Mein Kollege begnügte sich
mit etwas Thee als Abendbrod; ich bekam einige Eier und Mehl-
nudeln. Eine interessante Unterhaltung würzte indes das frugale
Mahl, und wir plauderten bis spät in die Nacht. Das war übrigens
auch das beste, denn an ein Schlafen war bei den Moskitoschwär-
men nicht zu denken. Als wir es endlich dann doch versuchten,
ging der Kampf los. Der Schlaf suchte seine Rechte, den Moskitos
aber gelüstete nach unserem Blute, und sie behielten die Oberhand.
Der Schlaf zog sich besiegt zurück. Wir erhoben uns in aller Frühe,
und mein Herr Kollege donnerte zum Morgengruße mit seinem
Denkerhaupte gegen den Zimmerbalken. „Der gibt ja nicht nach/
belehrte ich ihn ; „lassen Sie doch den armen Balken in Frieden."
Nach einer halben Stunde saßen wir auf, es war eben hell genug
geworden, den Weg zu unterscheiden. Gegen 9 Uhr langten wir
in Tsiniug an; es war ein Sonntag, und wir bereiteten uns sogleich
auf die li. Messe vor.
Von Tsining gedachten wir nach Tätja zu fahren; das ist ein
Weg von nur 15 Li, aber venenum in cauda: das dicke Ende
kommt nach. Kaum waren wir eingekehrt, da setzte ein gewaltiger
Regen ein, wie er wohl nur im gewaltigen China fällt. Drei Tage
und drei Nächte regnete es, und nicht piano, wie sonst die meinten
Landregen herunterkommen, sondern fortissimo, als habe der Him-
mel die vorsündflutlichen Schleusen wieder geöffnet. Was so ein
langer und starker Regen für Folgen hat, ist leicht zu denken.
Die Straßen wurden zu Flüssen, die Felder aber verwandelten sich
in Seen. Wessen Haus nicht über seinem Haupte zusammenbrach,
konnte sich glücklich schätzen; solche Glückliche aber, die keinen
— 323 —
Regenschirm im Hause aufzuspannen brauchten, gab es nicht viele.
Sogar neugebaute Häuser mit Pfannendächern fielen ein, und man-
cher Arme hat seinen Tod unter den Trümmern gefunden.
Ruhig hatten wir gewartet; jetzt aber, als der Regen aufhörte,
hieß es schnell nach Tätja gehen, denn dort warteten unser not-
wendige Geschäfte. Man sagte, der Weg dorthin sei noch leidlich,
da die Wasser schnell abgelaufen wären. Vorsichtshalber setzten
wir uns zu Pferde und versuchten so hindurchzukommen. Noch
aber hatten wir das Stadttor nicht hinter uns, als uns jedermann
zurief, wir möchten nur heimkehren, an ein Durchkommen sei nicht
zu denken. Doch wir wollten uns selber überzeugen und ritten
immer weiter in die Fluten; aber je weiter wir ritten, um so tiefer
versanken die Tiere im Wasser. Da wir keinen des Weges kundigen
Führer hatten, beschlossen wir, wieder umzukehren. Als Führer
wurde uns dann der Fuhrmann des P. R. gegeben; er sei aus
dortiger Gegend und wisse ganz genau, wo am Wege ein Brunnen
oder ein Teich sei, und er versprach, uns sicher ans Ziel zu bringen.
Mein Herr Konfrater bestieg diesmal einen Karren, während ich
mich wieder auf meinen Schimmel setzte. Der hohe Karren, von
einem noch höheren Maulesel gezogen, ging vorauf, während ich
mit meinem Tiere folgte. Als uns die Leute diesmal wieder sahen,
meinten sie, es sei ein tollkühnes Unternehmen, durch das Wasser
zu gehen, es werde sicherlich über unserem Haupte zusammen-
schlagen. Wer lange in China ist, weiß, daß die Chinesen jegliches
Ding schlimmer machen als es ist, und daß es ihnen beim Vergrößern
niemals auf ein Kuhdick ankommt. Wir* gaben deshalb wenig auf
ihre Warnungen, zumal uns der Fuhrmann das eine über das andere
Mal mit seinem „Pu-ngä-sche" (nicht gefährlich) tröstete. Als aber
mein Schimmel den Boden unter den Füßen verlor und der Karren
des Paters zu schwimmen begann, dachte ich nur immer: Wären
wir daheim geblieben oder könnten wir doch. umkehren! Das treue
Tier schwamm vorzüglich bis an einen Dammdurchbruch, wohin
das Wasser mit Gewalt zog. Dort verlor es die Kraft und den
Atem und begann unruhig zu werden. Zum Glück gelang es mir
noch, das Pferd mit einem kräftigen Ruck etwas auf die Seite zu
bringen, wo ein Weidenbaum seine Zweige aus den Fluten streckte.
Ich ergriff einen Ast des Baumes und zog mich daran so viel empor,
daß das Pferd einige Entlastung bekam. Wie angewachsen lehnte
es sich gegen den Baum, ich aber rief so laut ich nur konnte um
Hülfe: „Tjiu ming, tjiu ming ! u (Rettet mein Leben!) Freilich
dauerte es eine Weile, ehe ein Lebensretter erschien, aber er kam
21*
— :*24 —
«loch und brachte mich so weit in Sicherheit, dali ich Buden unter
den Füllen fühlte. Dann arbeitete ich mich selber durch da« Wasser
auf einen Damm. Auch das Pferd wurde entsattelt und aus dem
Wasser geholt. Meinen Konfrater sah ich in der Ferne an dem
Dache eines Hauses sich festhalten; sein Wagen mitsamt dein Esel
waren dorthin geschwommen. Ks war die höchste Zeit, auch ihm
zu Hülfe zu eilen. Den Wagen üherlieii man vorläufig seinem
Schicksale; der Maulesel aber half sich selbst aus dem Wasser,
sobald er von den Strängen befreit war. Kaum war der Pater in
Sicherheit gebracht, da — ein dumpfes Getöse: das Haus, woran
er sich gerettet hatte, lag in Trümmern zusammen. Es war das
Haus meines Ketters, und sein Vater, ein hochbejahrter Greis, war
es, der die Worte sprach, welche ich anfangs erwähnte.
Wir hatten unsere liebe Not, wieder in die Stadt zurückzu-
kommen, denn das Wasser stieg mit jeder Minute. Einige kraftige
Chinesen griffen uns an den Armen und führten uns hindurch. Oft
ging es bis an den Hals, und bisweilen war die {Strömung derart
stark, dali wir alle Mühe hatten auf den Beinen zu bleiben. Endlich
war das Stadttor wieder erreicht. — Gott sei Dank, sagten wir.
Die Chinesen aber, die uns zuvor gewarnt hatten, waren entzückt
über unser pudelnasses Aussehen und sagten : Wer nicht hören will,
muH fühlen (Pu tiny luo </in im, i *che k'n-chuang lien), wörtlich:
Wer nicht dem Rate der Alten folgt, hat sein Leben lang Bitter-
keiten zu verkosten.
Auf einem Wallgraben der Vorstadt in der Nähe einer kleinen
Pagoden hockte eine Menge Weiber, die laut schrieen und jammer-
ten und beständig zur Pagode hin ihre Verehrungen machten, d. h.
mit der Stinte den Boden berührten. Sie Hellten zum Tä-uang,
dein Gotte der Flüsse, daß er doch das Wasser nicht durch den
JStadtdamm gehen lassen wolle, weil sonst ihre Häuser vernichtet
würden. Überall standen rote Kerzen angezündet, und die Weih-
rauchstcngcl glühten nicht nur, sondern brannten lichterloh. Der
Damm wurde gerettet und das Wasser ferngehalten. In der Nähe
der Stelle aber, wo wir in Lebensgefahr geschwebt hatten, sahen
wir am anderen Tage fünf Leichen am Ufer liegen. Wäre der
Himmel nicht unser Beschützer gewesen, wie leicht hätten auch
wir dabei sein können!
— 325 —
Des Missionars Festtagswohnung
und seine Stubengenossen.
VfB3SS'' n Missionar ist Aposteljünger und sein Meister ist Jesus
*V»-*^*' Christus. Der hat aber von sich gesagt, daß er nicht einmal
tx fc^fy habe, wohin er sein Haupt legen könne, während Füchse
3r5f55(#t ihre Höhlen und Vögel ihre Nester besitzen. Zudem hat
er gesagt, daß der Jünger nicht mehr haben solle und sein dürfe,
als sein Meister; also wird es mit der 'Wohnung eines Missionars
sicher nicht weit her sein. Oft genug ist es denn auch nicht sein Bett,
worin er ruht, und die Hütte, wo er wohnt, hat ihm ein Katechumen
oder ein Christ für einige Tage abgetreten. Das ereignet sich gar
nicht selten im Wanderleben des Missionars, und dann fühlt er auch
so recht was es heißt, Missionar zu sein. Aber nicht das ganze
Jahr kann er wandern und ein Nomadenleben führen. Zur Zeit der
Ernte und Aussaat sind die Christen derart beschäftigt, daß sie sich
für etwas Höheres durchaus nicht finden lassen, also das Missionieren
fast unmöglich ist. Für solche Zeiten hat der Missionar meistens
ein eigenes Heim, ebenso für die Feier der höchsten Feste, und
dieses Heim liegt womöglich im Zentrum seiner Wirksamkeit; er
nennt es Residenz, obschon er die meiste Zeit dort nicht residieren
kann. Heute nun wollte ich den freundlichen Leser zur Wohnung
meiner Residenz für ein Viertelstündchen einladen, und dann soll
er mir nachher sagen, wie es ihm darin gefällt.
Also Platz genommen; die chinesischen Lehnstühle sind zum
»Sitzen gar nicht so übel; Sofa, Sekt und Bier gibt es nicht, aber
Tee aus unverfälschter Quelle; und auch mit Wochen- Ausgabe
der K. V. kann ich dienen, freilich um anderthalb Monat rück-
wärts datiert, doch paßt dieselbe gar nicht übel zu dem westfä-
lischen Schinken, der schon ein halbes Jahr alt ist und ganz vor-
züglich mundet.
Westfälischer Schinken, das Pfund um einen Dollar in Tsing-
tau käuflich — solche Verschwendung erlaubt sich ein Missionar?
Ja, das ist kein Schinken aus Westfalen, sondern nur von einem
Westfalen gemacht, und die Schweine, welche sie geliefert, sind
europäischer Abstammung, also weiß beborstet, die Urenkel jener
zwei, welche seinerzeit der deutsche Gesandte Hr. von Brand dem
sei. Bischof von Anzer zum Präsent gemacht. Daß sie sich gut
akklimatisiert haben, zeigt die zahlreiche Nachkommenschaft, und sie
gedeihen ohne Futterkalk und haben immer mehr Appetit als Futter.
— 826 —
Und auch mit Pumpernickel kann icli dienen, einer zweiten
Westfalenkost, gleichfalls käuflich in Tsingtau ä Dose fein verlötet
1 Dollar. Vorzüglich! Aber auch dieser Pumpernickel ist selbst
gemachte Ware. Die Hälfte Weizenmehl und die Hälfte Sorghomehl,
gut vermengt und richtig behandelt, liefert ein Brot, das im Geschmack
und Aussehen es mit dem Pumpernickel aufnimmt. Spargel, Erbsen,
Kartoffeln und Erdbeeren wachsen noch im Garten, und es ist nur
mehr eine Frage der Zeit, wann dieselben pflück- und eßbar sind.
Missionsstation Ngö-ya-tsch'ang bei Yentschoufu.
Wollen Sie, Herr Konfrater, auf wohlbestellter Pfründe es nicht
einige Jährchen als Missionar versuchen ? Wir könnten deren noch
so viele gebrauchen. Mangel brauchen Sie nicht zu leiden, und
Arbeit gibt es genug. — Doch Carissime, Sie sollen heute keine
Antwort geben. Erst muß ich Sie in das Feld der Wirksamkeit
führen und an den Werktagstisch des Missionars und seine Alltags-
wolumng zeigen im Chinesenheim; doch das später mal.
«Die (üegend muß hier recht gebirgig sein," fragt mein Be-
sucher; „denn ich höre einen Bach vorbei rauschen." „Nichts als glattes
Land ist hier; es fehlen sogar die Mnulwurfshügel; in solchem
— 327 —
Sande und Löß würde der Schwarzpelz nicht vorankommen. Das
Rauschen tun einige Pappeln, die ich nahe ans Haus gepflanzt
habe; sie sind mir Wald und Quelle hier in öder Gegend. u
„Aber ich höre noch ein anderes Rauschen; es ist wie Meeres-
brandung aus der Ferne. u „Das Meer ist wohl 100 Stunden von
hier entfernt; aber auch die Geisterstimmen des dunklen Meeres
habe ich in mein Zimmer gezaubert. u Zugleich stehe ich auf und
schiebe einen Vorhang auf die Seite, der an der Wand hängt.
Dann nehme ich das Licht und leuchte vor ein Fensterglas. „Das
sind die kleinen Meeresmusikanten, das sind meine lieben Stuben-
genossen. u Ein großer Schwärm Bienen hat in einer Mauernische
Wohnung genommen ; nach Außen hat er sein Flugloch ; im Zimmer
höre ich seine Musik, und die hat den Vorteil, daß sie nicht im
geringsten bei der Arbeit stört. Zudem liefern die lieben Gäste
alljährlich 20 bis 40 Pfund Honig und Wachs und spenden den
Blütenduft des süßen Nektars, wo sie denselben aus den Blumen
sammeln. Sie selber sind vollends anspruchslos und verlangen
nichts weiter als das bißchen Wohnung, das sie obendrein noch
reichlich verzinsen.
Also ein Stück Heimat en miniature. Es fehlen der Wald
und sein Rauschen, Blumenduft und die plätschernde Quelle hier
in der öden Puolyebene. Und doch genießt der Missionar davon;
freilich mit Hülfe von Homöopathie und Sympathie und in seiner
Weise. Aber sich bescheiden und beschränken wissen gehört ja
zu den Kardinaltugenden des Aposteljüngers; und seine Stubenge-
nossen dienen darin als Beispiel nicht minder wie im fleißigen Schaffen.
Es fehlen Wiese und Heide und der Blumenteppich in den
Gärten. Weder Feld noch Anger sind mit einer lebenden Hecke
umsäumt und kein Lindendach spendet Ambrosiaduft vor der Hütte.
Recht mager ist es deshalb um den Bienentisch bestellt, und wo
ihn das zahlreiche Volk nur finden mag, ist mir oft ein Rätsel.
Freilich behaupten die Chinesen, daß die Biene den Honig nicht
nur aus den Blumen hole, sondern sie soll sogar zum Meere pilgern,
um dort ihren Salzbedarf zu decken; sie soll die vom Schweiße
bedeckte Stirne des Landmannes aufsuchen und dort „ Menschensaft u
aufsaugen; sie soll selbst auf dem Düngerhaufen noch Aroma finden,
um ihrem Produkt Wohlgeschmack und Haltbarkeit zu verleihen.
Das ist nun wohl zum größten Teil Phantasie, obschon jeder Chinese
daran glaubt, wie er überhaupt vom Immenreich mancherlei Wunder-
bares zu erzählen weiß. Die Biene wohnt nur dort, sagt er, wo
Tugend und gute Sitte wohnt. Sie ist eine „ Himmelsgabe ", und
— 328 —
wer solcher nicht würdig ist, sucht vergeblich, sie zu halten. Um
keinen Preis wird deshalb ein Chinese einen Bienenstock verkaufen,
denn dadurch würde er sich auch anderer Göttergaben verlustig
machen und das Glück würde ihn fliehen. Nach vielen Jahren erst
gelang es mir durch Vermittlung eines befreundeten Heiden, einen
Bienenstock zu ergattern. Derselbe hat sich nach zwei bis drei Jahren
recht vermehrt, so daß die Nachkommen bereits ein Dutzend aus-
machen. Als vor kurzem unser Bezirksmandarin bei mir zum Besuche
war und ich ihn in das Bienenreich schauen ließ, stand er eine
Weile sinnend da. Dann blickte er mich treuherzig an und sagte :
„Ja, mein Freund, jetzt bin ich noch fester überzeugt, daß du ein
guter Mann bist."
Das Volk behauptet sogar, daß ein Imker, der hundert Bienen-
körbe besitzt, vom Kaiser vollständig Steuererlaß bekomme, zur
Belohnung für Tugend und gute Sitte. Ich bezweifle aber sehr,
ob in ganz China jemand ist, der so viele Bienenstöcke sein eigen
nennen kann, da es an der notwendigen Weide fehlt. Bienen zu
stehlen, wird als ein besonders schweres Verbrechen betrachtet und
verhältnismäßig schwer geahndet. Der Grund dafür ist, weil die
Bienen einen König (uang) haben; wer also einen Bienenkorb stiehlt
oder ruiniert, begeht „Königsmord", und richtet ein Reich zu Grunde
und das ist soviel als Staatsverbrechen, wenn auch nur im Kleinen.
„Klein ist die Biene", sagt das Sprüchwort, „aber der Weg zum
Throne steht ihr offen. Leicht ist das Wagengewicht (decimalsystera),
und doch reguliert es 1000 Pfd." Der Chinese tötet deshalb auch
niemals die Bienen, wenn er ihnen den Honig nimmt; er bittet sie,
etwas von ihrem Überfluß abzutreten. „Ihr habt ein Haus Toll
Süßigkeiten, während wir nur La-tse (spanischen Pfeffer) essen und
schwarzes Nestbrot." Und während er das sagt, macht er Kompli-
mente und verbrennt Weihrauch. Durch den Rauch ziehen sich
die Bienen natürlich in einer Ecke zusammen, was der Iraker als
ein Zeichen betrachtet, daß sie gewillt sind, Süßigkeit zu überlassen.
Er schneidet dann die vollen Waben in eine untergehaltene Schüssel
ab ; das kann um so leichter geschehen, da die chinesische Bienen-
wohnimg einen sehr beträchtlichen Umfang hat. Dieselbe ist in der
Regel von Luftziegeln erbaut und hat ein bis anderthalb Meter im
Geviert. Von Mobilbauten und dergleichen haben die Chinesen
natürlich keine Ahnung. Es wird darauf geachtet, daß die Bienen
sehr wonig oder gar nicht schwärmen, deshalb werden die neuen
Königinnen in ihren Zellen, ehe sie ausgeschlüpft sind, während der
Nacht bei Kerzenlicht mit einer langen Nadel getötet.
— 329 —
Das Honigschneiden geschieht regelmäßig zu Beginn des Früh-
lings und es wird nicht nur der „Überfluß" genommen, sondern
so viel, als man eben haben kann. Ein guter Stock liefert 40 bis
(j0 Pfund Honig. Derselbe wird nicht aus den Waben gepreßt,
sondern eingekocht und zwar mit Wachs und toten Bienen zusam-
men. Gerade dadurch soll -er ein besonders gutes Aroma bekom-
men. Der Honig wird verhältnismäßig teuer bezahlt und dient
hauptsächlich für medizinische Zwecke, ebenso das Wachs und die
toten Bienen. Mit Vorliebe wendet man Honig bei pockenkranken
Kindern an. Ein europäischer Bienenfreund, der kürzlich zu Besuch
hier war, fand meinen „Zimmerhonig" „ganz vorzüglich" und das
Aroma „wunderbar". Derselbe war nach chinesischer Methode
behandelt worden, die also auch in diesem Falle wiederum nicht
so ganz dumm sein muß.
Ist der Honig geschnitten, dann beginnt für die Biene die Arbeit.
Ihr erstes Futter sucht sie auf frisch gefällten und geschälten Pappeln
und Ulmenstämmen. Dann kommen die Kätzchen der Pappeln an die
Reihe und hierauf die Ulmen. Beide haben nur eine ganz kurze
Blütezeit und sind nicht mehr als ein Notbehelf. Ein ausgiebigeres
Feld bilden die vielen Weidekätzchen, aber auch sie blühen nur
wenige Tage. Hierauf erscheinen die Fruchtbäurae in Blüten :
Aprikosen, Pfirsiche, Aepfel und Birnbäume. Anfangs April setzen
dann die Blüten von Sämereien ein, Kohl, Rüben und dgl. Mitte
April locken die Maulbeerkätzchen das Bienenvolk herbei, bis dann
zu Mitte Mai die Zysiphus ihren Nektar spenden. Und von dort
holen sie ihren Hauptvorrat fürs ganze Jahr. Zudem dauert die
Blütezeit ziemlich lange und sind in hiesiger Gegend recht viele
Zysiphus angepflanzt. Im übrigen aber muß sich die chinesische
Biene bescheiden. Hat sie im Herbste nur wenig eingesammelt, sucht
man ihr zu helfen. Zucker zu füttern ist natürlich zu kostbar,
sie muß mit Hiersenbrei vorlieb nehmen, vermengt mit etwas Brei
von Gottesbirnen Kakifeigen oder Zysiphus. Wenn es dann anfängt,
kalt zu werden, werden die Fluchlöcher bis auf ein kleines
verschmiert. 1 )
Herrscher im chinesischen Bienenstaate ist, wie angedeutet,
nicht eine Königin, sondern ein König (uang). Derselbe hat keinen
Stachel, sondern die Tugend ist sein Szepter. Dreimal im Tage
machen ihm alle Untertanen ihre Aufwartung. Die Fleißigen erhalten
J ; Das Folgende ist hauptsächlich Bücherweisheit. Da unter den Lesern
auch wahrscheinlich Bienenfreunde sind, mag ich ihnen dieselbe nicht vorent-
halten. Ist auch nichts Belehrendes darin, so doch genug Kurioses.
— MM) —
Belobung und Relohmmg. die Faulen werden getadelt. Verstoße
der rntergrhenen wiM-ilfii -trengi* In »«•traft. Dazu gehört auch, wenn
die Ricne jemanden ge^tm-hen Int. Der Missetäter wird al Isogleich
vnr des König*» Tribunal ^«'^rhli*j»|»t und da-* I " rt i • i I lautot auf Tötung
/ l'atf JtHn fsrt.
Im Bienenrejche heiT«eht ausgeprägter Sozialismus. Es wird
gemeiner huftlieh gearbeitet, ge^peiM und gefastet. Jedem Staats-
bürger i-r eine bestimmte Arlit*it zugewiesen, die er nirht wechseln
darf. Man kennt Materialsammlcr (mifung) und Honigbereiter (siang-
fung, unsere Arbeitsbienen und Drohnen). Die Honigbereiter stellen
in drei Tagen au«* dem Material den Honig her, verladen aber nie
die königliche Burg. Zu l>egimi lies Winters sterben sie, sollten
sie aber am Lehen bleiben, würde der Honigvorrat nicht reichen.
Kin Sprichtwort sagt: l 'herlebt die <ian hing den Winter, sind im
Frühjahr die Speicher leer (Zun Inm hihu.
Die Arbeitsbiene tragt das Material in den Hosentaschen (tscha
k'u) herbei : nur die Königsgaben, welche aus den besten Blüten ge-
sammelt weiden, trägt >ie auf dem Kücken (aus Anstand!) Bao puo tse.
Will der König>sohn ein neuen Kejrli gründen, nimmt er eine
Anzahl Volk mit hinau*. Hat die Hirne dann einmal das Flugloch
verlassen, wird -*ie al- abtrünnig betrachtet und es ist ihr nicht mehr
erlaubt zurückzukehren. Krheht sich der Schwann hoch in die Lüfte,
wird er sich nahebei niederlassen; fliegt er nahe am Boden, nimmt
er einen weiten Weg. Trifft das in den Krieg ziehende Herr einen
Bienenschwarm, lauern die Feinde im Hinterhalt. Im neuen Heim
wird zunächst das Kesidenzsrhloß gebaut und ein Thron für den
jungen König. ( ('-j'mn<i~t*rhtuuj.)
Auch das (refühl für Anciennitat soll bei den chinesischen
Bienen stark ausgeprägt sein. Kin neuer Stock darf mit den alten
nie in einer Reihe stehen, sonst würden sich die alten über ihn
her machen und ihn töten. Sein IMatz wird meistens einen Meter
nach hinten gerückt, weil er eine Generation jünger ist. (Huo-scku).
Prosit Freund, sonst wird der Tee kalt; < 'hampagnerflaschen-
stöpsel gibt es keine abzuknallen; die würden meine Stubengenossen
auch zu stark erschrecken. Hoffentlich gefällt dir des Missionars
Festtagswohnung auch ohne diese.
Als Jlauptfeind der chinesischen Biene ist vor allem der Toten-
kopf (Nachtfalter) zu nennen. Um ihm den Zugang in .die Behau-
sung der Bienen zu wehren, sind die Fluglöcher möglichst klein
gehalten. In ein Brettchen oder einen dünnen Ziegelstein werden
20 30 runde Lorher gebohrt, grade groß genug, um den Bienen
— 331 —
als Ein- und Ausgang zu dienen; damit wird das Fluchloch verschlos-
sen. Hier und da zwängt sich dennoch ein kleiner Falter durch;
wenn er sich voll Honig gesogen, findet er beim Rückgang die
Öffnung zu klein. Ist der Bestand kräftig, machen sich die Bienen
zu Hunderten über den Eindringling her, und solchen Anstürmen
ist er nicht gewachsen. Die Sieger zerbeißen ihn vollständig und
saugen den gestohlenen Honig wieder auf. Gelingt es einem Falter
aber, seine Eier im Bienenstocke abzulegen, ist der Bestand so
gut wie verloren. Als zweiter Feind ist die Eidechse zu nennen,
welche versteckt auf ihre Beute lauert. Will sich ein Bienlein
abseits ein wenig ausruhen oder sonnen, macht sie ihm unversehens
den Garaus. Auch der Scorpion dringt gerne in die Bienenwohnung,
aber auch über ihn machen sich die Völker her, wenn sie zahlreich
genug sind und viel Lebensmut besitzen. Mit Vorliebe bringt eine
große Spinnenart in den Flugbereich der Bienen ihre Netze an;
hat sich eine darin verwickelt, hilft alles zerren nnd zetern nichts
mehr; bald ist sie eingesponnen und ausgesaugt. Hornissen und
Wespen gibt es hier in Fülle; aber ich habe niemals bemer-
ken können, daß sie als Räuber bei den Bienen vorzusprechen
versucht hätten.
Eigentümlicher Weise schwärmt die chinesische Biene nur für
ganz kurze Zeit, höchstens während der Dauer eines Monats ; es ist
gewöhnlich die Zeit um Pfingsten herum, und Mitte Mai bis Mitte
Juni. Deshalb sammelt auch ein junger Stock, wenn er einiger-
maßen zahlreich ist, Vorrat genug für den Winter.
Ich weiß nicht, ob überall zu Lande die Bienen ein so gutes
Gedächtnis haben, wie die hiesigen. Während des Sommers hatte
ich einen Korb in eine Fersternische gestellt, weil dort frische Luft
und freier Ausflug war. Mitte October, da das Wetter kalt geworden
und die Bienen schon längst ihre Arbeit eingestellt hatten, wurde
ihre Behausung an einen gegen den kalten Norden geschützten
Ort getragen. Am 4. Januar nun, da es die Sonne mal extra gut
meinte, lockte sie auch vieles Immenvolk hinaus und ich sah, wie
ganze Scharen noch ihre alte Stätte aufsuchten und lange dort
herumschwärmten.
— 382 —
Bischofsweihe in Jentschoufu.
(30. Okt. 1904.)
Ijentschoufu ist die Hauptstadt der Mission von Süd-Schantung.
-wjJ. Noch vor zehn Jahren waren die Tore dieser Stadt dem
3 K\P Christentum verschlossen, und als der verstorbene Bischof
at'&t&fc von Anzer es dennoch versuchte, hineinzudringen, hätte er
seinen Wagemut fast mit dem Leben bezahlen müssen. Doch was
man damals für unmöglich hielt, ist nach wenigen Jahren zur Tat-
sache geworden. Die stolze Confuziusfeste hat nicht nur der christ-
lichen Religion ihre Tore geöffnet, sie ist sogar zum Mittelpunkte
und Hauptresidenzsitz der hiesigen Mission geworden. Das war es
ja auch, was Msgr. von Anzer in weiser Voraussicht so lange erstrebt,
warum er so viele Jahre im heißen Ringen gestritten und gelitten
hat. Wie freute er sich, als dort das erste Kapellchen erbaut
wurde, in dem sich allmählich andächtige Anbeter versammelten.
Das Kapellchen ist längst verschwunden, und an seiner Stelle
erhebt sich jetzt eine stattliche Kirche, die Kathedrale der Mission
von Süd-Schantung.
Unter dem Chore der Kirche ist eine Krypta erbaut, in welcher
sich sechs Mauernischen befinden ; selbige sind bestimmt die irdischen
Reste der verstorbenen Bischöfe aufzunehmen. Das hohe Ideal des
seligen Bischofs war es gewesen, sein Leben lang für die Bekehrung
des Chinesenvolkes zu arbeiten; nach dem Tode aber sollte seine
sterbliche Hülle dort in der Kathedralen-Krypta ihre stille Ruhe
finden. Der Lebensabend für den Kirchenfürsten ist viel früher her-
eingebrochen, als er selber auch nur geahnt hatte. Für sein Lebens-
ideal hat er gearbeitet bis zur letzten Stunde ; die ewige Ruhe aber
sollte der Tote im Schatten von St. Peter finden in der Hauptstadt
der Christenheit.
Nur wenige Male war es dem verstorbenen Bischöfe vergönnt
gewesen, in der eben fertig gebauten Kathedrale ein Pontifikalamt
zu halten. Heute aber zogen zwei Bischöfe ein, in ihrer Mitte den
neuerwählten Apostolischen Vikar P. Henninghaus, bestimmt der
verwaisten Herde fortan Hirte zu sein. Heute sollte die Konse-
kration stattfinden, und zu diesem Zwecke war das Gotteshaus und
die Umgebung reichlich geschmückt. Als Konsekratoren waren
zwei Bischöfe erschienen, Msgr. Chang (Xordost-Schantung, Residenz
Jente) und Msgr. Giesen (Nord-Schantung, Residenz Tsinanfu).
Der dritte Bischof, Msgr. Maquet, war leider an seinem Kommen
verhindert worden.
— 333 —
Zur festgesetzten Stunde begaben «ich die Würdenträger, be-
gleitet von ungefähr 40 Priestern in feierlicher Prozession zur Kirche.
Das weite Gotteshaus war derart mit Andächtigen überfüllt, daß an
ein Durchkommen vom Hauptportal aus nicht zu denken war, und
der kurze Weg durch die Sakristei genommen werden mußte. Auf
dem Chore war eine ganze Reihe chinesischer Mandarine in ihrem
Festornate versammelt. Ferner waren anwesend der Vertretender
deutschen Regierung Herr Konsul Dr. Betz aus Tsinanfu und
Hauptmann Mauve als Vertreter des Herrn Gouverneur Truppel
in Tsingtau, der am persönlichen Erscheinen verhindert war. Außer-
dem waren noch einige andere Herren der Zivilgemeinde von Tsing-
tau zur Festfeier erschienen. Vizekönig Tschoufu in Tsinanfu hatte
sich durch den Taot'ai Tschang von Tsining vertreten lassen.
Sobald der Zug in die Kirche trat, erklang ein mehrstimmiges
Ecce sacerdos von der Orgelbühne, kräftig und voll gesungen, aber
schwach begleitet von einem kleinen Harmonium, weil die Orgel
noch fehlt. Dann begann die Konsekration, welche drei Stunden
in Anspruch nahm. Als der Neugeweihte im Bischöflichen Ornate
mit Stab und Mitra durch die Menge schritt, überallhin den Segen
spendend, füllte sich manches Auge mit Tränen. Mit weithin schal-
lender Stimme sang er ad multos annos! Was er sich da selber
gewünscht, ist auch der Herzenswunsch aller gewesen, die an der
schönen Feier teilgenommen. Möge es dem neuen Bischöfe vergönnt
sein, viele Jahre zum Segen der ihm anvertrauten Herde zu arbeiten
und zu wirken.
An der Festtafel waren gegen siebzig Gäste vereinigt. Die
erste Rede hielt der bisherige Administrator von Südschantung, dei
hochw" Provikar Freinademetz, und zwar in lateinischer Sprache.
Sie galt hauptsächlich dem Neugeweihten, und auf ihn wurde auch
der erste Trinkspruch ausgebracht. Bald darauf erhob sich der
Bischof selber. In längerer Ansprache redete er aus bewegtem
Herzen, und was er sagte, ging zu Herzen. Für alle hatte er Worte
des Dankes und der Liebe, zumal für den hochw. Hrn. Konsekrator
Msgr. Chang und dessen Assistenten, die Vertreter der deutschen
Regierung und des Gouvernements und die versammelten Missionare.
Schließlich wandte er sich in lateinischer Sprache auch noch an
die chinesischen Priester und dann in chinesischer Sprache an die
Mandarine. Ein Trinkspruch auf den Heiligen Vater, dessen Bild
den Festsaal schmückte, bildete den Schluß der herrlichen An-
sprache. Konsul Dr. Betz brachte ein Hoch aus auf Se. Majestät
den Kaiser, nachdem er in markigen Worten die Versicherung
— 334 —
gegeben hatte, er werde sein Möglichstes und Bestes tun, die In-
teressen der Mission überall zu wahren. Dann folgte ein Hoch auf
den Kaiser von China und auf den Baumeister der Kathedale, P.
Erleinann. Letzeres galt umsomehr, als es aus dem Munde eines
Baurates kam.
So sehr die Mission von Südschantung Grund hat, den Tod
ihres ersten Bischofs zu bedauern, ebenso sehr ist sie heuto sich
zu freuen berechtigt über den Ersatz, den ihr die göttliche Vorsehung
geschenkt hat. Msgr. Henninghaus ist ein Mann, den ganz außer-
gewöhnliche Gaben des Geistes und Herzens schmücken. Es ist,
als ob die Natur, die ihn nach der Körperlänge etwas kurz bemessen,
umso reichlicher die Güter des Geistes habe auf ihn ausschütten
wollen. Ein Wort des „unscheinbaren" hl. Paulus (II. Cor. Cap. 10)
hat sich der neue Bischof als Wahlspruch erkoren: Scio cui credidi:
Ich weiß, wem icli mich anvertraut. So dürfen auch getrost die
Missionare sprechen, die dem Erwählten ihre Stimme gegeben. Sie
haben sich dem neuen Bischöfe anvertraut und sie werden nicht
getäuscht werden: er wird ihnen Vater und Hirtc sein.
»+X&Q&XX*
Der „kostbare Turm" in Yenfu.
der Mission von Jschui über
so sieht man schon aus weiter
Hauptstadt von Südschantung
„ kostbaren Turm" pao t'a genannt.
Ein Reisender aus christlichen Ländern, der ihn das erste Mal sieht,
ist leicht versucht, denselben für einen Kirchturm zu halten. Wollte
er aber einen Kirchenbesuch dorthin machen, so würde er »ich
bald enttäuscht sehn. Er würde weder Kirche noch Pfarrhaus finden
noch sonst ein ordentliches Gebäude in der Nähe. Einsam und
verlassen liegt der Turin in Mitte der Felder die im Sommer mei-
stens mit dem berühmten Yenfuer Tabak bebaut sind. Einstmals
sollen dort allerdings auch Häuser gestanden haben ; jetzt aber hat
sich das geschäftliche Leben schon seit Jahrhunderten mehr zu dem
nordwestlichen Stadtteile verzogen. Auch der Turm selber macht
in der Nähe betrachtet nicht den Eindruck, den er in der Ferne
erweckt. Bemühen wir uns die ausgehöhlte Treppe zum ersten
Stockwerk hinauf, so können wir um den massiven Kern des In-
nern eine Runde machen, und Fenster und Nischen gewähren ein
— 335 —
Der „kostbare Turm" in Yenfu.
— 336 —
Ausblick in die weite Ferne. In dieser Weise ist der ganze Turin
gebaut bis zur obersten Spitze, wo ein Rundgang nach Außen
geschaffen ist, durch eine steinerne Ballustrade geschützt. Wer
nicht schwindelfrei ist macht den Gang lieber nicht, denn die Ballu-
strade gewährt Platz genug zum durchpurzeln und an einer Stelle
ist sie vollends zerfallen. Ein Blitz soll dort hineingeschlagen haben,
zur Strafe für die Untat eines Verrückten, der eines frühen Mor-
gends den Turm bestiegen und sämtliche steinerne Buddhafiguren
durch die Fenster in die Tiefe schleuderte. Nur noch ein einziges
ist „mit dem Leben davon gekommen, u alle andern haben beim
Fallen drunten ihren Kopf verloren, mehrere auch die Beine. Jedem
Fenster gegenüber ist eine Nische in der Wand gemauert und in
jeder Nische genoß ein Buddha behäbige Ruhe seit vielen hundert
Jahren. Der arme Verrückte meinte, sie hätten sich da längst
müde gesessen und ein Sprung nach Außen könnte nur eine ange-
nehme Abwechslung für sie bilden.
Von dem Rundgang können wir nicht mehr weiter hinauf.
Wohl ist da noch eine halszerbrecherische Leiter angelegt, wer sich
aber hinaufwagen wollte, müßte mehr auf sein Klettern vertrauen
als auf die Leiter. In den Mauerritzen haben Gras und Kräuter
ihre Wurzel geschlagen und selbst auf höchster Spitze wuchert
nocli Strauchwerk in luftiger Höhe. Der ganze Bau besteht bis
zur Ballustrade aus sieben Abteilungen, welche sich nach oben hin
verjüngend, durch Treppen mit einander verbunden sind. Diese
Treppen sind aber nicht wendelartig angelegt, sondern führen
durch den Kern des innern Mauerwerkes in gerader Richtung
empor.
Fragen wir nach dem Zwecke des Bauwerkes, so weiß uns
Niemand so recht darauf zu antworten. Der eine sagt, der Turm soll
eine Zierde der Stadt sein; ein anderer meint, er solle die Stadt
beschützen, denn von seiner Höhe könne man die Feinde in weiter
Ferne erspähen und totschießen. Ein dritter ist der Ansicht, der
Turm sei zu Ehren „der zehntausend Buddha erbaut und als Beweis
zeigt er uns die zerbrochenen Götzenfiguren, die einstens darin
ihre Wohnung hatten. Jetzt bildet das Bauwerk eine Zuflucht-
stätte für Bettler die im heißen Sommer dort Kühlung suchen
und darin schlafen. Tm Winter gewährt er Elstern und Krähen
ein Obdach.
Eine Steinplatte im Innern angebracht besagt uns, daß der
Turm zur Zeit der Miny Dignastie unter dem Kaiser lliny-liuny erbaut
sei. Seit der Zeit hat er des öfteren Reparaturen erfahren, die letzte
— 337 —
. unter dem Kaiser Khanhi. Auch jetzt wäre er wohl wieder repara-
turbedürftig, aber weder die kaiserliche Kasse noch die Privatscha-
tulle einer frommen Seele wird die notwendigen Ausgaben dafür
bestreiten wollen.
Ahnliche Türme wie der pao t'a in Yenfu gibt es viele im
Reiche der Mitte. Die meisten stammen aus der Zeit der Ming
Dynastie, und man erbaute sie sowohl in den Hauptstädten als auch
in den Kleinstädten. Unter der jetzigen Dynastie der Tsing kam
der Pagodenstil 1 ) in Blüte, und in Städten treten an Stelle der Türme
die Pagoden der Schutzgeister (tsch'öng-haang-miao). Die meisten
der noch jetzt verbandenen Türme sind während des Jahres geschlos-
sen; nur nach dem 15. im ersten Monat werden sie für einige
Tage geöffnet. Viele Andächtige steigen dann hinauf und verbren-
nen Silber- und Goldpapier für die Seelen der Verstorbenen, damit
es ihnen im Jenseits in barer Münze ausbezahlt werde.
In Kikehou ist ein Turm, an den sich die Heldengeschichto
einer ehrsamen Jungfrau knüpft. Die Mutter dieser Jungfrau war
erkrankt und hatte ein großes Verlangen, eine Suppe von Men-
schenfleisch zu genießen; diese, meinte sie, würde ihre Krankheit
heilen-. Alsobald die Tochter das Verlangen der Mutter kannte,
schnitt sie sich ein Stück Fleisch vom Beine und kochte daraus
eine Suppe für die kranke Mutter. Als diese von der Suppe ge-
nossen, ward sie wieder gesund. Nach einigen Jahren stellte sich
indes die Krankheit von neuem ein, und auch von neuem erwachte
das unnatürliche Verlangen der Mutter. Auch diesmal entschloß
sich die heldenmütige Tochter ein Stück von ihrem Fleisch zu
opfern, aber die ersehnte Wirkung blieb aus. Die Mutter starb.
Der Tochter ging der Tod ihrer Mutter derart zu Herzen, daß sie
unter dem Vorwande ihrer Mutter Opfer zu bringen den Turm
bestieg, und sich dann von der Höhe desselben herunterstürzte.
Tot hob man sie auf aber in sitzender Stellung und mit lächelndem
Gesichte. Das war Grund genug, sie „heilig" zu sprechen und ihre
heroische Tat dem Kaiser zu unterbreiten, der sie alsogleich unter
die Götter versetzte. Der glückliche Vater ließ ihr in der Nähe
des Turmes eine Pagode erbauen und ihr Bild darin aufstellen.
Dort verehrt man sie unter dem Namen der „liebenden Tochter"
(chio-nü), und ein Bonze ist bestellt ihr von Zeit zu Zeit Weihrauch
zu brennen und Gebete zu singen.
*) Turm chines. = ta, Pagode — miao.
R. Pieper, .Neue Bündel*. 92
— 338 —
Des Teufels letzter Versuch.
jpäf abends war's als noch an die Missionspforte geklopft
irde. Daß es keine Räuber waren die klopften, horte
• m an der wimmernden Stimme, die um Einlaß bat. Als
sich die Pforte öffnete, trat ein Mann herein, in elende
Lumpen gehüllt, mühsam nach Atem ringend, am ganzen Leibe
zitternd. Er war dermaßen erschöpft, daß er kaum ein verständliches
Wort hervorbringen konnte. Was er wollte war übrigens leicht zu
erraten; er bat um Aufnahme ins Greisenasyl, um Obdach, wenig-
stens für diese Nacht. Das wurde ihm dann auch gewährt Und
als er am andern Morgen sein Lebenselend erzählte, und die Tranen
reichlich flössen über seine durchfurchten Wangen, und er so flehent-
lich bat, ihn doch für die paar Lebenstage ins Greisenheim aufzu-
nehmen, damit er seine Seele rette uad nach dem Tode glücklich
werde, konnte man ihm auch diese Bitte nicht mehr abschlagen.
Er wurde der „ Altväter u Zahl zugezählt und diese freuten sich,
daß sie einen neuen Kameraden bekommen.
Der Greis war aus Fen-chien und sein Name lautet Tschao4u-ing.
Achtzig „ Frühlinge u hatte er hinter sich; für ihn aber waren es
meistens nur „Winter" gewesen, denn von Lebensglück hatte er nie
viel gekostet. Von Kindesbeinen an mußte er in harter Arbeit sein
Brot verdienen; Eltern, Geschwister oder Verwandte hatte er nie
gekannt, und kein Freund hatte sich ihm je zugesellt. Ins Greisen-
asyl aufgenommen, war sein Betragen stets musterhaft, und mit
vielem Eifer erlernte er die christlichen Glaubenswahrheiten. Kaum
aber konnte er das Kreuz machen, da war es als ob der Teufel
in ihn gefahren sei. Weder gute Worte noch Drohungen vermoch-
ten ihn in die Kirche zu bringen. Und wenn er das eine oder
andere Mal fast gezwungen hineingegangen war, hielt er es kaum
einen Augenblick darin aus. Während die andern Greise vor dem
Schlafengehen ihr Abendgebet verrichteten, hielt er sich die Ohren
zu und gebärdete sich wie besessen. Nachdem er es einige Zeit so
getrieben, äußerte er den Wunsch, wieder heimzugehn, er könne
seine Seele doch nicht retten, seine Sünden seien zu viel und zu
groß. Wir sprachen ihm Mut zu und versicherten ihn, der Teufel
wollte ihn hintergehn und sei neidisch, daß er noch in seinen alten
Tagen den schönen Himmel erobere. Er möge nur ruhig aushalten,
und sich auf die Taufe vorbereiten dann werde es sicher besser.
Das tat er denn auch; sobald sich aber die Wutanfälle einstellten,
wollte er mit Gewalt hinauslaufen. In einiger Zeit vorstand er die
— 339 —
notwendigen Glaubenswahrheiten, und da der Arme so flehentlich
bat, man möchte ihn doch aus den Klauen des Teufels befreien,
zögerten wir nicht mehr länger, ihm die hl. Taufe zu spenden. Er
empfing dieselbe mit rührender Andacht, und — friedliche Ruhe
kehrte in seine Seele ein. Fortan sah man ihn nur mehr beten
und in Gott vereint, und sein liebster Aufenthalt war die Kirche.
Und als er sich nicht mehr von seinem Lager erheben konnte, bat
er immer, man möge ihm vom lieben Gott erzählen ; wenn er aber
allein war, murmelten seine Lippen stille Gebete. „ Erbarmen mein
Gott! Liebe Gottesmutter schütze mich* wiederholte er fast be-
ständig. Ungefähr vierzehn Tage nach seiner Taufe nahm ihn der
liebe Gott zu Sich; der Teufel aber hat es nach der Taufe nicht
mehr versucht, die arme Seele zu verderben.
Auffallende Bekehrung zweier Heiden,
funiculis Adce traham eos: „In den Stricken Adams will
ich sie an ' mich ziehen/ Das ist ein altes Wort der hl.
Schrift und es hat seine Wahrheit überall auf der ganzen
Welt. Die Menschenkinder wollen nun einmal gezogen sein,
und da höhere Beweggründe meistens nicht genug Anziehungskraft
für sie haben, muß der liebe Gott allerhand Lockmittel gebrauchen,
um das störrische Menschengeschlecht dennoch an Sich zu fesseln
und für den Himmel zu gewinnen. Wie es wenige Christen gibt,
die aus uneigennütziger Liebe dem lieben Gott dienen, und Ihm auch
dann dienen würden, wenn kein Himmel sie lockte und keine Hölle
sie abschreckte; ebenso gibt es auch wenig Heiden, die nur deshalb
Christ werden wollen, um ihrem Schöpfer zu dienen und die Seele
zu retten. Und die wenigen, die es gibt, sind eben von Gott er-
wählte Seelen, das Groß aber „läßt sich ziehen in den Stricken
Adains," die für den einen dieses, für den andern jenes bedeuten.
Vor kurzem betrug ich einen im Dienste des Herrn ergrauten
Missionar, wie viele solcher auserwählten Seelen ihm in seiner lang-
jährigen Praxis eigentlich schon begegnet seien. „Nicht viele", ant-
wortete er, „aber doch immerhin einige. u Und dann erzählte er mir
folgende Beispiele aus seinem eigenen Leben.
Im Bezirke Hien-hien lebte ein Heide Namens Sung-sü-ping.
Derselbe war mit einem Mandarin im südlichen China gut befreundet,
den er nicht selten aufsuchte und dann immer einige Zeit bei ihm
— 340 —
verblieb. Eines Tages nun, da er eben vom Besucho heimkehrte
und über den Jany tue kiany setzte, erhob sich plötzlich, als das
Schiff in Mitte des Stromes war, ein gewaltiger Tä-fung. Der Wind
wirbelte das Schiff in die Höhe und legte es dann auf eine Seite.
Alle Leute, die sich auf demselben befanden, wurden ins Wasser
geschleudert. So auch unser Sungsüping. Wie er da mit den Wellen
kämpfte, schrie er: „Du wahrer Geist von Himmel und Erde errette
mich!" Dann sah er auf dem Wasser einen alten Mann mit weißen
herabhängenden Haaren und langem Barte, der ihm ein Scheffelinali
(ton) zuschob und dann plötzlich wieder verschwand. Daran klammerte
sich der Schiffbrüchige fest und schwamm lange Zeit in dem Strome
umher. Von seinen Gefährten bemerkte er keine Spur mehr, alle
waren in dem Wasser ertrunken. Als ein Schiff in seiner Nähe vor-
überfuhr, rief er um Hülfe und schrie: „Ein armer Schiffbrüchiger,
rettet sein Leben \ u Man zog ihn dann aus dem Wasser und nahm
ihn auf das Schiff.
Als Sungsüping nach Hause kam, kannte er nur mehr ein
Bestreben; er wollte den wahren Geist von Himmel und Erde
aufsuchen, um sich ihm dankbar zu bezeigen. Wo er nun eine
berühmte Pagode kannte, suchte er sie auf, aber nirgends fand er
ein Götzenbild, das als der Geist von Himmel und Erde verehrt
worden wäre. Selbst nach Schansi unternahm er eine Wallfahrt;
dort ist der heilige Berg Utöny, und auf demselben definden sich
sehr viele Pagoden mit unzähligen Götzen. Er hoffte unter diesen
den gesuchten, den „wahren Geist von Himmel und Erde*, zu
finden. Mutlos kam er indes von seiner Wallfahrt zurück; anch
auf dem Utöng Berge hatte er den Gesuchten nicht gefunden. Es
ist überhaupt eine auffallende Tatsache, daß die Chinesen im Augen-
blicke der höchsten Not immer den Lao tien ie-ie anrufen, den
„alten Himmelsgroßvater* der in ihrer Vorstellung mächtiger ist
als alle anderen Geister, daß sie aber in keiner Pagode sein
Bild verehren.
Eines Tages nun, da er zur Stadt ging um seine Steuer zu
zahlen, kam er auf dem Heimwege in der Nähe von Tscheng tja,
einer Christengemeinde vorbei, wo man gerade die Fundamente zu
einer neuen Kirche legte. Die Neugierde trieb ihn vom Wege,
wie so manchen anderen, der dort vorbeiging; jedermann wollte
gerne sehen, was da Neues gebaut werde. Nachdem er sich an
der Pforte vorgestellt, ließ man ihn hinein. „Wißbegierig* nun,
wie alle Chinesen sind, schaute er nicht nur durch offene Türen,
sondern auch durch die Kitzen der geschlossenen. Da sah er denn
— 341 —
durch die Spalte einer zugelehnten Türe ein Bild an der Wand
hängen, dessen Anblick ihn sofort wie gebannt zurückhielt. Das
war ja der wahre Geist von Himmel und Erde, der lange gesuchte,
die nämliche Figur, wie sie der „Alte" gehabt, der ihn einstens auf
den Wellen des blauen Flusses in größter Not errettet hatte. Sofort
warf sich Sung-sü-ping auf die Eniee, schlug in einem fort mit der
Stirn auf den Boden und betete: „0 wahrer Geist, ich danke Dir!
Du hast mein Leben gerettet; endlich habe ich Dich gefunden. "
Die Christen, welche herbeigelaufen waren, meinten, der Mann sei
ein Irrsinniger und wollten ihn hinaus schaffen. „Nein, ich bin kein
Irrsinniger," sagte er, „ich weiß sehr wohl, was ich tue." Und
dann erzählte er seine Erlebnisse. Zum Schlüsse versprach er, die
nächsten Tage wiederzukommen, um dem wahren Geiste sein Opfer
zu entrichten (schan kung) d. h. vor dem Bilde Fleisch, Wein,
Früchte und dergl. aufzutischen. Ein Katechist nahm sich nun des
Mannes an und belehrte ihn, wer der wahre Geist denn eigentlich sei,
und welche Verpflichtung er ihm gegenüber habe. Was er in der
Kirche erblickt, sei nur ein Bild desselben, ihn selber aber könne
niemand mit leiblichen Augen sehen, da er ein Geist sei. Mit Opfer
und Danksagung sei es nicht genug ; er selber müsse Christ werden
und sein Leben lang den wahren Geist, der sich ihm nun offenbart
habe, verehren. Noch wohl nie hatte der Katechist einem eifrigeren
und bereitwilligeren Zuhörer gepredigt. Sung-sü-ping wurde Christ
und zwar ein Christ mit ganzer Seele. Und nachdem er den wahren
Geist kennen gelernt hatte, unterrichtete er seine Familie in den
christlichen Lehren, damit auch sie den „Himmelsherrn" verehrten
und liebten. Als dann die Seinen den wahren Glauben angenom-
men hatten, predigte er Nachbarn und Bekannten, welche ebenfalls
mit der Zeit Christen wurden.
In Tji-tschau lebte ein Heide, Su-schen-tei, geheißen, der seines
Zeichens ein Pfeifenfabrikant war. Das Geschäft blühte und ver-
größerte sich alle Jahre, denn Su-schen-tei war nicht nur redlich
und fleißig, sondern er hatte auch eine überaus geschickte Hand,
welche die feinsten Arbeiten mit Leichtigkeit ausführte. Aber —
und das ist eine wahre Seltenheit bei den Chinesen, — je mehr
sich sein Reichtum mehrte, um so mächtiger erwachte in ihm das
Verlangen, sich in die Einsamkeit zu begeben, um seine Sünden zu
tilgen (tsch'u-ngie) und die Tugend zu üben. Schließlich wurde dieses
Verlangen derart stark, daß er ihm nicht länger zu widerstehen ver-
mochte. Er ließ alles im Stich und floh bei Nacht und Nebel nach Tä-
juen-fu in ein großes Bonzenkloster. Von dort schrieb er seinem Vater
— 342 —
einen Brief und bat ihn, das Geschäft zu übernehmen oder zu vorkaufen,
er verziehte auf alles, er wolle fortan nur der Selbstheiligung leben.
Wie ernst es ihm war mit Meinem Streben nach Frömmigkeit,
geht daraus hervor, daß er in kurzer Zeit Oberbonze wurde und
als solcher die (iesamtaufsicht von vielen anderen Klöstern hatte.
Auch mußte er bei sonstigen Anlassen, wenn z. B. die Bauern,
welche die Ländereien der Kloster bebauten, ihre Abgaben nicht
entrichten wollten, mit den Mandarinen, ja selbst mit dem Vizekönige
verkehren und genoß ein nicht geringes Ansehen. Als indes der
Vater mit der Zeit den Aufenthalt seines Sohnes in Erfahrung
gebracht, ließ er ihn nach Hause zurückholen. Der Alte war den
höheren Bestrebungen seines Sohnes durchaus abhold; ihm war
es vielmehr darum zu tun, das Geld zu mehren und gut zu leben.
Su-schen-tei mußte gehorchen, so schwer es ihm auch wurde. Zu
Hause angekommen, zwang ihn der Vater, das Geschäft von neuem
zu übernehmen und alle „Klostergedanken" fahren zu lassen. Als
gehorsamer Sohn fügte sich Su-schen-tei, mit seinen Gedanken aber
weilte er immer noch in der Pagode. Und wenn es ihm nur eben
möglich war, suchte er die Pagode seines Dorfes auf, schlief dort
während der Nacht und betete im Angesichte der Götzen, sobald
er einige Minuten freie Zeit fand. Alles was er von Tä-juen-fu
und dem „Kloster" mitgebracht hatte, seine Bonzenkleider, Bücher,
Schriften und dergl. wurden ihm vom Vater verbrannt; auf diese
Weise hoffte er seinen Sohn am besten kurieren zu können.
Der Ruf von der Geschicklichkeit des heimgekehrten Bonzen
verbreitete sich immer mehr. Aus weiter Ferne kam man und
machte Bestellungen. Selbst Hiren, welche ihren Dienst versagten
und die kein Tausendkünstler mehr zum Leben erwecken konnte,
wurden von ihm meisterhaft repariert. Protestanten nun, die in
dortiger Gegend eine Gemeinde hatten, ließen eines Tages auch
ihre dienstunfähigen Uhren zu unserem Künstler bringen, und da
der Missionar schon öfter von dem Manne gehört, benutzte er die
Gelegenheit, ihn selber aufzusuchen. Er fand einen äußerst gedie-
genen Charakter, ganz anders, wie ihn die Durchschnitts-Chinesen
haben ; und weil er ein williges Gehör zeigte, ließ er sich auch mit
ihm in ein Gespräch ein über religiöse Wahrheiten. Su-schen-tei wurde
Protestant und verblieb es acht Jahre lang. Die Protestanten hatten
dann besagte Gemeinde aufgegeben und den Su-schen-tei zu ihrer
Hauptresidenz eingeladen, die aber mehrere hundert Li entfernt lag.
Vorderhand war es ihm unmöglich, dorthin zu gehen, und deshalb
h*tte e* nichts mehr von der protestantischen Lehre vernommen.
- 343 —
Unser Veteranen-Missionar, der mir die Geschichte erzählte,
sah an einem heißen Mittag im Sommer einen Wanderer daher-
schreiten und da er ihm recht ermattet schien, lud er ihn zu sich
in seine Behausung und erquickte ihn mit etwas Tee. Der Wanderer
war ein Studierter und ein rechter Bücherfreund; daher fiel sein
erster Blick auf die Bücher, welche der Missionar in schöner Ord-
nung auf seinem Tische stehen hatte. Die meisten dieser Bücher
hatte er noch nie gesehen, noch viel weniger wußte er, was darin
stand. Da es vorzüglich Werke über die Glaubenswarheiten waren,
machte ihn der Missionar mit dem Hauptinhalte derselben bekannt.
Der Fremdling rief dann begeistert aus: „Wenn mein Freund wüßte,
daß der Missionar so herrliche Lehren predigt, wäre er schon längst
zu ihm geeilt, denn mein Freund sucht zeitlebens nach der Wahr-
heit, ohne sie recht zu finden. Wenn der Missionar damit einver-
standen ist, werde ich morgen meinen Freund herholen, damit er
selber sehe und höre.* Freudig gab der Missionar seine Einwil-
ligung. Der Fremdling aber war kein anderer, als Su-schen-tei.
Mit diesem nun hatte der Missionar leichtes Spiel, da Su-schen-tei in
den Glaubenswahrheiten kein Neuling mehr war. Er hatte auch
bald herausgefunden, welche Religion die wahre sei und bekannte
sich fortan zur katholischen. Nun hatte er auch endlich erreicht,
was er zeitlebens erstrebt — die Wahrheit und ein Mittel der
Sündenvergebung (tsch'ti-ngie). Sofort war ein beseligender Friede
in sein Herz eingekehrt und sein Hauptbestreben ging nunmehr
dahin, auch andere für die christliche Religion zu begeistern.
Unermüdlich arbeitete er als Katechist, und niemand konnte über-
zeugender und eindringlicher zum Herzen reden wie er. Mancher
Heide verdankt seinen Worten die Bekehrung. Jetzt ist Su-schen-tei
ziemlich alt an Jahren, aber das hindert ihn noch immer nicht,
tätig mitzuwirken an der Ausbreitung des wahren Glaubens und
weil er nicht mehr so viel predigen kann, wie ehedem, liegt er
um so fleißiger dem Gebete ob.
- S44 —
Nebenbei.
.He — ja, he — ja!*
|r schleppte sich daher wie das wandelnde Elend. Die Erde
schien ihn fester an sich zu ziehen ; es kostete viele An-
* . strengung, die Füße weiter zu bringen, und müde senkte
i^ofVX** sich das Haupt nach vorne. Die Schuhe waren an die
Füße festgebunden, lose und unordentlich hing die zerlumpte Ge-
wandung um den abgemagerten Körper; dei Rücken trug mühsam
einen fettigen Ranzen, und doch hatte der Arme mehr als genug
an seiner eigenen Last zu tragen. Reize hatte das Leben wohl
niemals für ihn gehabt, und schon längst waren die Bande gelockert,
die ihn daran festhielten.
Drei Monate waren es her, seitdem er nach T singtau gekom-
men, um dort sein Glück zu versuchen. Dort sei es eine Kleinig-
keit, reich zu werden, hatte man ihm gesagt ; man habe nur fleißig
zu arbeiten und genügsam zu leben, dann könne man sich in kurzer
Zeit ein kleines Vermögen ersparen. Das waren ja verführerische
Aussichten, und Mafamg wollte versuchen, ob nicht vielleicht das
mühevolle Erdendasein noch einen versöhnenden Abschluß finde.
Er fand Aufnahme und Beschäftigung als Rottenarbeiter beim
Eisenbahnbau. Gewiß, da gab es mehr Verdienst wie daheim, aber
das Essen mußte auch doppelt so teuer bezahlt werden. Nichts-
destoweniger legte er sich taglich einige Sparpfennige auf die Seite.
„Aber wem das Glück nicht hold sein will, dem werden die Zähne
stumpf, selbst wenn er nur kaltes Wasser trinkt.* 1 ) Der Typhus
erfaßte plötzlich den Armen und warf ihn lange Zeit aufs Kran-
kenlager; nur wenig hätte gefehlt, dann wäre er nicht mehr davon
aufgestanden. Die ersparten Zehrpfennige waren in Kürze verbraucht.
Der liebenden Sorgfalt eines Bekannten war es zu verdanken, daß
er mit dem Leben davon kam. Doch das Leben war nur mehr
ein Flimmern; die Kräfte waren gebrochen, an ein Arbeiten und
Verdienen war nicht mehr zu denken.
„Ich gehe heim, um wenigstens bei meinen Vorfahren beer-
digt zu werden. u Das war sein jetzt gefaßter Entschluß, und schon
am anderen Tage begann er ihn auszuführen. „Unmöglich wirst
du noch lebend ankommen ", hatte man ihm gesagt, aber alles Zu-
roden war umsonst.
'; ('hiiicHJHchoH Spruch wort.
— 345 -
Eine Viertoistunde weit hatte er sich fortgeschleppt, und doch
war er schon zwei Stunden unterwegs, und bei jedem Schritt seufzte
er „Heja heja!"
„Großer Bruder, das Gehen wird Dir wohl sauer, Du kommst
ja gar nicht vom Flecke ; komm ich helfe Dir auf mein Pferd ; ich
kann schon ein wenig zu Fuß gehen.
Verwundert blickt Makung zu dem Sprecher empor. Man sah
es ihm an, wie er nach einer Antwort suchte; doch zuvor glitt es
über das schmerzdurchfurchte Antlitz wie dankbares Lächeln.
„Wie, ich soll das Tier reiten, und Du willst nebenher gehen ;
nein, das ist unmöglich. Ich bin ja nur ein armer Kuli, Du aber
bist ein Europäer; solche Zumutung hat man mir noch nie gemacht
in meinem Leben." Es klang fast wie Entrüstung aus der Stimme;
offenbar glaubte der Arme, das Anerbieten sei im Scherze gemacht.
„Nein, ich rede im Ernst, und Du tust mir einen Gefallen,
wenn ich Dir einen Gefallen erweisen darf und etwas mithelfen
kann, Dein Elend zu lindern. Komm, ich helfe Dir auf den Gaul
und mache weiter keine Gegenrede."
Aber Makung war nicht zu bewegen. Das Einzige, wozu er
sich verstand, war, daß ihm sein Bündel abgenommen und auf das
Tier gelegt wurde, welches dann reiterlos neben uns ging.
Makung erzählte, was wir bereits gehört; er gebrauchte lange
Zeit dazu, und oft mußte man stehen bleiben, um rasten zu können
und ausgiebig Atem zu schöpfen.
„Großer Bruder, Du hast Dein Lebtag wohl keine guten Tage
an Dir vorüberziehen sehen und kaum eine Neige aus dem Freuden-
becher genippt. Wie wäre es, wenn Du nach Deinem Tode glück-
lich würdest für immer und ewig und vollkommen glücklich?"
• Ich glücklich werden, da ich zum Leiden geboren bin: das
ist ein Ding der Unmöglichkeit".
Ungläubig schüttelte der Alte das Haupt, und vollends ungläu-
big klang der Ton seiner Stimme.
„Ja, glücklich möchte ich Dich sehen, und ich kann Dir dazu
verhelfen, daß Du glücklich wirst." —
Glücklich werden, das klang ja wie Musik aus einer anderen
Welt. An ein Glück zu glauben und zu hoffen, das war ihm bisher
vermessen erschienen. In beständigem Ringen und Kämpfen um
die eigene Existenz, glaubte er sich allmählich kaum mehr exi-
stenzberechtigt; selbst auf den Trunk Wasser vermeinte er das
Anrecht verloren zu haben, und die Luft, die er atmete, gehöre
anderen.
— 346 —
„Glücklich kannst Du werden, großer Bruder wenn Du nur
willst; folge mir, ich zeige Dir den Weg zum Glücke."
Mechanisch hörte Makung zu, wie ihm nun erklärt wurde,
worin das wahre Glück bestehe, und wie dasselbe zu erreichen sei.
Doch je mehr er hörte, umsomehr dämmerte es auf in seiner Seele.
Das matte Auge fing zu glänzen an, behender hoben sich die Schritte
vom Boden, Geist und Gedanken schwebten bereits in höheren
Regionen.
„Du siehst drüben in der Ferne nicht weit vom Wege eine
Pagode. Dorthin eile ich voraus und warte auf Dich. Besinne
Dich unterdes ernsthaft und aufrichtig. Willst Du wirklich getauft
werden und Vergebung Deiner Sünden erlangen, dann kehrst Du
dort ein in die Pagode. Besinnst Du Dich aber eines andern, dann
gehe vorüber, und auch ich werde meines Weges weiter ziehen.
Hier sind Deine Habseligkeiten, ich reite voraus."
Es dauerte geraume Zeit, bis der Unglückliche sich herange-
schleppt; um so besser, denn umsomehr Zeit blieb mir übrig, die
Vatergüte Gottes zu bestürmen.
Er naht sich; bald muß er abbiegen: „Mach glücklich, oHerr,
den Ungläubigen!" Er scheint weiter gehen zu wollen: „Guter
Hirte, erbarme Dich der armen Seele!" Er bleibt stehen; er schaut
hinüber zur Pagode ; der Entschluß ist gefaßt, noch einige Schritte,
und er tritt ein.
„Taufe mich, großer Bruder, und mache mich glücklich; bitte,
recht schnell, denn es geht mit mir zu Ende."
Noch einmal werden ihm die notwendigsten Glaubenswahr-
heiten vorgesprochen und ein Reuegebet, das er mit zerknirschtem
Herzen nachspricht. Noch einmal wird er gefragt: „ Willst Du
getauft werden?" Während er „Ja" antwortet, füllen sich seine
Augen mit Tränen.
Im Umkreise stehen die grinsenden Dämonenbilder. Auf den
Knieen liegt ein armer Heide, der soeben geschworen, ihren Diensten
zu entsagen. Es fließt das Taufwasser über seine Stirne und der
verlassene Teufelsdiener wird aufgenommen zur Gemeinschaft der
Kinder Gottes.
Lange noch bleibt er auf den Knieen liegen, und als ihn diese
nicht mehr zu tragen vermögen, kauert er sich zu Boden. Er seufzt,
aber kein Iieja mehr, sondern kan-sie Tien4schu: „Gott sei Dank!"
Eben haben sich neugierige Heiden am Eingange der Pagode
versammelt. Einer wird beauftragt, Essen herbeizubringen, damit
sich Makung auch körperlich etwas stärke. Als die Mahlzeit kommt,
— 34? —
kann er auch nicht einen Bissen nehmen, aber dennoch leuchten
die Augen in stiller Freude, und die Lippen murmeln fortwährend
Dankes worte.
Die Sonne hat die Mittagshöhe überschritten; es wird die
höchste Zeit, voran zu reiten, um das heutige Reisepensum zu
vollenden. Aber zuvor wird noch ein Zettel geschrieben und dem
Getauften zugestellt: „Heute, am 15. Mai 1904, wurde Makung,
geboren in Lao-tja-t'uin auf den Namen Joseph getauft von Bruder
J .... u Der Zettel sollte als Ausweis dienen, falls der
Arme seine Heimat erreichte und je mit Christen in Berührung
käme. Er hat die Heimat nicht erreicht. Der Zettel wurde später
irgendwo aufgefunden, und als ich Bruder J. über den Hergang
betrug, erzählte er mir die Geschichte und seine Augen leuchteten
stillvergnügt.
„Es geschah halt unterwegs und nur so nebenbei, und es ist
nicht das erste Mal, daß ich so einen Elenden in den Himmel
befördert und — glücklich gemacht habe."
U CCCCC C I OUJ
Bestrafte Sonntagsentheiligung.
grüben in Europa sind der Festlichkeiten und Feierlichkeiten
am Sonntage oft so viele, daß für unsern Herrgott kaum
mehr eine halbe Stunde übrig bleibt und der Tag des
Herrn vollends zu einem Tage des Pläsiers degradiert wird.
Unsern chinesischen Christen hier im Reiche der Mitte möchte
ich gerne etwas mehr Sonntagsvergnügen und Abwechselung ver-
gönnen, denn es ist für sie keine Kleinigkeit, den Sonntag hin-
zubringen, ohne daß sie sich langweilen. Spaziergänge in Feld und
Wald kennt der Chinese nicht, aus dem einfachen Grunde, weil es
keine Wälder gibt und das Spazierengehen in den Feldern nicht
gebräuchlich ist. Sich die Zeit mit entsprechender Lektüre vertrei-
ben, geht auch nicht an, denn Lesen können, ist nur ein Vorrecht
der Studierten, die in China aber noch rarer sind als bei uns die
Advokaten. Des Vergnügens halber besucht auch kein Chinese ein
Wirtshaus, denn so ein chinesisches „Hotel" auf dem Lande bietet
bitter wenig Bequemlichkeit und Annehmlichkeit, und man ist froh,
wenn man es wieder verlassen kann. Die sogenannten Restaurants
(Tien) sind gemeiniglich nichts weiter als Herbergen, die notdürftig
gegen Wind und Wetter schützen, und in denen man Tee trinkt
— 348 —
und Mehlnudeln ißt. Und vor allem erst die sonstigen Abwech-
selungen, welche dem Christen in Europa geboten werden durch
mancherlei Spiele und Aufführungen, in Kränzchen und gesellschaft-
lichen Zusammenkünften, fehlen dem chinesischen Christen vollends.
Da ist es zu begreifen, daß er nicht selten die Versuchung hat,
am Sonntage zu arbeiten aus — lauter Langweile. Auch kommt
noch das Beispiel einer heidnischen Umgebung hinzu, die nichts von
einer Sonntagsfeier kennt.
Besonders traurig ist es in Gemeindon bestellt, in denen sich
der Priester im Jahre nur ein- oder zweimal zur Zeit der Missionen
aufhalten kann. Und solcher Gemeinden gibt es bei der geringen
Anzahl von Missionaren sehr viele. Die armen Leute müssen dann
ihre Sonntagsfeier selber veranstalten. Es geschieht das durch
gemeinschaftliches Beten des Kreuzweges und des Rosenkranzes
und durch Vorlesen aus einem Erbauungsbuche, das meistens Auf-
gabe des Christen Vorstehers ist. Kinder müssen ihren Katechismus
erlernen und die nötigen Gebete, die gemeinschaftlich rezitiert
werden.
Trotz aller Schwierigkeiten kann man im allgemeinen mit
der Heilighaltung der Sonn- und Pesttage bei unserii chinesischen
Christen wohl zufrieden sein. Wer es in dieser Beziehung nicht
gewissenhaft nimmt, steht bei den pflichtgetreuen Christen wenig
in Ansehen, und er wird bei nächster Gelegenheit dem Missionar
als Sonntagsschänder angezeigt.
Recht traurig erging es dieser Tage einem Christen hier aus
dem Dorfe, der auf Bitten seines heidnischen Verwandten hin sich
hatte verleiten lassen, am Sonntage einen Karren zu fahren. Dar-
auf waren die Landeserträgnisse eines ganzen Jahres geladen : Ge-
treide, Süßkartoffeln, Erdnüsse, und alles war fürsorglich in Stroh
verpackt und war damit zugedeckt. Schon näherte man sich dem
Dorfe; es war auch an der Zeit, denn das Dunkel der Nacht ließ
kaum mehr den rechten Weg erkennen. Plötzlich wird es hell;
lichterloh flammt das Stroh auf dem Wagen empor; die Ochsen
davor gebärden sich wild und wollen davon eilen. Zum Glück
kann man die Stränge noch zeitig genug durchschneidon, so daß
die Tiere von dem brennenden Wagen befreit werden. Das Feuer
zu löschen, ist unmöglich, denn in der Nähe findet sich kein Wasser,
dem Winde aber ist guter Durchzug geboten, so daß die ganze
Habseligkeit mitsamt dem Wagen in kurzer Zeit verkohlt ist. Der
Wagen war noch gar geliehen, und nun hieß es, dem Eigentümer
einen neuen verschaffen. Woher war das Feuer gekommen? Das
— 349 —
war tien-huo, sagten Christen und Heiden „vom Himmel gefallenes
Feuer" zur Strafe für den Sonntagssünder. Dieser aber ist durch
Schaden klug geworden und wohl bekehrt fürs ganze Leben.
■ ■»XW Q QQO ■
Ein Licht in der Finsternis.
IJen-lao-tjing hieß der Großvater eines chinesischen Missionars
und sein Wohnort war Ko-tschuang. Er hatte in seinen
Mffiljj jungen Jahren große Körperkraft besessen, und auch geistig
ü'Äl&l war er den meisten seiner Genossen überlegen gewesen.
Was er einmal gehört, vergaß er nie mehr, und wenn Theater-
spieler ihre Stücke vordeklamiert hatten, so konnte er sie nachher
wörtlich wieder zum besten geben. Mit jedem Gegner nahm er
es auf; wer aber je die Schläge seiner Paust gefühlt, hatte nie-
mals mehr Lust, ein zweites Mal damit in Berührung zu kommen.
Seines Zeichens war er ein Kleinhändler, und als solcher besuchte
er die Märkte der Umgegend.
Eines Abends nun, da er eben vom Markte heimkehrte und
im Dunkel dahintappte, hatte er alle Mühe, nicht vom rechten
Wege abzuirren; denn kein Sternlein leuchtete am wolkenschweren
Himmel. Plötzlich aber wird es licht um ihn, immer heller und
heller strahlt es von allen Seiten; die Quelle des Lichtes aber
kann er nirgends finden. Der Schrecken hält ihn gefangen, und
kaum ist er im stände, einen Fuß voranzusetzen. So plötzlich
das Licht gekommen, ebenso plötzlich verschwindet es auch
wieder. Die letzten Strahlen ziehen in östlicher Richtung, wo sie
sich auf einen Punkt zu vereinen scheinen und dann allmählich
erlöschen.
Nach Hause zurückgekehrt, beschäftigte Jenlaotjing nur mehr
ein Gedanke: woher kam das Licht und was hatte es zu bedeuten?
Für alles andere, was um ihn war, hatte er kein Interesse mehr.
Selbst das Essen und Trinken war ihm Nebensache geworden, und
alle übrigen Beschäftigungen tat er nur gewohnheitsmäßig. „Das
Licht, das ich gesehen/ sagte ersieh, „war kein natürliches; denn
eine solche Helle kann niemand hervorzaubern. Es muß also von
einem Geiste herühren." — Diesen Geist, der ihm das Licht gesandt,
zu finden, war fortan sein ernstes Bestreben. Er suchte die Häupter
einer Sekte auf, der Mi-mi4jau, und ließ sich von ihnen über den
Inhalt ihrer Lehre unterrichten.
— 350 —
„Wir verehren einen großen Geist," sagten sie, „und dieser
Geist ist es sicher, der dich zu uns geführt." —
„Aber kann ich auch wieder austreten, wenn es mir in eurer
Lehre nicht gefällt, oder bin ich für immer an dieselbe gebunden?" —
„Ehe du aufgenommen wirst, mußt du schwören, für immer
und ewig unserer Lehre treu zu bleiben. Schwörst du aber und
hältst später deinen Schwur nicht, so wirst du nach hundert Tagen
in Eiter und Blut verwandelt."
Als Jen-lao-tjing das hörte, war es mit seiner Lust, sich bei
den Sektierern einschreiben zu lassen, vorbei. Er kehrte heim,
grübelte weiter fort und grämte sich, daß der große Geist ihn nicht
auf die rechte Bahn führe. Seine Frau hatte schon seit langem
bemerkt, daß es mit ihrem Manne nicht stimme. Ihn zu fragen,
was ihm fehle, hatte sie nicht so recht den Mut ; doch endlich nahm
sie sich das Herz und erkundigte sich nach der Ursache seines
Trübsinnes.
„Du bist ein dummes Weib wie alle andern," antwortete Jen-
lao-tjing unwirsch, „für meine Leiden hast du doch kein Verständnis. u
„Wohl bin ich dumm," sagte die Frau, „aber ich bin doch
deine alte Hälfte (lao-pöl), und zwischen Eheleuten sollen auch
keine Geheimnisse bestehen. Eröffne mir, was dein Herz beschwert,
vielleicht kann ich dir doch helfen."
Und sie ließ ihm nicht eher Ruhe, bis er ihr alles offenbart
hatte.
„Hättest du doch nur eher geredet," antwortete sie; „ich
kenne eine Religion, die den einzig wahren Geist verehrt, und die
ganz sicher die wahre Religion ist. Mein Vater ist schon seit langem
Anhänger dieser Lehre und fühlt sich glücklich darin. Die Bekenner
dieser Lehre verehren den Himmelsherrn, und die Religion wird
T'ien-tschu-tjau genannt, von der du vielleicht schon gehört hast."
Spät am Abende war es, als beide Eheleute dieses Gespräch
geführt, aber der Entschluß des Jen-lao-tjing war sofort gefaßt. Unver-
züglich machte er sich im Dunkel der Nacht auf und suchte das eine
halbe Stunde entfernt liegende Dorf seiner Verwandten auf. Als
er an deren Tür klopfte und um Einlaß bat, hatten die Verwand-
ten wenig Lust zu öffnen; denn sie vermuteten einen Saulus davor.
Kannten sie doch den Jen-lao-tjing als einen rechten Draufgänger,
und sie glaubten, er führe nichts Gutes im Schilde. Zu damaliger
Zeit mußte sich die christliche Religion noch verbergen, da sie
nicht staatlich anerkannt war; nnd wenn jemand beim Mandarin
als Christ verklagt wurde, war es um sein Hab und Gut geschehen,
— 351 —
wenn er überhaupt mit dem Leben davonkam. Doch klopfte Jen-
lao-tjing so heftig und bat so eindringlich um Einlaß, daß man ihm
schließlich öffnete.
Bald hatte man sich auch überzeugt, daß er wirklich in bester
Absicht gekommen war. Mit größter Aufmerksamkeit lauschte er
den Worten seines Verwandten, und je mehr ihm dieser von der
Lehre des „ Himmelsherrn u (T'ien-tschu) erzählte, um so größer
wurde sein Verlangen, in dieselbe aufgenommen zu werden. Als
bereits der Morgen graute, hatte Jen-lao-tjing noch nicht genug
gehört, und als sein Verwandter auf das Feld ging zu pflügen,
ging er mit ihm hinter dem Pfluge her, um Gebete zu lernen.
Aber da fing es zu hapern an. Schon das erste Gebetlein,
das Kreuzzeighen, machte ihm große Schwierigkeiten. Wenn er
dasselbe betete, so konnte er sich nicht bezeichnen, und wenn er
sich bezeichnete, so konnte er nicht beten. Schon hatte er zwei
Tage versucht und geübt, aber umsonst. Aber das war ja uner-
klärlich: er, das große Genie mit dem riesigen Gedächtnisse, der
den längsten Theatergesang wiederholen konnte, wenn er ihn ein-
mal gehört hatte, übte schon zwei Tage an den paar Worten des
Kreuzzeichens und konnte sie nicht behalten! Schon längst hätte
er den Mut verloren, wenn ihm sein Lehrmeister nicht immer von
neuem zugesprochen und den Verzweifelten ermuntert hätte.
„Da sitzt der Teufel dahinter/ sagte er ihm; „der will nicht
haben, daß du Christ wirst und den wahren Geist verehrst; halte
nur aus, und du wirst den Sieg erringen. u —
Müde und traurig legte sich Jen-lao-tjing am dritten Tage mit-
tags ein wenig zur Ruhe nieder. Als er eben eingeschlummert war,
sah er am Fußende des Bettes ein aufgeputztes Frauenzimmer sitzen,
welches ihm freundlich zulächelte. Zornig stieß er mit dem Fuße
gegen sie, und zwar so heftig, daß ein großer Steinbehälter, der
am Bette stand, in Stücke auseinander flog. „Das war wohl der
Teufel/ sagte er sich, und sogleich stand er auf, seinem Verwandten
das Vorgefallene zu erzählen. „Ich habe den Behälter zerbrochen/
sagte er, „aber dafür hat der Teufel auch einen Tritt bekommen."
Dann versuchte er es wieder mit dem Kreuzzeichen — und es
gelang. Und jetzt hatte er wieder sein früheres Gedächtnis. Im
Verlaufe von fünf Tagen konnte er sämtliche Gebete und alle vier
Katechismen hersagen, eine Aufgabe, an welcher andere oft jahre-
lang zu lernen haben. Jetzt wußte er auch, was das gesehene Licht
zu bedeuten gehabt. Es war gegen Osten gezogen, und gerade
im Osten lag das Dorf, wo seine Verwandten lebten, wo ihm selber
— 352 —
das wahre Lieht aufgegangen war. Seiner braven Frau aber, die
schon längst im geheimen Gebete erlernt und sich auf die Taufe
vorbereitet hatte, konnte er die Gnade seiner Bekehrung verdanken.
Sie hatte ihm dieselbe erfleht. —
Als die zwei Eheleute den Priester aufsuchten und um die
Taufe baten, und als sie dann im Sakramente der Wiedergeburt
zum neuen Leben erwachten, da war niemand glücklicher als sie,
und sie sind es geblieben ihr Leben lang.
Böse Heidin — gute Christin.
fn der Kegel meint man, alle chinesischen Frauen ständen
unter dem Pantoffel der Männer und seien mehr Sklavin-
nen als Frauen. Daß dem aber nicht so ist, zeigt folgende
t*£)]$l Bekehrungsgeschichte einer Familie, welche in bezug auf die
angemaßten Rechte der Frau durchaus nicht vereinzelt dasteht.
Bekanntlich ist die Weiberzunge eine mächtige Waffe, die nicht
selten dem Mann um des lieben Friedens willen Stillschweigen
auferlegt. Die chinesischen Frauen aber haben nicht nur spitzere
Fuße, als ihre Schwestern in Europa, sondern auch wohl eine noch
spitzere Zunge: auf das letzte Wort verzichten sie selten.
Li-rao-iau war ein aufrichtig nach Wahrheit suchender Heide-
Noch ziemlich jung trat er einer geheimen Gesellschaft bei, weil er
darin das Sehnen seines Herzens zu befriedigen hoffte. Bald aber
sah er sich getäuscht; er hatte nämlich herausgefunden, daß die
eigentlichen Ziele der Sekte ganz andere waren, als dem Herzen
Befriedigung zu verschaffen, vielmehr darauf hinausgingen, den
Kaiserthron zu untergraben und Empörung ins Land zu bringen.
Zudem wurde er selber als Anhänger dieser Sekte entdeckt und
verklagt, und es kostete ihm eine große Summe Geld, sich frei zu
kaufen und den verhängten Strafen zu entgehen. Als später Li-
mo-iau von der christlichen Religion hörte, suchte er sich einige
Keligionsbücher zu verschaffen; und da ihm der Inhalt gefiel, ging
er zum Missionar, um sich weiter in den Wahrheiten des christ-
lichen (jlaubens unterrichten zu lassen. Sobald seine Frau bemerkte,
daß ihr Mann Christ werden wollte, setzte sie alle Hebel in Bewe-
gung, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. „Damals*,
sagte sie, „hast du wohl noch nicht genug Geld bezahlt, als du der
falschen Lehre anhingest und nur mit knapper Not dem Tode
— 353 —
entkamst. Da bist du noch nicht klug geworden, sonst würdest du
jetzt nicht dem Europäer nachlaufen, denn der wird doch ganz sicher
nichts gutes im Schilde führen." Li-mo-iau ließ sich aber nicht
überreden. Er hatte eingesehen, daß er diesmal nicht hinter das
Licht geführt wurde, sondern daß er vielmehr den Weg zum wahren
Licht gefunden. Er bemühte sich denn auch, seine Frau zu überzeu-
gen, daß die christliche Religion nichts gemein habe mit den falschen
Sekten, daß sie nur des Menschen Wohlfahrt erstrebe. Aber alle
Redekunst war umsonst, die Frau blieb dem Christentum feindlich
gesinnt. Statt sich selber zu bekehren, suchte sie beständig ihren
Mann auf bessere Wege zu bringen, d. h. ihn vom Christentum abzu-
halten, und legte ihm Hindernisse in den Weg, wo sie nur konnte.
Eines Tages war der Priestor ins Dorf gekommen. Als Li-
mo-iau das hörte, machte er sich sogleich auf den Weg, um dem
geistlichen Vater seinen Besuch abzustatten, wie es so der Gebrauch
ist bei den chinesischen Christen. „Du bleibst zu Hause", befahl
die Frau im kategorischen Imperativ. „Nein, ich gehe zum Priester",
antwortete Li-mo-iau, „denn es wäre sehr unhöflich von mir, wollte
ich nicht hingehen und mich nach seinem Befinden erkundigen".
Und damit eilte er zur Türe hinaus, aber die Frau folgte ihm auf
dem Fuße unter beständigem Schimpfen.
Li-mo-iau bog alsbald von der Straße ab und ging ins Feld,
um die Frau zur Heimkehr zu bewegen; aber unverdrossen folgte
sie. Werde dich schon kriegen, dachte der Mann und ging auf
ein frisch gepflügtes Ackerland, das er im Zickzack durchquerte.
Aber das waren doch etwas arge Anforderungen für die kleinen
Füßchen der Frau. Schließlich mußte sie bekennen: „Ich kann
nicht mehr", und damit setzte sie sich auf einen Eckstein zum
Ausruhen. Li-mo-iau aber eilte schnurstracks zum Priester, indem
er seine schimpfende und schmollende Ehehälfte zurückließ.
Ein anderes Mal war der Missionar wieder ins Dorf gekommen,
und ein Christ, der am Hause des Li-mo-iau eben vorbeiging, rief
diesem zu: „Schen-fu le-lio: der geistliche Vater ist da." „Ich werde
gleich hingehen", antwortete Li-mo-iau. Diesmal war ihm die
schlaue Xantippe denn aber doch zu witzig. „Geh", sagte sie zu
ihrem Manne, „geh eben in die innere Kammer und hole mir mein
Nähkörbchen ; es steht oben auf dem Schranke, ich kann nicht gut
hinlangen." Nichts Böses ahnend, ging der treue Mann hin, das
Körbchen zu holen. Kaum war er in die Kammer getreten, da
hatte die Frau auch schon die Türe zugeschlagen und abgeschlossen.
„So, nun geh nur immer zu und beschaue dir den Europäer", höhnte
Ji- Pieper, „Neue Bün4e| u , 93
— 354 —
sie dann durch die Türe. Dabei blieb es; der Christ wurde nicht eher
seiner Haft entlassen, als bis der Missionar wieder abgereits war.
Li-mo-iau hatte eine Tochter, die von Jugend auf studiert
hatte. Neben den Wissenschaften des „heiligen Mannes" (Konfutse)
hatte ihr die Mutter auch eine gute Portion Haß eingeflößt gegen
die christliche Religion. Als nun eines Tages die Eatechistin ins
Dorf gekommen war, um die christlichen Frauen zu unterrichten,
wollte sich das junge Dämchen ein Vergnügen machen und die
Jungfrau, wie sie sagte, einmal tüchtig in die Enge treiben. Sie hatte
ja Hchon zehn Jahre lang studiert, so eine christliche Jungfrau aber,
meinte sie, die könne unmöglich etwas wissen und verstehen. Auch die
Mutter freute sich schon im geheimen über den Sieg, den ihr Töchter-
lein davontragen werde. Aber — der Mensch denkt, und Gott lenkt.
Das gelehrte Fräulein war kaum bei der Jungfrau warm geworden,
da merkte es schon, daß es mit der eigenen Weisheit doch gar nicht
so weit her sei, das bescheidene und freundliche Wesen der Jungfrau
aber und ihre klugen Fragen und Antworten setzten sie in Erstaunen.
Nein, so etwas hatte sie nicht erwartet. Sie schied mit dem
Vorsatze und dem Versprechen, am nächsten Tage wiederzukommen.
Am folgenden Tage aber wollte die Mutter ihre Tochter nicht gehen
lassen; diese hatte ihr so viel Gutes von der Jungfrau erzählt und
war für diese dermaßen begeistert, daß die besorgte Mutter fürchtete,
die Tochter könne am Ende gar noch selber Christin werden. Und
so kam es denn auch. Trotz aller Widerrede der Mutter ging das
Mädchen so oft zur Jungfrau, wie nur eben möglich, und je öfter
sie hinging, um so höher stieg ihre Achtung vor ihr und ihre Liebe
zur christlichen Religion. Nach Verlauf von einem Jahre war auch
sie eine eifrige Christin.
Nun war die Mutter noch zu bekehren. Aber das war ein
hartes Stück Arbeit. Doch das Gebet vermag alles. Und so ist
es wohl auch dem vereinten Gebete von Vater und Tochter zuzu-
schreiben, daß sich die alte Feindin des Christentums allmählich
bewegen ließ, den christlichen Glauben anzunehmen. Aber einmal
Christin geworden, war sie es mit ganzer Seele und konnte gar
nicht begreifen, wie sie nur früher eine solche Abneigung gegen
das Christentum hatte hegen können. Bei ihrer Taufe machte sie
das Gelöbnis, zeitlebens den Missionar, so oft er auch immer ins
Dorf komme, für einen Tag zu bewirten. Damit wollte sie in etwa
wieder gut machen, was sie früher gefehlt hatte, besonders durch
Haß und Abneigung gegen den Missionar und gegen das Christentum,
— 355 —
Muster eines guten Hausvaters.
■,^%h' kleine Ngo wurde mit ihrer älteren Schwester als hilfloses
Kind in unser Waisenhaus aufgenommen. Die Armen
R hatten ihre Eltern verloren, die Verwandten aber wollten
ÜifcV^Ö H ' c ' 1 nicht um die Waisen kümmern. Zum Verkaufen
waren die Dinger noch zu klein, und zum Verschenken fand man
keine Abnehmer. Da erbarmte sich der Missionar der Kinder und
verschaffte ihnen bei christlichen Familien ein Unterkommen, bis
sie nach einigen Jahren in das Waisenhaus aufgenommen werden
konnten. Die ältere Schwester ist bereits seit 3 — 4 Jahren wohl-
bestellte Hausmuttor, da sie ein guter Christ aus Puoly als Frau
heimgeführt hat. Der kleine Franz, den ihnen der liebe Gott
geschenkt hat, ist der Eltern Freude und wächst heran wie junger
Klee nach Frühlingsregen. Ngo, die jüngere Schwester, wurde
voriges Jahr zu Ehe gegeben in eine christliche Familie, 4 — 5 Stun-
den von hier entfernt. Der ursprünglich für die Hochzeit festgestellte
Termin war freilich noch nicht angebrochen, aber da kamen die
Boxer ins Land, und ihnen kann es das Mädchen verdanken, daß
es so schnell einen Mann bekommen. Als man nämlich glaubte,
die Waisenhäuser würden sich nicht mehr halten können, wurden
die bereits zur Ehe versprochenen Mädchen den betreffenden Familien
zugeschickt, während man die kleineren bei guten Christen unter-
brachte. Deshalb wurde denn auch Ngo ihrem Manne ohne Sang
und Klang angetraut und lebt seitdem mit ihm in friedlicher Ehe.
Bekanntlich ist bei den Chinesen das zur Mutter gehen für die
jungen Frauen, besonders während der ersten Ehejahre, von großer
Bedeutung (Vergl. U. S. 50). Unsere Waisenmädchen aber, die
keine Mutter mehr haben, und denen der Missionar Vater- und Mutter-
stelle vertreten muß, fühlen sich immer glücklich, wenn sie bei
Gelegenheit ihre „Heimat", d. i. das „Haus der Barmherzigkeit"
(Gin-t'se4'ang), einmal wieder besuchen können. Der Missionar
hat dann auch Gelegenheit, ihnen von neuem zuzureden und heil-
same Ermahnungen mitzugeben auf den Weg. Auch erkundigt
er sich bei dieser Gelegenheit über die Familienverhältnisse, ob die
Verwandten alle christlich sind, ob sie ihre Christenpflichten getreu
erfüllen und dergleichen.
Ngo ist voll des Lobes über ihre Schwiegereltern. Der Haus-
vater, mit Namen Kui-tsch'o-tschnng, ist mir übrigens von jeher
als guter Christ bekannt. Auf etwas eigentümliche Art allerdings
wurde er zur Wahrheit geführt. Er hatte als Heide schon manches
23*
vi»n der christlichen Religion gebort, aber nie etwas Gute«. Des-
halb hatte er den festen EnNchluli gefallt, «lieber .teuflischen Lehre*
den <iaraus /u maehen. I in das aber zu können, in u Ute er sie
etwa- naher kennen lernen. Kr verschaffte sich einige christliche
Kücher; er wollte der Such* 1 auf den (irund gehen, um dann mit
um *o größerem Erfolge da* .Blödsinnige und Ungereimte" der
europäischen Religion an den Pranger zu stellen. Nebenbei bestellte
er auch einige Spione, die in der Stille da- Treiben der .auslän-
dischen Teufel" (Missionare) beobachten muliten. Je eingehender
er sich nun in den Inhalt der christlichen Bücher vertiefte, um so
mehr >ch wanden seine Bedenken. Kr suchte nach Oründen gegen
die chri>tliche Lehre, und dabei leuchtete das Glaubenslicht immer
hell« 1 !* in seine Seele und verbreitete dort allmählich Licht und
Wärme. Auch die ausgesandten Spione hatten gar nichts Verdäch-
tige?» bei den Europäern entdeckt : die gegen sie ausgestreuten
(ierüehte muliten doch wohl haltlos sein. Allmählich reifte in Kui-
t-ehVtschung der Entschluß, er wolle selber hingehen und den
Missionar aufsuchen, um «ich von ihm belehren zu lassen. Gedacht,
getan. Es kostete dem Missionar wenig Mühe, den Mann für die
„Religion des Himmelsherrn - (fien-t^hn-tjao) zu gewinnen, da sein
Streben ein redliches war. Aus dem Saulus war ein Paulus ge-
worden, und auch sein Eifer glich dem eines Apostels. Seine zahl-
reiche Familie inulite einfach samt und sunders christlich werden.
.Ich bin der Hausvater und euer Oberhaupt; ich habe mich Ton
der Wahrheit der christlichen Lehre überzeugt; ihr müßt mir glau-
ben, da ich mehr Verstand habe al< ihr." Bei den meisten hatte
er leichtes Spiel, einige hingegen zeigten sich halsstarrig. Mit Ge-
walt gegen >ie vorgehen wollte er natürlich auch nicht, aber er
versäumte keine Gelegenheit, um mit Erfolg auf sie einzuwirken.
Als er eines Abends mit einigen heidnischen Verwandten zusammen-
sali und man über dieses und jene> plauderte und das Pfeifchen
dabei rauchte, war unserm Kui-tsehVtschung eben das Feuer aus-
gegangen. Diensteifrig reichte ihm >ein heidnischer Vetter Feuer
hin. damit er sich wieder das Pfeifchen anzünde. «Fort damit",
sagte Kui-tsch'o-tschung. «ich gebrauche kein .heidnisches Feuer.*
Diese Worte machten den Vetter ein wenig verdutzt; aber sie
zeigten ihm auch, wie ernst es sein Onkel mit der christlichen
Lehre nehme.
Wenn der Priester bei der Familie weilt und Mission hält, oder
sonst Sonn- oder Festtag bei ihr feiert, müssen alle Erwachsenen
die hl. Sakramente empfangen. Sollte es dem einen oder andern
— 357 —
einfallen, sich davon zu dispensieren, dann wird der Hausvater mit
allem Nachdruck und Ernst gegen ihn einschreiten. So auch eines
Tages, als der älteste Sohn wegen einer kleinen Unpäßlichkeit nicht
zur Beichte gegangen war. Als sich am Abend die Familie zum ge-
meinschaftlichen Gebete in der Kapelle versammelte, trat Kui-tsch'o-
tschung vor die Knieenden hin und erklärte: „Wer heute nicht
gebeichtet hat, muß draußen knien. In der Kirche sollen nur reine
Seelen beten, die sich mit dem lieben Gott ausgesöhnt haben. u
Für den Missionar ist es immer ein Vergnügen, bei den guten
Leuten zu weilen. Er hat seine helle Freude daran, wenn beim
gemeinschaftlichen Gebete die Kinderstinunen so klar erklingen wie
Edelmetall. Einer von den Kleinen hat zur größten Freude des Groß-
vaters den Entschluß gefaßt, Priester zu werden, und weilt seit eini-
gen Jahren im Knabenseminar zu Yenfu ; sein Name ist Thomas Kur.
Kui-tsch'o-tschung erfüllt übrigens nicht nur seine Christen-
pflichten, sondern ist auch in der Umgegend von den Heiden ge-
achtet. Obwohl seine Behausung einsam auf dem Felde liegt und
es ein Leichtes wäre, ihn zu berauben oder zu drangsalieren, läßt
man ihn doch in Ruhe. Ja selbst die Boxer haben ihn mit ihrem
Besuche verschont, obschon sie in den benachbarten Christengemein-
den fast alles zerstörten. „Das verdanke ich der lieben Gottes-
mutter", sagt Kui-tsch'o-tschung; „denn ihrem Schutze habe ich Hab
und Gut, mich und die Meinigen anbefohlen/
Ein bejahrtes Ehepaar.
IJeder Chinese betrachtet es als seine Hauptlebensaufgabe, zu
-. heiraten, um bei seinem Abschiede aus dieser Welt einige
t j\ Nachkommen zu hinterlassen, die für ihn die Totenopfer
KÜk entrichten können, wenn er ins Jenseits hinübergegangen ist.
Die „arme Seele müßte ja sonst verschmachten und elendiglich zu
Grunde gehen", wenn kein dankbarer Sohn sich ihrer annähme und
ihr nicht alljährlich das Notwendige auf dem Grabhügel verabreichte.
Freilich ist sie mit papierenen Kleidern zufrieden, wenn dieselben
auf der Grabstätte verbrannt werden, und der Geruch der Speisen,
die dort aufgestellt werden, sättigt die geistige Nase für lange Zeit.
Unter der Schar unserer Waisenkinder befindet sich ein kleiner
Knirps, Sio-u, geheißen. Sein Vater wird Wang-pang-tji genannt und
stammt aus dem Dorfe der Königsfamilie (Wang=König; Tja=Familie).
— 358 —
Er war zeitlebens ein armer Schlucker gewesen und lebte von dem
Fleiße seiner Hände, die ihm aber nicht mehr einbrachten, als er
iiir seine eigene Person gebrauchte. Dem Gedanken, seinem Lebens-
ziele zu genügen, d. h. sich eine Gefährtin zu nehmen, mußte er
immer wieder entsagen, mochte derselbe auch noch so oft und bis-
weileu mit ganz ele-
mentarer Gewalt in
seiner Seele aufstei-
gen. Das tat dem Al-
ten sehr wehe, denn
er sah sich mit jedem
Tage älter werden,
und da er zeitlebens
auf seine Gewissens-
stimrae gehört, stets
getan was er als billig
und recht erkannte,
schmerzte es ihn un-
gemein, diesmal tau-
be Ohren haben zu
müssen.
Schon oft hatte er
die Pusa, die Göttin
der Frauen, ange-
fleht, ihm für den
Rest seiner Tage
doch auch eine Ge-
fährtin zuführen zu
wollen. Er sei ja ihr
treuer Verehrer ge-
wesen seit vielen Jah-
ren, und falls sie ihm
auch einen Sprossen
schenken wolle, solle
derselbe dem besonderen Dienste der Göttin geweiht sein. Pusa schien
endlich das Flehen des Armen erhört zu haben, denn bald erschien der
Heiratsvermittler und trug ihm eine vollends annehmbare Partie an.
Es handelte sich um ein bejahrtes Fräulein, das auch im Strudel
der weltlichen Sorgen alt geworden — sie hatte bisheran immer bei
reichen Leuten als Magd gedient — nun aber mit jedem Tage mehr
zur Einsicht kam, daß sie auf der Welt noch eine andere Aufgabe
Sio-U: der kleine Fünfte.
— 359 —
zu erfüllen habe, nämlich einen Mann zu heiraten. Sie hätte das
ja schon längst getan, aber man ließ sie unbeachtet, und sich den
Leuten selber anbieten, war gegen die gute Sitte. Nunmehr aber
konnte sie dem inneren Drange nicht länger widerstehen; fest ent-
schlossen suchte sie den Ehevermittler auf, damit er sie an einen
Mann brächte, und sie konnte ihre Bitte mit um so mehr Zuversicht
vortragen, da sie nicht mit leeren Händen kam. üem Anwalte wurden
zunächst „die Häide geschmiert"; für ihren künftigen Gatten aber
stellte sie ein nettes Sümmchen in Aussicht, daß ein „standesgemäßes"
Fortkommen zusicherte.
Wer war glücklicher als Wang-pang-tji, als ihm ein derartiger
Antrag gemacht wurde. Gleich hätte er zur Pagode eilen mögen,
um der gütigen Göttin Pusa den verdienten Dank abzustatten ; doch
die Pagode war etwas zu weit entfernt. Bedenkzeit brauchte er
nicht: im Gegenteile wünschte er die Sache so bald wie möglich
erledigt zu sehen. Man weiß ja nicht, was alles passieren kann,
wenn einer in so vorgerücktem Alter steht, und wie schrecklich wäre
es doch, dem ersehnten Lebensziele so nahe gerückt, dasselbe wieder
aus den Augen und dem erhofften Besitze zu verlieren. Kurz und
gut: Wang-pa;ig-tji gab sofort sein Jawort, und am dritten Tage fand
sich das glückliche Paar zusammen. Freilich war es nur eine gemietete
Hütte, worin man wohnte und die Flitterwochen verbrachte: wozu
hätte man auch noch ein eigenes Haus gebraucht in so vorgerücktem
Alter! Doch die Hauptsache, der Segen der Ehe blieb nicht aus:
die glücklichen Gatten wurden durch die Ankunft eines kleinen
Weltbürgers erfreut, der das edle Geschlecht der Könige (Wang)
weiter verbreiten sollte. Und als der Reigen einmal eröffnet war,
schlössen sich an den Kleinen noch zwei Brüderlein; alle drei waren
prächtige Buben, denen man durchaus nicht ansah, daß sie so
bejahrte Eltern hatten.
Das Nesthäkchen nun ist unser Sio-u, und vielleicht hätte auch
er noch kleinere Brüderchen bekommen, wenn die Mutter nicht
„zu früh" gestorben wäre. Wang-pan-tji betrauerte freilich den Tod
seiner „alten Hälfte" (Lao-j/öl) wie es sich gebührte, im übrigen
aber hatte er sich bald in sein Schicksal ergeben. Die drei kleinen
Brotesser machten ihm mit jedem Tage mehr Sorgen, da die Mit-
gift seiner Frau längst verzehrt war. Zum Betteln war er zu alt,
die Buben aber zu jung. Ohne Zweifel wäre die ganze Königs-
familie elendiglich umgekommen, hätte sie die Vorsehung nicht nach
Puoly geführt. Von allem entblößt, kaum mit den notdürftigsten
Lumpen bedeckt, langten sie dort an. Der Alte war so baufällig,
— 300 —
daß ihn die Beine kaum mehr zu tragen vermochten, und seine
Ohren waren derart taub, daß er das Geschrei der Kleinen nicht
einmal hörte. Die armen Würmchen sahen zum Erbarmen aus;
Hunger und Elend waren nicht spurlos an ihnen vorübergegangen.
Der Kleinste und sein bejahrter Papa weilen noch in Puoly: ersterer
bei den Waisenkindern, letzterer im Greisenasyl. Die Spuren des
Elendes sind ausgewachsen, wie die pausbackigen Wangen des Sio-u
bezeugen, und auch der Alte kann noch wohl einige Jahre leben.
Er verrichtet kleinere Handarbeiten und ist vergnügt und glücklich ;
jetzt nicht mehr so sehr, weil er seine „ Lebensaufgabe u erfüllt, als
weil er den Himmelsweg gefunden und der Hoffnung lebt, nach dem
Tode ewig glücklich zu werden. Er ist nun zur Einsicht gelangt,
daß es des Menschen Hauptzweck auf dieser Welt nicht ist, zu
heiraten und Nachkommen zu hinterlassen, sondern Gott zu kennen
und ihm zu dienen, und so die eigene Seele zu retten.
Ein gutes Wort.
VjljJ^> in gutes Wort findet guten Ort, sagt man, und das gilt
^■öPi ^ er S anzen Welt, auch in China. Ein gutes Wort
SJsaiii ^ w ' e e ' n Samenkorn, das nicht selten auch auf steinig-
!#5S?!f^**! tem Bo^en Wurzeln faßt. Freilich vergehen oft Jahre,
ehe sich Früchte zeigen und sich offenbart, daß das gute Wort
nicht umsonst gesprochen. —
Vor mehr als zwölf Jahren, da ich mich in der Christenge-
meinde Tjin-tja-tschuang aufhielt, kam eines Tages eine Neuchristin
zu mir. Die Frau war erst vor kurzem getauft, aber sie war eine
überzeugunsvolle, gute Christin geworden. An der Hand führte
sie einen neunjährigen Knaben und sie hatte ihre liebe Last, den
kleinen Knirps mit in das Zimmer zu bringen. Immer versuchte
er wieder davon zu laufen, und es bedurfte vieler guten Worte, ehe
sich der Kleine beruhigte. Seine Augen waren unverwandt auf
mich gerichtet, und die Angst, welche aus denselben sprach, zeigte
mir zur Genüge, daß er vor dem Europäer einen heillosen Respekt
hatte. Den können ihm nur andere beigebracht haben, dachte ich,
tat aber, als ob ich den Jungen gar nicht sehe und sprach nur mit
der Christin. „Dieses ist mein kleiner Enkel", sagte sie; „bei ihm
zu Hause ist noch alles heidnisch, und selbst meine Tochter will
nichts vom Christentum wissen. Der Kleine ist bei mir auf Besuch,
— 361 —
und da er hörte, ich gehe zum Priester, wollte er mit. Aber je
näher wir hierher kamen, um so größer wurde seine Angst; am
liebsten wäre er wieder davongeeilt." — »Wie heißt du denn?"
redete ich das Bürschlein an. — „Sio tsch'uen", antwortete er. Und
da habe ich denn recht viel mit ihm geplaudert, und je mehr ich
mich mit ihm einließ, um so zutraulicher wurde er. Als ich schließ-
lich seine kleinen Händchen mit einigen Früchten lullte, und die
Christin fortgehen wollte, meinte er, sie möge doch noch etwas
beim Priester bleiben, da sei es gar so schön. —
Zwölf Jahre sind seitdem verflossen. Als ich später in einen
anderen Bezirk kam, habe ich mich nie mehr des kleinen Burschen
erinnert. Vor einigen Tagen aber, als ich eben in Tsining weilte,
kam ein junger Mann zu mir und begrüßte mich mit der Frage,
ob ich ihn noch wohl kenne. Die Augen, dachte ich mir, hast du
schon gesehen, aber ich wußte nicht mehr wann und wo. „Ich bin
der Sio-tsch'uen", sagte er. „Ich hörte so eben, der geistliche Vater
Lu (mein chinesischer Name) sei gekommen, und da bin ich gleich
hierher geeilt, den geistlichen Vater zu sehen und ihm zu danken ;
ist es doch sein Verdienst, das ich Christ geworden bin." Dann
erzählte er mir, wie die Eindrücke, die er bei seinem Besuche mit
seiner Großmutter bei mir bekommen, niemals aus seinem Gedächt-
nisse entschwunden seien. Seine Eltern hätten es durchaus nicht
erlauben wollen, daß er Christ werde. Er habe viele Jahre die
heidnische Schule besuchen und natürlich die heidnischen Gebräuche
alle mitmachen müssen. Eines Tages aber, als er mit seinen Mit-
schülern bei Tische gegessen, und jeder seine Mahlzeit genommen
hätte, sei ein Mitschüler, da er noch den Bissen im Munde gehabt,
zusammengebrochen und eines plötzlichen Todes gestorben. Das
habe ihn sehr ergriffen und sogleich habe er sich wieder der Worte
erinnert, die ich damals bei seinem Besuche zu ihm gesprochen,
daß man nur als Christ seine Seele retten, und in den Himmel
kommen könne. Sofort habe er dann den Entschluß gefaßt, Christ
zu werden, koste es, was es wolle. — Er ist seinem Entschlüsse
treu geblieben, und Christ geworden, und wie ich später von seinem
Missionare hörte, ein sehr eifriger. — Ein gutes Wort, findet einen
guten Ort, zumal in einer Einderseele.
Cs^fljp/Ö
362 —
Puoly von einst.
jjas ich in Folgendem erzähle ist mir von unseren Christen-
veteranen mitgeteilt, die natürlich das meiste nur vom
Hörensagen ihrer Altvordern wissen. Danach soll das
Christentum der Gemeinde Puoly aus der Zeit des Kai-
sers Khan-hi (1662 — 1723) herstammen. Ein Kaufmann von hier,
namens Ly } war Geschäfte halber nach Peking gereist. Dort fand
er europäische Glaubensboten, die am kaiserlichen Hofe großes An-
sehen genossen, und deren Anhänger nach vielen Tausenden zählten.
Er ließ sich dann auch in den christlichen Glaubenswahrheiten
unterrichten, begehrte die Taufe und kehrte als Jünger Jesu in
seine noch heidnische Familie zurück. Natürlich suchte er auch
diese für die Wahrheit zu gewinnen, was ihn mit Hülfe von mit-
gebrachten Büchern auch bald gelang. Bei den Nachbarn aber fand
die neue Lehre wenig Sympathie und Anklang. Zumal nahmen
die Sing-l'schang-di l ) dem Christentume gegenüber eine abwehrende
Stellung ein. Als einstmals ein Heide vom Tschang - Clane eine
Christin zur Frau nahm, waren auch deren Bitten und Tränen nicht
im stände, ihn auf den rechten Weg zu bringen. Die Kinder aber
wurden getauft und christlich erzogen. Als es mit der Mutter zum
Sterben ging, hatte sie nur die eine Bitte: „Begrabt mich abseits
von meinem Manne, denn da er als Heide gestorben ist, mag ich
nach dem Tode nicht neben ihm ruhen. Ihr aber haltet wacker
zum lieben Gott; befolgt gewissenhaft eure Christenpflichten, dann
wird des Allerhöchsten Segen bei euch sein." Die Kinder taten
getreulich, wie ihnen die Mutter anbefohlen, und noch heute sieht
man die Gräber der beiden Eiteren weit auseinander liegen. Sonst
ist es Sitte, daß Vater und Mutter unter einem Grabhügel zu-
sammen ruhn. Das Christentum aber verblieb seit dieser Zeit auch
bei der Familie Tschang.
Der erste Missionar, welcher noch in der Erinnerung fortlebt,
soll Mei x ) geheißen haben. An seinen Namen knüpft sich eine
wunderbare Geschichte, von deren Glaubwürdigkeit die Christen
fest überzeugt sind. Im Bezirke T'ai-ngan, in der Christengemeinde
Wang-tschuan, sollte eine neue Kirche gebaut werden. Das Dorf
liegt inmitten der Berge ; es fehlt somit nicht an den nötigen Steinen
1 ) Puoly besteht hauptsächlich aus zwei verschiedenen Namensvettern.
Die eine Hälfte des Dorfes nennt sich Ly, die andere Tschang.
2 ) Die Chinesen kennen nur den chinesischen Namen von europäischen
Missionaren.
— 363 —
zum Bauen, aber die größte Schwierigkeit besteht im Herbeischaffen
derselben. Zudem waren die Christen in damaliger Zeit sehr arm.
Gerne wollten sie mit ihren Kräften helfen, aber es fehlte oft an
dem nötigen Essen, um dieselben zu erneuern. Als nun eines Tages
P. Mei behufs einer Missionsreise von Puoly nach Wang-tschuan
zurückkehrte, kam ihm unterwegs ein Maultier entgegen, ohne
Zaum und Sattelzeug. Geduldig ließ es das Tier zu, als P. Mei
ihm sein Zingulum um den Hals legte. Auch seinen Reisesack
mußte es tragen, und oben auf denselben setzte sich der Missionar.
Als er bei seinen Christen anlangte, betrachtete jedermann verwundert
den prächtigen Maulesel, und es blieb ein Rätsel, woher der arme
Pater nur so viel Geld bekommen, sich in den Besitz eines solchen
„Staatstieres 4 zu setzen. Aber die Verwunderung der Leute stieg
noch höher, als P. Mei erklärte, der Esel brauche weder Futter
nochWasser; auch dürfe man ihn den ganzen Tag zum Steintragen
benutzen ohne zu ruhen. Niemand aber solle sich getrauen das
Halfter zu wechseln. Als nach einigen Wochen der Gürtel, womit
das Tier geführt wurde, ungefähr verschlissen war, dachte man, ein
lederner Halfter ist doch viel fester, und ohne sich mehr an das
Verbot des Paters zu erinnern, wurde das Zingulum gelöst. Im
nämlichen Augenblicke sprang der Maulesel davon und er blieb
verschwunden. Zum Glück waren bereits so viele Steine zusam-
mengebracht, daß man mit dem Baue der Kirche beginnen konnte.
Zur Zeit des Kaisers Kien-lung nahm ein reicher Heide, Na-
mens Mung, das Christentum an. Derselbe wohnte eine halbe Stunde
von Puoly entfernt im Dorfe Mung-tschuan und war früher Anhänger
einer Sekte gewesen. Die wunderbaren Lehren der christlichen
Religion gefielen ihm ungemein, aber den Sinn derselben scheint
er wenig verstanden zu haben. Als großer, angesehener Mann wollte
er auch für die Verbreitung des Christentums wirken und fing zu-
nächst bei seinen Pächtern damit an. Aber auch diese müssen wohl
recht keine Lust gehabt haben, die Religion ihres Herrn anzunehmen.
Um sie zu überzeugen, nahm er zum „ Wunderwirken u seine Zuflucht.
„Damit ihr seht, daß die Christen nicht umsonst beten, und welche
Kraft das Gebet hat, bitte ich einen Toten herbeizuschaffen; wir
wollen ihn dann innerhalb eines Tages zum Leben zurückbeten. u
Da gerade kein Toter aufzubringen war, nahm ein Pächter kurz
entschlossen einen Strick zur Hand und knüpfte damit seine Frau
auf. Wahrscheinlich wollte er sie gerne los sein, und die Gelegen-
heit schien ihm günstig entweder ein Wunder zu sehn oder gut
Rebbes zu machen. Die Tote wurde dann in eine Matte gewickelt,
— 364 —
auf eine Bahre gelegt, und nun begann das Beten. Man verharrte
darin bis zum Abende des dritten Tages. Die Tote aber, anstatt
lebendig zu werden, fing an Leichengeruch zu verbreiten. Der
große Mann stand blamiert da, sein Pächter brachte den Fall so-
fort beim Mandarin zur Anzeige. Jetzt begann das Prozessieren;
dem Mung kostete das die Hälfte seines Vermögens, und mit Ver-
lust seines Geldes verlor er auch seinen Glauben. Der Pächter
wurde bei der Geschichte ein reicher Mann, und die Tote konnte
dann mit vielem heidnischen Pomp begraben werden. Seit der Zeit
ist das Christentum in Mung-tschuan erloschen; die Nachkommen
de3 ehemaligen reichen Christen aber sind heutzutage arme Bettler.
Gegen Ende der Regierung des Kaisers Kien-lung, als die
katholische Religion arg bedrückt wurde, kamen aus entfernt lie-
genden christlichen Gemeinden einige Familien nach Puoly gezogen,
welche sich dort ansiedelten. Es sind die vom Clane Lei, Yü und
Wang, Aus dier Zeit wird ein Pater Lu genannt, welcher mehrere
Male vom Mandarine aus dem Lande verwiesen, dennoch immer
wieder heimlich zurückkehrte. Der Gottesdienst wurde während
der Nacht bei verschlossenen Türen gehalten.
Obschon die katholische Religion von der Regierung verfolgt
wurde, hatten die Christen von Puoly eigentlich doch wenig darunter
zu leiden, weil sie von der heidnischen Nachbarschaft sehr gut gelitten
waren. Das mag denn auch der Grund des Übersiedelns einiger
Christenfamilien gewesen sein aus anderen Gegenden. Die Lage
wurde eine andere, als in Puoly selber ein Heide namens Tschan»
lung-pio als Feind gegen das Christentum auftrat. Dieser Unhold
schien es sich zur Lebensaufgabe gestellt zu haben, das Christen-
tum auszurotten. Zunächst verklagte er die Gemeindevorsteher als
Anhänger einer falschen Sekte. Die Sache kam sogar bis zum
Vizekönig nach Tsi-nan-fu, und eine Anzahl Christen wurden ein-
gezogen und bestraft. Der erste Vorsteher aber, namens Tschang»
hung-nien, verblieb im Gefängnisse und ist auch darin gestorben.
Seine Leiche wurde nach Puoly herübertransportiert, aber an ein
feierliches Begräbnis war nicht zu denken. Dieselbe wurde dann
nacli chinesischer Sitte aufgebahrt; ebenso die seines Sohnes und
Enkels, und man wartete mit dem Begraben auf bessere Zeiten.
Nur höchst selten kam ein Missionar um den Christen Gelegen-
heit zu geben, ihren religiösen Pflichten zu genügen. Einmal war
in sieben Jahren kein Priester mehr da gewesen; ein anderes Mal
hatte es vier Jahre gedauert. Man spricht noch viel von P. Tschog,
der dann später in Korea den Martyrertod erlitten haben soll. Die
— 365 —
unruhigen Zeiten bewogen einen Christen, namens Ly nach Sio-lu-li
auszuwandern wo er den Grund zu einer später recht blühenden
Christengemeinde legte. Aus derselben entstammt ein Priester, der
vor einigen Jahren in Puoly gestorben ist und auf dem hiesigen
Friedhofe ruht. Die Gemeinde selber aber ist zur Zeit der Boxer
fast ganz ruiniert worden.
Später versuchte es der Christenfeind Tschan-lung-pio auch
noch, in der Bezirkshauptstadt Jen/n, sowie in der Kreisstadt Yang-ku
die Christen zu verklagen. Es ist aber wunderbar wie Gott die
drohende Gefahr immer wieder ablenkte; entweder dadurch, daß
die Christen einen guten Bekannten in den Tribunalen hatten oder
dadurch, daß die Beamten ihnen persönlich gewogen waren. Einstmals
wurden sogar drei Mandarine zur Untersuchung nach Puoly geschickt.
Aber anstatt die Christen gefesselt fortzuführen, wie es deren Feind
Tschan-lung-pio beabsichtigt hatte, wurde diesem dermaßen der
Marsch geblasen, daß er später nicht mehr wagte, mit Klagen gegen
die Christen hervorzutreten.
Während der Regierung der Kaiser Tao-Jcuan, Hien-fung und
Tung-tschi war es mit der Ausübung der christlichen Religion ziem-
lich wohl bestellt, und die Christen konnten ungestört ihren Pflich-
ten nachkommen. Alle ein oder zwei Jahre kam dann auch meistens
ein Pater, die Mission abzuhalten, was gewöhnlich ein bis zwei Mo-
nate dauerte. Es ist rührend, wie sich die Christen jetzt noch fast
all der Namen von Priestern erinnern, welche sie je besucht haben.
Einen Bischof aber hat Puoly während der vielen Jahre seines
Christseins niemals gesehen. Als erster Bischof hielt Msgr. von
Anzer seinen Einzug in die Gemeinde, und als es ans Firmen ging,
stellten sich ihm alte Häupter von 70 — 80 Jahren. Damaliger
Christenvorsteher war T&chan-schi-lung, dessen Frau als 90jährige
Greisin jetzt noch lebt. Er war Urenkel des im Gefängnis verstor-
benen Tschang-hung-nien, und ihm war es auch beschieden, seinen
Urgroßvater, Großvater und Vater an einem Tage zu beerdigen.
Daß muß eine imposante Feierlichkeit gewesen sein, denn die Leute
wissen jetzt noch viel davon zu erzählen.
— 366 —
Puoly von jetzt.
gllil^K'ln, lela," schreien die Buben und laufen zum Dorfe hinaus,
■p ÄjMigj ^ Er ist gekommen, er ist gekommen ; schon sieht man den
^MlEfk Wagen, darin muß er sitzen." Auf diese Botschaft hin
ßtStÜriS macht sich alles auf die Beine und eilt an den Eingang
des Dorfes. Unterdessen ist der Wagen herangefahren. Als der-
selbe hält, wirft sich Alt und Jung auf die Kniee und bittet« Tfiu
schenju tjanfu: „Priester segne uns."
Ein magerer Herr in chinesischer Kleidung entsteigt dem
Wagen; er segnet die Leute und geht dann zu Fuße mit ins Dorf.
Dort wird er in die „Kirche" geführt. Ein stallartiger Raum ist
es, worin gewöhnlich ein Esel sein Quartier hat. Daselbst wird
dann das Begrüßungsgebet von allen Christen mit lauter Stimme
gesprochen, und der Ankömmling führt sich mit wenigen Worten
selber ein. Noch ist es nicht sehr viel, was er sagen kann, aber
die Christen merken, daß es von Herzen kommt und auf aller
Antlitz glänzt die Freude. „Ich bin der Ngan Schenfu", sagt er,
„und ihr seid hinfür meine Schäflein. Ich werde mich bemühen,
euch ein guter Hirt zu sein und hoffe daß ihr als folgsame Schäf-
lein euch leiten und führen laßt."
Auch wir kennen bereits den Ngan Schenfu, den „Friedens-
priester." Er ist niemand anders als der hochselige Bischof v..
Anzer, der am 18. Januar 1882 als einfacher Missionar in Puoly
seinen Einzug hielt. Seitdem sind 25 Jahre verflossen, und was
in diesem Vierteljahrhundert alles in der Mission von Süd-Schantung
geschaffen worden, davon wird anderswo ausführlicher berichtet wer-
den. Wir wollen hier nur bei der Wiege der Mission stehen bleiben
und Ausschau halten, auf die nächste Umgebung.
Also der Esel wurde vorläufig auf die Straße gesetzt aber
leider in etwas allzu großer Nähe des Missionars. So konnte es
dieser silberklar vernehmen, wenn der Langohr sein Klagelied
anstimmte über die Verbannung, und manche Stunde der Nacht
mag ihm darob das Tier geraubt haben. Doch darf ein guter
Missionar zum Nervössein keine Zeit haben, und wenn es nicht
anders sein kann, muß er, wie es sein Meister getan, auch schlafen
können, wenn der Wind heult und das Bett schaukelt. Zunächst
gilt es, die Schäflein kennen lernen auf Aussehen und Namen, und
auf ihr Können muß er sie prüfen in betreff der religiösen Wahr-
heiten. Da war es aber bei manchen recht traurig bestellt. Graubärte
hatten noch nie in ihrem Leben die hl. Communion empfangen
— 367 —
und zahnlose Weiblein desgleichen nicht. Mit Hülfe eines Katechisten
ging es dann ans Belehren und Unterrichten und zum 2. Februar
konnte bereits die Mission beginnen. Zu Schluß derselben zählte der
Missionar die Häupter seiner Lieben; es waren 158 Christen, die Zahl
der Heiden aber, die er bekehren sollte, betrug — zehn Millionen.
So wurde denn das kleine Dörfchen Puoly, in der äußersten,
nordwestlichen Ecke des Missionsbezirkes gelegen, zunächst Zentral-
station des ganzen Vikariates und blieb es für gut ein Dutzend
Jahre. Hierher kamen zunächst die neuen Missionare und erlernten
die Sprache, hier versammelten sich alljährlich die auswärts missio-
nierenden Patres zu gemeinschaftlichen Beratungen und den geistli-
chen Übungen. Hier wurden die gemachten Erfahrungen ausgetauscht:
jedermann war ja so zu sagen ein Neuling, und auch das Missionieren
will erlernt werden. Es galt deshalb vor allem ein Heim zu schaffen,
da die Christen ihre Räumlichkeiten selber nicht entbehren konnten.
Ein geeigneter Platz war bald gefunden, und dann begann sofort
das Bauen. Das geht aber, Gott sei dank, in China sehr schnell
von statten; hat man's eilig, wachsen die Häuser in wenigen Tagen
nur so aus dem Boden. Man gebraucht ja nur Lehm, Holz und
Stroh, und die Herstellungskosten belaufen sich auch nicht hoch.
Vor allein wurde dem göttlichen Heilande ein Haus gebaut, das
als Kirche dienen sollte. Äußerlich nicht viel besser als der Esel-
stall, aber doch geräumig; und durch buntes Tuch wurden die Lehm-
wände etwas abgedeckt dort, wo der Altar stand. An die Kiiche
schlössen sich die Wohnungen der Missionare, „armselige Lehmhütten,
durch deren Dächer die Sommerregen wie Gießbäche hindurch-
brachen. u Schon am Herz- Jesu Feste wurde das kleine Kapellchen
eingesegnet und dem göttlichen Herzen Jesu geweiht.
Und jetzt, nachdem man ein Obdach hatte, begann das Mis-
sionieren, zunächst in nächster Umgebung, dann weiter im Bezirke.
Auch wurden gleich im ersten Jahre die Anfänge von zwei Waisen-
häusern gelegt, eins für Knaben, das andere für die Mädchen. Im
ersten fanden elf Kinder die Aufnahme, im anderen vier. Nun, nach
Verlauf von 25 Jahren zählt die Nummer aller Waisenkinder, welche
hier aufgenommen, ernährt, und erzogen wurden, die stattliche Zahl
von 919. Die meisten allerdings sind bereits in jungen Jahren in
ein besseres Jenseits hinübergegangen. Eine ganze Reihe aber sind
Familienväter oder -Mütter geworden, deren Sprossen schon ein an-
sehnliches Völkchen bilden. Und darin sitzt echtes Christentum,
wie man's auch nicht anders erwarten darf, Christentum von der
Pike auf, zäh und ausdauernd und überzeugungsvoll, weil es in der
— :wis - -
Kindheit tiefe Wurzeln geschlagen. Ja sogar l'rictftert um*- Kandi-
daten sind aus dem K nahen- Waisenhause hervorgegangen, von denen
bereit* zwei als wackere Seelsorger im Dienste der Mission tätig
sind. Das Mädchen-Waisenhaus aher hat als Mute mehrere Jung-
frauen gezeitigt, die im Dienste (rotte* für die Scelenrettung ihre
Arheit und Kräfte einsetzen. Die Lehmhütten von ehemals, welche
die Anfange der Waisenanstalten bildeten, sind allerdings verschwun-
den und nahen soliden Backsteinhauten Platz gemacht.
Die Christianisierung in nächster Nahe wurde gleich anfangs
eifrig hetriehen; aher da gilt auch das Sprichwort: «,Je naher bei
Korn, um so lauer die Christen. 1 * Zwar legt sich ein Kranz von
mehreren Gemeinden um die Zentrale l'uolv, aber die Zahl der
Christen ist noch ziemlich heschränkt. Die Nummer im Taufbuche
der Annexkirchen von l'uuly hat noch nicht das erste Tausend
erreicht. Zu hemerken ist allerdings, dali nach Norden hin direkt
die Franziskanermissiou ;mgrcuzt, zum hiesigen Vikariate gehöriges
Gebiet also nur d.*ci Seiten umfallt. Zudem ist der Hezirk Yangku
von jeher als „freigoistig- sehr verrufen. Die Bevölkerung hat nur
für (leid und Gewinn Intere>se und bekümmert sich nicht ums Jen-
seits. Daher giht es denn auch keine Sektenanhänger unter den
hiesigen Heiden, und die Zahl der Pagoden ist sehr gering. Viele
derselben liegen in Trümmern, ohne daß es jemand einfiele, die-
Relhen wieder aufzuhauen. Man glauht nicht mehr an , Geister und
Teufel" und huldigt dem Grundsätze, daß nach dem Tode alles
aus ist. Begreiflicherweise ist solcher Boden für das Christentum
äußerst ungünstig und unfruchtbar. Trotzdem ist im Bezirke Yangku
ein eigener Missionar tätig und die Zahl der Bekenner des wahren
Glaubens belauft sich mit Einschluß der Katechumenen auf nahezu
11000, die sich auf 82 Gemeinden verteilen.
Neben den Waisenhäusern wurde auch mit der Zeit ein
Greisenasyl errichtet. Die Zahl der Altväter und -Mütter, dio dort
Aufnahme gefunden, getauft wurden und einen ruhigen Lebens-
abend vorlebt, beläuft sich auf ;U4. Die. meisten haben bereite
«gehimmelt", was um so eher zu hoffen ist, da sie fast ausnahms-
los mit den Sterbesakramenten versehen, in Gegenwart des Prie-
sters ihre Seele aushauchten, l'nd das geht bei diesen alten Häuptern
— um einen trivialen aber doch hier passenden Ausdruck zu gebrau-
chen - so gemütlich, wie mun's sich nicht gemütlicher denken kann.
Von Furcht oder Bangen zeigt sich keine Spur; sie sind des Him-
mels und der ewigen Seligkeit so gewiß, als ob deren Erreichung
eine selbstverständliche Sache sei.
— 369 —
Im dritten Missionsjahre wurden dann auch die Anfänge eines
kleinen Priesterseminars gelegt, welches sich mit der Zeit derart
entwickelte, daß es nach 13 Jahren, bei der Übersiedlung nach
Tsining, nebst einer Reihe Gymnasial-Studenten bereits 7 Theologeu
zählte, die nach einigen Jahren ausgoweiht wurden. Puoly selbst
war Zeuge von zwei Priesterweihen. Die ersten Presbyter waren
Studenten aus dem Franziskanergebiete, welche bereits dort eine
Reihe von Jahren ihre Studien gemacht hatten.
Knaben aus der Dorfschule von Puoly.
Ein nie gesehenes Schauspiel war es dann für Puoly, als der
„Ngan schenfu" am 31. Juli 1886 als Bischof hier seinen Einzug
hielt. Die meisten Christen, zumal dio Frauen, hatten noch nio in
ihrem Leben einen Bischof gesehen, und der jetzige war gar ein
„alter Bekannter"; da war natürlich die Freude um so größer.
Und mit den Christen von Puoly freuten sich die neugewonnenen
Christen der Umgegend und des ganzen Missionsbczirkos, zum
größten Teile Schäflein des seeloneifrigen Paters Freinadcraetz.
Die Kathedrale war freilich nur „eine kleine Kapelle mit einem
struppigen Strohdache und kahlen Ziegelsteinmauern, in deren
Ritzen Skorpionen und Tausendfüßler nisteten u . Die Steine waren
nur lose, ohne Mörtelvorbindung aufeinander gelegt. Man wollte
K. Pieper, „Neue Bündel**.
«4
— 370 —
sie gebrauchen für eine größere Kirche in europäischem Stile,
welche dann auch bereits nach drei Jahren am Feste Maria Him-
melfahrt eingesegnet werden konnte. Seit der Zeit hat dieselbe
aber oftmalige Umwandlungen, Verstärkungen und Verbesserungen
erfahren müssen. Da der Geldbeutel ein beständiges Sparen zur
Pflicht machte, mußte denn auch beim Kirchenbauen gespart wer-
den. Ein solches Sparen aber, wo es sich um Festigkeit handelt,
wird oft recht verhängnisvoll. Noch jetzt sind im Innern der
Mauern zur Erinnerung an jene „armseligen Zeiten" manche Lelmi-
ziegcl verborgen, und sogar der Turm steht auf lehmernen Füßen.
Durch An- und Überbauten sind diese Mängel indes in den letzten
Jahren gehoben, so daß das Kirchlein jetzt von innen und außen
einen überaus freundlichen Eindruck macht und bei vorsichtiger
Behandlung wohl noch alt genug werden kann.
Das „Palais" des Bischofs aus damaliger Zeit ist längst ver-
schwunden. An Stelle desselben erhebt sich jetzt das Schwesternhaus
und ein Teil des Mädchen Waisenhauses. Allerdings sieht dieses
weit mehr palastartig aus als die ehemalige Wohnung des Bischofs;
dann es ist ein zweistockiger Bau aus Ziegeln, während das damalige
Bischofsgebäude aus Lehm zur ebenen Erde aufgeführt war. Manche
schlaflose Nacht hat der Oberhirt an dieser Stelle vorlebt in Sorge
und Arbeit zum Heile seiner Mission. Jetzt haben die „Dienerinnen
des hl. Geistes" hier ein Heim gefunden, und das bedeutet wie-
derum einen bedeutenden Schritt nach vorwärts in der Entwickl-
ungsgeschichte Puolys und der Mission. Freilich können die guten
Schwestern noch nicht auf Lorbeern ausruhen; denn sie sind erst
ein Jahr hier; aber ihr Einfluß ist schon an vielen Ecken und Enden
bemerkbar, sogar am Zopfende der kleinen Waisenmädchen, welche
jetzt weit reinlicher und gesitteter erscheinen und einhergehen wie
ehemals. Und auch der Einfluß auf die chinesischen Jungfrauen,
wiewohl er bisheran ja nur hauptsächlich ein Einfluß des guten
Beispiels ist, sticht sofort in die Augen. Was die Schwestern aber
schon in der Krankenpflege geleistet, dafür zeugt ihr Ruf nach
außen. Täglich sprechen zwei, drei Dutzend Kranke vor, und man
chem armen Heidenkinde konnten sie bei dieser Gelegenheit die
hl. Taufe spenden.
Eine besondere Feierlichkeit erlebte Puoly als der Bischof durch
Verleihung des roten Knopfes zur chinesischen Exzellenz gemacht
wurde. Damit war der Oberhirto Großmandarin geworden; die
Christen aber fühlten sich dadurch wohl noch mehr geehrt, alt
der Bischof selber. Und auch die Heiden nahmen teil an der
— 371 —
allgemeinen Freude. Das Besuchen und Beglückwünschen wollte
schier kein Ende nehmen; am Hauptfeste waren über 2000 Personen
versammelt.
Auch einen Vertreter der deutschen Regierung hat Puoly in
seinen Lehmmauern gesehen in der Person des Freiherrn von
Seckendorf, welcher auf der Reise nach Jentschoufu in Puoly vor-
sprach. Aber mit der Eröffnung Jentschoufus war Puolys Geschick
denn auch besiegelt. Länger als ein Dutzend Jahren war es, obwohl
räumlich abseits gelegen, das Zentrum der Mission gewesen. Weit
aus dem Osten kamen die Missionare ein- oder zweimal jährlich heran-
gepilgert, ohne die Länge des Weges oder die Gefahren des uber-
setzens über den gelben Fluß zu scheuen. Und der Herr hat Seine
Diener stets treu beschützt. Nie ist jemand unterwegs ein nam-
haftes Unglück zugestoßen; die Missionare aber verließen Puoly
immer neugestärkt und mit frischem Mut, um auf ihren schweren
Posten heimzukehren. Nachdem nun aber Jentschoufu, die Haupt-
stadt der Mission, welche auch örtlich so ziemlich in Mitte derselben
liegt, seine Tore dem Christentume geöffnet hatte, galt es für die
Zentral- Verwaltung dorthin überzusiedeln, und damit verlor Puoly
als geistiger Mittelpunkt seine Bedeutung. Bevor ein endgültiger
Aufenthalt in Jentschoufu ermöglicht war, mußte zuvor Tsining in
Aussicht genommen werden, und dorthin verlegte denn der Bischof
im Jahre 1895 seine Residenz. Vorher aber war noch im alten
Puoly die erste Diözesansynode und ein Provinzial-Kapitel, bei
welcher Gelegenheit so ziemlich alle Missionare versammelt waren.
Das war auch das letzte Mal, daß Puoly als geistiges Zentrum in
die Erscheinung trat, und seitdem kommt wegen seiner unbequemen
Lage nur mehr höchst selten ein Missionar hier zum Besuche vor-
bei. Mit Ausnahme des Seminars hat es aber alle seine Anstalten
behalten, und ist Sitz des Dekanates zum heiligen Erzengel Gabriel.
Der Dekan, welchem zwei Rektorate unterstehen, hat für die Seel-
sorge der Annexkirchen, der Gemeinde Puoly und der Residenz-
bewohner noch einen chinesischen Priester als Koatjutor zur Seite.
Die ziemlich ausgedehnte Ökonomie leitet ein europäischer Laien-
bruder.
Die Gemeinde Puoly ist in langsamer aber stetiger Zunahme
begriffen. Das Taufbuch zeigt bereits die Nr. 750. Die größte
Anzahl der Heiden läßt sich noch in der Todesstunde taufen, ein
Zeichen, daß sie von der Wahrheit der christlichen Religion über-
zeugt sind, aber vielfach bei Lebzeiten sich nicht in das Joch der
christlichen Zucht zwängen wollen. In den letzten 2 — 3 Jahren
24 #
— 372 —
wurden auch in Puolv für da** hiesige Dekanat die einmonatlichen
Vorbereitungri-KurM» gehalten, zum Km pfände der heiligen Taufe
und ersten heiligen Kommuiiiuii. Im Verlaufe von drei Jahren
wurden über tausend Christen hier das ernte Mal an den Tisch
de« Herrn geführt, und in eineinhalb Jahren erhielten über 600
Katechumenen die heilige Taufe.
Auch war es möglich in den letzten Jahren durch Verlegung
eines Gemeindewcges für die Residenz einen großen, schönen Garten
zu schaffen, in dem auch europaisches < )hst und Gemüse mit Erfolg
angebaut wird. Durch ein Paternosterwerk wird derselbe aus einem
nebenanliegenden großen Teiche bewässert, was bei der hier oft
inonatelangen Trockenheit von besonderer Wichtigkeit ist. Mit
Hülfe des Mandarinen und der umliegenden Dörfer konnte ein in
der Nähe liegendes altes Flußbett ausgegraben werden, so daß
Puolv seitdem auch nicht mehr unter der Wasser plage zu leiden
hat, welche es in früheren Jahren oft zu eine** Insel machte. Die
Residenz ist ein Viereck, mit einer sechseinhalb Meter hohen Mauer
umgeben, an welcher sich größtenteils die inneren Gebäulichkeiten
lehnen. Die Dächer derselben sind flach und fest verkalkt, so daß
auf denselben ein ganzes Regiment Soldaten von oben herab auf
die Feinde bombardieren könnte. Zudem befinden sich noch zwei
Türme im Innern, einer in dem Knabenwaisenhause, der andere
im Mädchenwaisenhause, welche zur Zeit der Gefahr den letzten
Schutz gewähren würden. Die ganze nördliche Seite aber wird durch
einen tiefen Graben, der mit Wasser angefüllt ist, gesell ützt. Ehe-
mals lag das Residenzterrain sehr niedrig, so zwar, daß dasselbe bei
Hochwasser völlig überschwemmt wurde. Um diesem Übelstande
abzuhelfen, mußte der Boden um einige Fuß erhöht werden. Die
dazu nötige Erde wurde aus dem Graben geholt, welcher nun als
Fischteich und Residenzschutz doppelten Wert hat. Durch die er-
höhte Lage aber hat sich der Gesundheitszustand der Residenz-
bewohner bedeutend verbessert. Überdies ist jeder freie Platz mit
Bäumen bepflanzt, welche als Schattenspender und Luftverbesserer
in den heißen Sommermonaten willkommnc Dienste leisten. Inmitten
des Ganzen liegt die Kirche, welche sowohl von den Bewohnern der
Residenz, als auch von den Christen gleichzeitig benutzt wird,
und dort wohnt unser Haupt, Schützer und Hort. Nur schade,
daß sich die Kirche an Sonn- und Festtagen viel zu klein erweist.
Direkt an den Garten schließt sich der Friedhof, auf dem bereits
zwei europäische Missionare (P. Riehm und P. Lieven) und ein chine-
sischer Priester zur ewigen Ruhe bestattet sind. Wenn zu Neujahr
— 379 —
die Heiden ihre Gräber besuchen und dort Papier verbrennen und
Petarden abschießen, wird in einem niedlichen Kapellchen, das in der
Mitte des Friedhofs steht, das heilige Meliopfer für die dort Ruhen-
den dargebracht. An den Gräbern stehn Trauerweiden und Cy pressen;
eben säuselt der Wind durch die dunklen Zweige, und wir wünschen
Kequiescant in pace den Toten. Und auch jenem gilt unser Wunsch,
der weit von hier im Schatten von St. Peter in Rom seine Ruhe-
stätte gefunden, dem die Kinder Puolys am Feste Petri Stuhlfeier
1882 entgegeneilten und riefen: lä la, hl la!
Typen aus dem Waisenhaus in Puoly.
Paulus U.
I
k.mlus II enstammt aus Tschang-tschuang in 7Yaw-Ai>w, einem
-ö I Gebiete, wo seiner Zeit die Boxer besonders gewütet haben.
_ k \ Schon damals, als Paulus noch ganz klein war und man ihn
^ÄMifff liu-tschu nannte, übten die Anhänger der GroÜmessersekte
fleißig bei Tage besonders aber während der Nacht. Die nächsten
Verwandten des Kleinen waren auch zum Boxcrtum übergetreten,
ohne aber eigentlich zu wissen, worum es sich handle. Der Vater
starb, als der Junge erst einige Jahre alt war; or blieb also in
Gewahrsam der Mutter; aber diese hatte ihre liebe Not, den nötigen
Lebensunterhalt für sich und den Kleinen zu erbetteln. Es nahm
ihn deshalb ein Onkel zu sich; aber auch dieser empfand das immer
mehr als eine Last, und suchte sich seiner zu entledigen. Er hatte
von der christlichen Religion gehört und es war ihm auch bekannt,
daß der Missionar eitern- und hülflose Kinder ins Waisenhaus
aufnehme, besonders wenn solche auf der Straße gefunden wurden.
Eines Tages machte er sich in Bogleitung des Lin-t&chu auf, den
Missionar zu suchen. Dieser ermahnte den Onkel er solle Christ
werden ; den Knaben wolle er mit der Zeit, wenn eben möglich,
ins Waisenhaus aufnehmen. Der Mann fand die Lohren der
christlichen Religion vernünftig und hatte Wohlgefallen daran.
Als er nach Hause zurückkehrte, erbat er sich einen Katechis-
mus und andere Lehrbücher und versprach dem Missionar,
bald wiederzukommen. Er und sein Nefle studierten dann fleißig
Oebete und Katechismus, wobei aber der Kleine schnellere Fortschritte
machte als sein Onkel. Letzterer übte sich gelegentlich auch noch
im Boxen der Sektierer; aber es war, als ob ihn sein früheres Glück
— S74 —
verlassen habe. Ehedem galt er als clor beute Fechtbruder, der
stärkst«» Schwerthieb prallte an seinem Korper üb, als sei er von
Eisen. Jetzt wagt« 1 er es nicht mehr, die Streichübungen mitzu-
machen, und als er einmal einem (Seuossen bei besagten Übungen
einen Schwerthieb versetzte, drang er ins Fleisch hinein. Von dieser
Zeit an war ihm der Zutritt iu die Zusammenkünfte der Sektierer
untersagt; er selbst aber merkte immer mehr, daß Christentum und
heidnisches Sektenwesen nicht zusammenpaßten ; deshalb wandte
er sich von nun an mit ganzer Seele den Wahrheiten der christlichen
Religion zu. Als er das nächste Mal wieder den Missionar besuchte,
wunderte sich dieser, wie der Mann in so kurzer Zeit so große
Fortschritte gemacht. Noch mehr aber setzte ihn der kleine Liu-
tschu in Erstaunen, der unterdessen den ganzen Katechismus aus-
wendig gelernt hatte, eine Leistung, die mancher andere in einem
Jahre nicht fertig bringt. Auf wiederholtes Bitten entschloß sich
dann endlich der Missionar, den Knaben als Waisenkind aufzu-
nehmen und ihm ein Obdach zu verschaffen. Er fand dasselbe im
Waisenhaus zu Puoly, wo er einige Jahre verweilte. Er ist unter-
dessen getauft und verehrt den heiligen Paulus als Namenspatron.
Auch hat er bereits die erste heilige Kommunion empfangen, im letz-
ten Frühjahr aber wurde er gefirmt.
Von jeher war der Knabe ein Muster von Fleiß, Gehorsam
und Frömmigkeit; was aber Talent angeht, war er der Beste
von allen. Oft und oft hatte er mich gebeten, ihn als Seminarist
zuzulassen, denn er mochte so gerne Priester werden. Lange hatte
ich ihn vergeblich bitten lassen auch mancherlei auf die Probe
gestellt. Da mir der Junge aber wohl wirklich Beruf zu haben
schien, habe ich endlich seinen Bitten nachgegeben und ihn in das
Seminar von Jmfu geschickt.
Der Onkel des Paulus ist gleichfalls ein braver Christ geworden,
und als vor Jahren die Boxer gegen das Christentum wüteten, hätte
nur wenig gefehlt, so wäre er von denselben niedergemacht worden.
Weil er früher Mitglied der Sektierer gewesen, hatte man es besonders
auf seinen Kopf abgesehen. Jetzt, da wieder friedliche Zeiten her-
angebrochen, ist er eifrigst bestrebt, in seiner Heimat und besonders
im Kreise seiner Freunde für das Christentum zu wirken, und seine
Bemühungen sind nicht ohne Ei folg.
— 375 —
Ma-tsch'öng.
Ma-tschöng ist das Geschenk eines alten Chinesengenerals
Namens Liung, der uns vor Jahren hier mit seinem Besuche beehrte.
Bei dieser Gelegenheit besichtigte der alte Herr recht eingehend
das „Raus der Barmherzigkeit" (gin-tse-tang) , und die ganze Ein-
richtung gefiel ihm sehr wohl. Noch mehr Gefallen aber fand er
an den Kindern, die so lebensfroh dreinschauten, und denen man
nicht mehr anmerken konnte, daß schon manches dem Tode ins
Auge geschaut hatte. Herr Liung wollte aber sein Wohlwollen
noch besonders dadurch bekunden, daß durch seine Vermittlung
der Anstalt ein Geldgeschenk vermacht wurde. Zum Danke dafür
mußte ich ihm aber einen kleinen Blinden aufnehmen, den er. in
Ts'aufu von der Straße aufgehoben hatte. Gerne sagte ich zu, und
als der General heimgekehrt war, brachte man den Kleinen auf
dem Schiebkarren heran. Als Begleitung waren sogar einige Soldaten
mitgegeben, welche dem Kinde noch einiges Geld zurückließen,
damit es sich zeitweise etwas dafür kaufen könne.
Ma-tsch'öng war anfangs ein rechter Schlingel, und wenn er
noch lange auf der Straße geblieben, wäre er wohl schon längst
gestorben oder aber geistig verdorben. Nunmehr ist er still und
artig; auch wird er nicht mehr Ma-tsch'öng („Das gemachte Pferd")
genannt, sondern er ist auf den Namen Stanislaus getauft worden.
Kinder, die des Augenlichtes beraubt sind, in das Waisen-
haus aufnehmen, bedeutet allerdings eine große Last für dieses,
und es ist leichter, ein halbes Dutzend sehende Kinder in Ordnung
zu halten als ein blindes. Auch ist die Erziehung bei blinden
Kindern eine viel schwierigere. Diese sind in der Regel (wenigstens
haben wir bei chinesischen die Erfahrung gemacht) sehr zu aller-
hand Unarten geneigt; zudem ist es schwer, eine entsprechende
Beschäftigung für sie zu finden. Ohne Aufsicht und Beschäftigung
aber sinnen sie auf Unfug, um sich die Zeit zu vertreiben. Unsere
blinden Knaben haben das Ketten von Rosenkränzen erlernt, und
mit ihren feinfühligen Fingern bringen sie es zu einer großen
Fertigkeit darin. Die blinden Mädchen aber verstehen es meister-
haft, Baumwollengarn zu spinnen, worin sie nicht selten ihre sehen-
den Genossinnen an Geschicklichkeit weit übertreffen.
Joseph Wang-schung-chuen
heißt der Alte, der den kleinen Blinden an der Hand führt.
Der Alte ist zwar nicht blind aber doch ein armer Mann. Jetzt freilich
ist für ihn gesorgt, denn er hat im Greisenasyl ein Unterkommen
- :»?« -
gefunden. Der Krnahrer »»einen Alters, »ein einziger Sohn wurde
vmi einem f.in;iti-ch<Mi Meiden au- Hall gegen (lax Christentum
er-rho— en. Mit Mörder hat allerdings seine verdiente Strafe gefun-
den; Wih follti* aber der bejahrte Vater anfangen, da er «eine« Ernäh-
ren beraubt
war? Schon fleh
mehr als sehn
Jahren iat er
Christ, und üb
solcher ver-
steht er auch,
sein Geschick
mit Geduld und
Ergebung zu
tragen. Über-
haupt gehört
er alrt Christ xu
den heilten, und
selbst als Hei-
den hatte mal»
ihn stets geach-
tet. Obwohl er
mehrere Stun-
den von Puolj
entfernt wohn-
te, pilgerte er
doch an den
Samstagen ge-
wöhnlich zur
Kirche; kein
hoher Festtag
aber ging vor-
über, ohne daß
er gekommen
Der kleine Ma-tsch'öng an der Hand eines Greises. unfl d |f heih '
^an Sakramen-
te empfangen hätte. MattenHechtcr von (Jeschäft, brachte er in der
Keg^l einige Matten mir. welche er verkaufte, um einen Zehrpfennig
zu verdienen für die Zeit -seines Aufenthaltes in der Haupt Station. Da
er nach dem Tode -eine* Sohnes lange obdaeli- und brotlos um-
herirrte, habe ich mich -einer erbarmt und ihn als den ersten für
— 377 —
die von der Familie IL angelegte Greisenstiftung aufgenommen.
Die Familie II. kann sich überzeugt halten, daß wohl keiner auf
der Welt mehr für sie betet als der alte Joseph. Erstens hat er
Zeit zum Beten, und zweitens, was die Hauptsache ist, er betet
Waisenknaben aus Puoly.
auch gerne. „Wenn der liebe Gott nicht müde wird, mich anzuhören,"
meinte er, „sollte ich da müde werden, zu ihm zu beten ? Dieser
Zeit habe ich genug Unnützes geredet (la-chien-kua); jetzt ist es
höchste Zeit, mit dem lieben Gott zu reden, da ich bald vor ihm
erscheinen muß."
- 37* —
Bao-Ie
:-t <]»-r Nun- «1»- Kl»-m»-n :»•« ht- \i#n d»-r Figur de* heilig»
S -hut/»-rig»-l- : v»-rd»-ut-* lit h»-iljt di»-»*- Wi.rt -«» viel als »ich bringe
Nachrphf. in-liört»- «1-r ki> :n- Mann n«M h zu d»-n Lebenden. «*>
könnte »t mariih»rl»i iu- •••in»-m kurzen. ah*-r meisten» re*"ht trau-
rigen L»-b*-ri erzählen. I>»-r Knab«- i-r .iU-r -M-hon vor einem Jahr*
ge*t*#rb«n und — ich zweifle im-Lr daran in ein l^^re*. ewig** !>*-
b»*ri ••in gegangen, denn in d ;••-•• m L*-b» -n hat »r nur wenige Jabf*
•rr»-wiit. un<i da- wap-n mit Au-nahm» de- letzten reche Imme-.
Kaum hatte er da- Li. -hl <l*-r W.-It erbli'kt. da -tarb «eine Mutier.
I>i»-«»- .iU-r wir*- dem Kind*- «ehr notwendig gewesen, dena der
V it*r k«»nnt»* e- nicht leid*-n un«i hart*- d**n •ähnlichsten Wunteh.
daij #- bald -terben riiiVhte. Zwar fünhtete er «ich. 4elb*t Haad
an da- I^-U-n -»-in»- Kinde- zu l*-g#-n. ab*-r je mehr der Kampf bm
da- täglich»- i5n*r d*-n Yater I* -drängt»-, um *«■ öfter «prach er
da.- Verlangen au*. die kl«- in»- Kröte, wi»- er da- Kind verächtlich
nannte, möge -ich in die Knie \»rkri»-« h»-n. oft genug bekam der
iriu»- Kl*-m*- d-n guizen T u: kaum etwa- Nahrung, und nicht die
g*-ririg-te I'H-jfi- wurde ihm zu t*-il: aber trotzdem blieb er am
Leben.
I)i der V it»-r -i«-h bei firp-iu reji-h-n Manne al- Knecht ver-
dingen wollte, -und ihm -»-i n Kind noch mehr im Wege, und die
Yt-r »an fiten. denen »t daA.i*-lb*- anb^r. wollten '•» nicht zo »ich
nehmen. I Jäher fable der Yut»-r den -nt-etzlicrien KnL-chlulS T da»
Kind zu töten. Kr trug den armen Knaben hinau-. weit weg auf
••in ein-ame« Feld. Hi»-r. w.. er -i«h allein und ungesehen glaubte,
fiijt*- »r da- K»n*i m d».-n I>"inen un«i - hlu^ mit dem^elbea auf
eine uii Wege -t»'hen<i- Wt-i#|e. I>a.- J,imm*rge-rhrf-i «eines Unglück-
if.hen Kimie- rührte n«>h <-miuA <ii- Ihm <]•-• grau-ameD Vaters;
er l»-gte *li- irme \V»--*-n neben «Jen Ha um un«l eilte davon. Der
Kieme j iiumerte n>>-h Ln^e. iUt immer «oh wacher wurde seine
Stimme, hi- -i»- endlich gmz rer-c umtut*-.
Iler unnitürliche Yater jber find keine Kühe. Dan Jamioer-
ge-/-hrej —ine- Kinde- tünt»- f'^rt in leinen «"ihren, und je weiter er
-ich von ihm entfernte, de-to lauter vernahm er e s .
Oft blieb er -tehen. und e- war ihm. al- zöge ihn eine unsicht-
bare Mi«;ht zurück zur Fre vel-ütte: dinn aber Erhalt er «ich ?>elb*t,
mrinte iich einen Feigling und lief immer weiter. Endlich aber
konnte er e^ nicht mehr über -ich bringen, weiter zu laufen; er
kehrte U'ii und *-M £ > r '»j r '••*cr «ehr a J - 7u**- f r-
— 879 -
Ungefähr eine Stunde nach der schrecklichen Tat kam der
herzlose Vater wieder bei seinem halbtoten Kinde an. Als er das-
selbe in so elendem Zustande ganz still und ruhig daliegen sah,
wurde er von bitterer Reue erfaßt, und reichliche Tränen entströmten
seinen Augen. Schnell barg er das arme Wesen in seinen Busen
und eilte damit nach Hause.
Als er nun den Knaben bei Licht betrachtete, sah er zu seinem
Entsetzen, daß ein Fuß desselben zerbrochen war, und sich auch
sonst mancherlei Blutspuren und Schrammen an seinem Körper
befanden. In der Nähe wohnte eine christliche Jungfrau, die es
verstand, verrenkte oder verstauchte Glieder wieder in Ordnung zu
bringen. Zu dieser brachte der Vater das mißhandelte Kind. In
wenigen Minuten hatte die Jungfrau das gebrochene Bein mit einem
kunstgerechten Verbände versehen und erkundigte sich dann nach
den Ursachen des Unglückes. Erst wußte der Vater vor Scham
und Verlegenheit nicht, was er sagen sollte, dann schob er die
Schuld auf die Großmutter und erklärte, diese habe das Kind so
hergerichtet, weil ihr die Ernährung desselben unmöglich gewesen.
Seine Frau, die Mutter des Kindes sei gestorben, er aber wolle
bei einem Heiden in Dienst treten, und könne daher den Knaben
unmöglich mitnehmen.
Da erklärte sich die brave Jungfrau sofort bereit, den Knaben
zu pflegen, und falls er nicht infolge der ausgestandenen Mißhand-
lungen schon bald sterben würde, ihm später ein gutes Unterkommen
zu verschaffen.
Der liebe Gott belohnte die Bemühungen der edlen Christin;
der Knabe erholte sich ziemlich gut, und das zerbrochene Bein war
völlig wiederhergestellt, als seine Pflegerin ihn zu uns ins Waisen-
haus brachte. Der Kleine hatte sich schnell in die neue Lebensweise
eingewöhnt; er war brav, folgsam und zufrieden, aber eigentümlicher-
weise machte er immer einen gesetzten, ernsten Eindruck, und nie-
mals sah man ihn lachen. Die geistigen Fähigkeiten schienen sich
ungewöhnlich früh in dem Knaben zu entwickeln. Beten war seine
Lieblingsbeschäftigung, und oft sah man ihn allein vor einem Bilde
knieen. Dieses Bild stellte den heiligen Joseph vor, wie er den
Jesusknaben an der Hand führt.
Als der Knabe eines Tages krank in seinem Bette lag, ver-
klärte sich plötzlich sein Gesicht, und er lachte laut; es war das
erste Mal, daß wir ihn fröhlich gesehen.
„Vater, sieh doch," sprach er dann; „wie der kleine Jesus so
freundlich tut und mir winkt, zu Ihm zu kommen. u
— 380 —
Wir glaubten anfangs, der Kleine phantasiere, doch war er ganz
bei Sinnen und hatte auch kein Fieber. Ein anderes Mal sah ein
chinesischer Lehrer, der die Kinder beaufsichtigte, wie der kleine
Bao-le wiederum lachte und ungewöhnlich lebhaft tat. Unbemerkt
schlich ersterer sich heran und konnte dann beobachten, wie der
Kleine immerfort zu dem Bilde emporschaute und sich benahm, als
ob er mit dem Jesukinde spiele. Auf die Frage, was er denn dort
treibe, entgegnete Bao-le, daß er sich mit dem lieben, kleinen Jesus
amüsiere. Bruder Ulrich war gleichfalls Zeuge dieses Vorganges.
Der gute Junge wurde niemals mehr ganz gesund. Als er
eines Tages wie gewöhnlich in seinem Bette lag und zu dem Bilde
des Jesukindes hinaufsah, griff er fast plötzlich in die letzten Züge ;
mit lächelnder Miene hauchte er seine reine Seele aus. Ich zweifle
nicht daran, daß der göttliche Kinderfreund ihn sofort in den schönen
Himmel aufgenommen hat. So unglücklich im Leben, so glücklich
war er im Tode.
Raphael Wang.
Raphael Wang soll aus der Mongolei stammen, worauf auch
wohl sein Milchname Ta-t&e (Tatar) zu deuten scheint. In seinem
Selbstbewußtsein hat er sich zuerst als kleiner Bettelbub gefunden,
wie er im Verein mit andern Bettlern, groß und klein, von Dorf
zu Dorf, von Haus zu Haus durch die Lande zog, beschimpft von
den Leuten, gebissen von den Hunden, hungernd und frierend, als
Waise, von wenigen beachtet, von niemand geliebt. Das kann
der Kleine jetzt noch so rührend erzählen, daß es einem ordentlich
wehe tut, und man unwillkürlich mitempfindet. Einstmals hatte ihn
ein Hund derart zugerichtet, daß er sich kaum mehr vom Boden
zu erheben vermochte. Nachher fingen die Wunden zu eitern an,
und da war es mit dem Betteln vorbei. Sicherlich wäre der arme
Schelm drauf gegangen, und zwar bald, denn schon manche Tage
hatte er nichts mehr zu essen bekommen, wenn nicht sein guter Engel
wie zufällig einen Katechisten in die Pagode geführt hätte, in der
das Kind in einer Ecke lag. Kaum mehr fähig zu sprechen, konnte
der Katechist weiter nichts herausbringen, als daß es sich um ein
eitern- obdach- und hülfloses Kind handle. Schnell gab er dem
Missionar Nachricht, welcher allsogleich das arme Geschöpf holen
ließ. Zu Ehren seines guten Engels, der ihm das zeitliche und
ewige Leben gerettet, wurde er Raphael getauft. Es dauerte dann
eine geraume Zeit, bis sich der Knabe unter dei sorgsamen Pflege
— 381 —
eines Christen wieder erholt hatte. Dana wurde er in das Waisen-
haus nach Puoly geschickt, wo er sich nunmehr als flinker kerngesunder
Junge überglücklich fühlt. Er zählt bereits 13 Jahre und wurde
vor kurzem zur ersten heiligen Kommunion zugelassen.
Bernhard Yan-saen.
Der Kleine da guckt ganz verzückt zum Himmel auf, aber
daß es mit seiner Andacht nicht weit her ist, bezeugen seine
schalkhaften Augen. Übri-
gens ist er auch nicht so
schalkhaft, wie ihn die Mo-
mentaufnahme erfaßt hat. Es
schien ihm nur zu spaßig,
daß er in die Höhe schauen
sollte, da er doch lieber dem
Photographen in den Kasten
geschaut hätte. Der Photo-
graph aber wollte es so ha-
ben, damit das Gesicht des
Bürschleins im Schatten des
großen Hutes nicht allzu dun-
kel ausfalle.
Der Knirps heißt Yan-saen,
d. h. der dritte, namens Yan.
Er heißt der dritte, weil er
über sich noch zwei Brüder
hat und eine Schwester, „die
aber nicht mitzählt". Die hat
der Vater schon beizeiten ver-
kauft, weil er sonst zu Hause
nichts mehr hatte, woraus
Geld zu schlagen war. Seine Heimat ist Tjü-je, der nämliche Bezirk,
in dem die PP. Nies und Henle ermordet wurden. Obschon Yan-saen
noch jung an Jahren ist, so hat er doch schon mancherlei mit
durchgemacht : wenig Freudenreiches, des Schmerzlichen aber um so
mehr. Er wurde als einjähriges Büblein vom Missionar aufgenom-
men, und bei der Taufe erhielt er den Namen Bernhard. Ein
mitleidiger Christ hatte ihn auf der Straße gefunden, mitten im
kalten Winter, fast ohne alle Kleidung, ausgehungert und bald zu
Tode erfroren. Was sollte der Missionar machen — er mußte den
— 382 —
Kleinen aufnehmen und schickte ihn dann für zwei Jahre in eine
christliche Familie zum Ernähren. Seine Eltern waren nämlich tot;
die zwei Brüder aber hatten sich auf den Weg gemacht zum Rau-
ben und Stehlen und hatten das Brüderlein im Stich gelassen. Einige
Zeit hatte ihn dann eine alte Bettlerin aus Barmherzigkeit auf ihren
Gängen mitgenommen ; aber schließlich wurde auch sie des Kleinen
müde und machte fortan ihre Gänge allein.
Die Eltern waren eines unnatürlichen Todes gestorben. Den
Vater hatte man mit einer Lanze mehrfach durchbohrt und
dann in einen Brunnen geworfen. Er konnte seine Gläubiger nicht
befriedigen, diese aber wollten keinen Aufschub mehr haben, und
da sie ihm eines Tages auf einsamen Wegen begegneten, geschah
das Schreckliche. Als die Dorfbewohner den Leichnam aus dem
Brunnen gezogen, kam auch die unglückliche Frau herbeigelaufen.
Sie wußte sofort, wer ihren Mann umgebracht und wollte zum Man-
darin eilen, die Täter zu verklagen. Doch hielt man sie zurück;
man wollte sich gütlich mit ihr abfinden und alle Forderungen
gewähren. Es wurde sogar von den Gegnern eine Mahlzeit hergerich-
tet, um den Zorn der Frau zu besänftigen. In den Wein aber, wel-
cher mit aufgetischt war, hatten die Unholde Gift gemischt; die
Frau trank davon, und nach einigen Tagen war auch sie eine Leiche.
Als der kleine Bernhard sechs Jahre alt war, wurde er nach
Puoly ins Waisenhaus geschickt. Für seine zehn Jahre ist er etwas
klein geblieben, im übrigen aber hat er sich gut entwickelt und
ist auch im großen und ganzen kein übler Junge. Er gehört mit
zu den Sängern, und da er ein gutes Talent hat, studiert er auch
die chinesischen Gelehrtenbücher. D.iß er als Bettelbüblein mal hat
schreien müssen, um ein Stücklein Brot zu bekommen, scheint für
die Entwicklung seiner Stimme von Vorteil gewesen zu sein. Jetzt
erklingt seine Stimme oft und oft zum Lobe Gottes, und wenn er
mit hilft das „Großer Gott wir loben Dich* zu singen, wünscht
man nur, die guten Wohltäter in Europa möchten es hören, dann
würden sie sich noch mehr der Gaben freuen, die ihre Liebe für
unsere armen Waisen gespendet hat.
Paulus Wang.
Paulus Wang heißt mit seinem kleinen Namen „Hei-tu", was so
viel als „schwarzer Kahlkopf u bedeutet. Jetzt allerdings hat er keinen
kahlen Kopf mehr, trägt vielmehr einen ansehnlichen Zopf, aber ehe-
mals war ihm das kleine Haupt geschoren, da er als Novize im Bonzen-
— 383 —
kloster weilte. Seine Mutter brachte ihn von Armut getrieben dorthin.
Der Vater war nämlich schon längst gestorben, ohne auch nur ein
Stückchen Land zum Bebauen oder etwas Geld zu hinterlassen. Er
war bisheran Ernährer der Familie gewesen, und jetzt nach seinem
Tode blieb nichts anders übrig, als sich auf den Bettel zu begeben.
Zwei Schwesterchen des Paulus erlagen bald den Strapazen und
noch mehr dem Hunger, der nie so recht gestillt wurde. Als
nun auch noch die Mutter zu kränkeln anfing, fand sie keinen
andern Ausweg, ihren Liebling zu retten, als selbigen einem Bon-
zenkloster zu übergeben. Er sollte dort vorläufig Novizenschüler
werden, und wenn er dann später Bonze geworden, sei für seinen
Lebensunterhalt gesorgt. Paulus war damals erst acht Jahre alt, und
das Leben in Gemeinschaft der Götzendiener behagte ihm keines-
wegs. Während sie nämlich schliefen und faulenzten oder Tabak
rauchten, wurde der Kleine aufs Feld geschickt, um Gras und Stop-
peln zu sammeln als Feuerung für die Küche. Die Bonzen selber
hatten keine weitere Beschäftigung, als Essen zu kochen; und am 1.
und 15. jeden Monats schlugen sie auf eine Glocke und verbrannten
etwas Räucherwerk zu Ehren des mächtigen Götzen, der auf einem
Altäre in der Pagode thronte. Beten hat sie Paulus, wie er sagt,
niemals gesehen. Zur Pagode gehörten verschiedene Besitzungen
und Ländereien, die an umliegende Bewohner verpachtet waren ;
von den Erträgnissen derselben lebten die Bonzen.
Paulus hatte einen Bruder, der um fünfzehn Jahre älter war als
er. Zur damaligen Zeit hatte die christliche Religion im Gebiete Ts'ao-
hien soeben Eingang gefunden, und auch dem Bruder des Paulus
war das Gerede davon zu Ohren gekommen. Er suchte deshalb
einen Katcchistcn auf, ließ sich von ihm belehren und machte später
auch dem Missionar seine Besuche. Die Wahrheiten des Glaubens
gefielen dem jungen Manne, und er erklärte sich bereit zur Annahme
derselben. Fleißig oblag er dem Studium der Gebete und Kate-
chismen, und nach Verlauf eines Jahres hatte er sich soweit vor-
bereitet, daß er getauft werden konnte. Nun beseelte ihn nur das
eine Verlangen, seinen Bruder zu retten, d. h. ihn aus der Pagode
und dem Götzendienst zu befreien. Da die Mutter unterdessen
gestorben war, stand von ihrer Seite kein Hindernis im Wege. Er
machte sich also zur Pagode auf, seinen Bruder zu besuchen, und
da beide allein waren, wurde der Fluchtversuch besprochen und
überlegt. Dem Hei-tu klang das wie eine Botschaft aus dem Himmel
entgegen. Schon lange hatte er gewünscht entfliehen zu können,
denn das Leben bei den Bonzen und der Götzendienst sagten ihm
— W4 —
durchaus nidu zu. Zur Flucht wurde also der nächste Tag in
Auvicht genommen. |)it ältere Bruder nahm Abschied bis „zum
Wiedersehen auf morgen". Als am andern Tage dir Bonzen eben
beim Morgentee verhimmelt waren, entfernte sich der kleine Novize
unter dem Vorwande, er inü».*e eben hinaus. Indessen mochten
dir Bonzen wtihl .-eine Absicht zu entfliehen erraten haben, denn
kaum war der Kleine hinausgegangen, folgte ihm ein älterer Bonze
zu -eben, wo er bleibe, l'nd da gewahrt«* er dann, wie der un-
treue Novize mi M-hnell er nur konnte «juerfehlein davon lief. Der
Die Kleinsten im Waisenhaus zu Puoly.
Bonze setzte ihm naeli: doch merkte er bald, dal) es vergebliche Mühe
-«■!. de» ha^eiiM-hiii'llfülii^en Hüben einholen zu wollen. Unter Schim-
pfen und Flin'heii kehrte er zum E^en zurück, da* jetzt niemandem
mein- schmecken wollte, di-iin der junge Kh»ter-Kandidat war der
Liebling aller gewesen und hatte dem Klo>ter schon mancherlei
Dienste geleistet. Ihrer Verabredung zufolge trafen sich die zwei
Brüder im nächsten Dorfe. «las ungefähr eine Stunde weit von der
l'agoile entfernt liegt. Beide gingen dann, den Missionar aufzu-
suchen. Doch hier konnte: und durfte sich der entlaufene Bonzen-
novize nicht lange aufhalten: denn es war vorauszusehen, daß man ihm
nachsetzen und ihn zur Rückkehr veranlassen würde. Der Missionar
lieli aUo den Jungen zu einer entfernt liegenden Station gehen.
— 385 —
Dort wechselte er seine Bonzenkleider und besuchte fortan die
christliche Schule. Da der Knabe sehr gut gesittet schien, und
auch nicht übel talentiert war, willfahrte der Missionar endlich dem
stetigen Drängen des älteren Bruders und nahm den gewesenen
Bonzen-Novizen unter die Schar der Waisenkinder auf. Er war
ja Waise im eigentlichen Sinne des Wortes, und nur die Not
hatte ihn in die Pagode gebracht. Als er dann hier in Puoly
ankam, hatte er schon wieder ein Zöpfchen, und jetzt merkt man
rein nichts mehr davon, daß der Knirps ehedem Bonzenschüler
gewesen. Er selbst hat es übrigens auch nicht gerne, wenn man
davon spricht. Wenn ihn seine Kameraden mal necken wollen, nen-
nen sie ihn Hei-tu den „schwarzen Kahlkopf". In der Taufe bekam
er Sankt Paulus als Patron, zu dem er auch eine besonders innige
Verehrung trägt.
Rosa Wang.
(Bild siehe S. 151.)
Waren das traurige Tage der Not, als zur Boxerzeit Hirten
und Schafe gemordet, verfolgt oder vertrieben, die Kapellen vielfach
in Trümmer gelegt, und die Waisenhäuser, wo nur immer möglich,
dem Pöbel zur Plünderung preisgegeben wurden. Die armen Wai-
sen irrten obdachlos und schutzlos hierhin und dorthin. Mancher
erbarmten sich mitleidige Verwandte, und sie nahmen die Kinder
zu sich; die meisten aber hatten weder Verwandte noch Freunde
und wurden eine Beute der Gottlosen. Als die Not bei uns in Puoly
den Gipfelpunkt erreicht hatte, beschlossen wir, die Kinder beizeiten
zu Verwandten oder sonst guten Leuten zu schicken, damit sie vor
dem Verderben bewahrt blieben. Es kam denn auch der Vater
eines Mädchens, Rosa Wang mit Namen, der seine Tochter mit
nach Hause nehmen wollte. Wir waren dessen zufrieden, doch das
Kind wollte nichfc Alles Zureden von unserer und des Vaters Seite
war umsonst. Ihr Vater, sagte das Mädchen, sei ein Heide; nach
Hause zurückgekehrt, müßte sie sicher wieder tun wie die Heiden.
Das dürfe sie aber nicht, weil sie dadurch den lieben Gott beleidige.
Wenn sie jetzt auch tot gemacht würde, so sei das nicht schlimm,
dann käme sie in den Himmel. — Wir konnten und wollten
natürlich das Kind nicht zwingen doch nach Hause zu gehen. Der
Vater war erbost über den Freimut seiner Tochter, als weder Ver-
sprechen noch Drohungen halfen, mußte er unverrichteter Sache
heimkehren.
iL Pieper, .Neue Bändel*. 9$
— 386 —
Der Sturm hat ausgetobt, und der liebe Gott hat das Waisen-
haus in Puoly gnädiglich beschützt. Die kleine Rosa aber braucht
es nicht zu bereuen, daß sie den Versuchungen ihres Vaters so
standhaft widerstanden hat. Uie Kleine, obwohl erst 13 Jahre alt,
hat überhaupt in vieler Beziehung die Energie und das Benehmen
einer Erwachsenen. Es scheint, als habe sie der liebe Gott zu etwas
Besonderem berufen. Ihr Wunsch ist, Jungfrau zu bleiben, um,
wie sie sagt, der lieben Gottesmutter in besonderer Weise nachzufol-
gen und sich ihr zu weihen.
Was die ersten Lebensjahre des Kindes angeht, so ist nicht
viel darüber bekannt, da der Missionar, welcher sie aufgenommen,
nicht mehr unter den Lebenden weilt. Es ist dieses P. Henle,
seinerzeit von den Chinesen grausam ermordet. Bei seiner Aufnahme
zählte das Kind sechs Jahre. Ihre Mutter hatte sie früh verloren.
Deshalb mußte die Großmutter sich der Kleinen annehmen und für
sie sorgen. Der Vater diente draußen als Taglöhner, erübrigte aber
kaum so viel, als er für den eigenen Unterhalt nötig hatte. Als
die Großmutter dann mit jedem Tage älter und gebrechlicher wurde,
hätte sie sich am liebsten des Kindes entledigt. Wegwerfen konnte
sie es jedoch nicht mehr, dafür war es zu groß, und das Wegschicken
war umsonst, da die Kleine am Abend immer wieder bei der
Großmutter anklopfte, wenn sie am Morgen entlassen war. Ein
Christ, der das arme Geschöpf öfter umherirren sah, erkundigte sich
nach ihrer Herkunft. Als er ihre traurigen Verhältnisse erfuhr,
ermahnte er die Großmutter, sie solle Christin werden. Sic müsse
ja bald sterben; als Christin würde sie aber nach dem Tode dort
oben gut ankommen. Er wolle dann auch bei dem Missionar Für-
bitte einlegen für ihre kleine Enkelin, damit sie ins Waisenhaus
aufgenommen würde. — Die alte Frau ist Christin geworden und
bald nach der Taufe gestorben. Als sie tot war, blieb dem Missio-
nar nichts anderes übrig, als sich der Kleinen zu erbarmen. Ihr
Vater war schon seit längerer Zeit verschwunden, auch war kein
Verwandter zu finden, der für die arme Waise Sorge getragen
hätte. Später ist der Vater wieder heimgekehrt. Als er hörte, seine
Tochter sei im Waisenhause, war er damit sehr zufrieden. Christ
aber will er, wie gesagt, nicht werden; indessen dürften ihm die
vielen Gebete des Kindes mit der Zeit die Gnade der Bekehrung
wohl erflehen.
— 387 —
01-chian.
Ol-chian ist der Name jenes hübschen Mädchens, 1 ) dem man
kaum mehr ansieht, daß es schon dem Tode ins Auge geschaut
hat. Allerdings sind seit der Zeit schon einige Jahre verflossen.
Damals, als das Kind seine Mutter verlor, zählte es erst drei Wo-
chen, jetzt aber hat es ein Alter von 12 Jahren. Sein Yater war
ein Räuber und nur höchst selten zu Hause. Nur wenn er einen
guten Fang gemacht, brachte er etwas davon seiner Frau und den
Kindern, das meiste aber behielt er für sich, und verpraßte es in Gesell-
schaft seiner Spießgesellen. Allmählich aber kam der Mandarin den
Unholden auf die Spur; aber sie einzufangen war keine Kleinigkeit.
Es dauerte eine geraume Zeit, ehe man ihrer habhaft wurde, und zwei
Soldaten verloren im Kampfe mit den Räubern das Leben. Diesen
selbst wurde nun auch der Prozeß gemacht und zwar ein recht
kurzer. Das Henkerschwert beförderte sie samt und sonders ins
Jenseits hinüber, und sie starben mit dem Versprechen, bald wie-
der zu kommen, „um ihr Handwerk von neuem zu beginnen und
sich zu rächen". Nach dem Tode ihrer Mutter war die kleine Ol-chian
bei ihren Verwandten untergebracht. Da der Vater zeitweilig
etwas von seinem Geraubten herüberbrachte, ließ sich die Verwandte
die Mühen, welche ihr das Mädchen verursachte, nicht verdrießen;
als der Räuber aber geköpft war, wurde das Kind einfach auf die
Straße getrieben. Zum Betteln war es noch viel zu klein, aber
selbst seine Tränen konnten die grausame Nährmutter nicht bewegen,
sich des armen Geschöpfes zu erbarmen. Als sie das beständige
Weinen der Waise überdrüssig geworden, führte sie dieselbe zum
Dorfe hinaus, indem sie dem Kinde vorlog, den Vater aufsuchen
zu wollen. Als sie sich jedoch weit genug im Felde glaubte,
und von allem Seiten kein menschliches Wesen zu entdecken war,
nahm die Grausame einen Faden und umwand damit die beiden
Füße des Kindes; doch damit noch nicht zufrieden, band sie
auch noch die Händlein desselben fest zusammen und ließ das un-
glückliche Geschöpf so gefesselt im Felde liegen. Sie selber machte
sich eilends davon, und bald hörte sie denn auch das Wimmern des
Kindes nicht mehr.
Hätte die Vorsehung nicht über dasselbe gewacht, und einen
rettenden Engel geschickt, dann würde bald seine letzte Stunde
geschlagen haben. Der rettende Engel war zunächst ein Reitersmann.
Sein sonst so getreues Pferd wurde mit einem Male störrisch,
'} Bild siehe umstehend.
2ö #
und er mullte absteigen, um es um Zügel zu führen. Das Tier
war bald wieder besänftigt, und der Rcitersmann sah Mich noch einem
Knihügel um, um bequemer wieder auf sein h och be pack ren Tier
steigen xu können. Ahseit*, nicht sehr weit vom Wege, war ein
kleiner Wall aufgeworfen, dorthin führte er Hein Roll. Eben wollte
er aufsteigen, als das Pferd von neuem zu schnaufen begann und
die Ohren spitzte. Kr merkte auf und horte dann in der Nähe
das Wimmern eines Kindes. Ks war die < Median, und der Reiten-
mann war ein Katechist, der eben unterwegs war, den Miftfiionar
aufzusuchen. Kr selber stieg jetzt nicht mehr auf» Tier, sondern
packte das zum Tode ermattete Kind darauf, nach dem er 68 von
den Fesseln freigemacht.
Der Missionar suchte für das Mädchen eine christliche Nähr-
mutter, unter deren sorgsamer Pflege es sich bald wieder erholte. Im
Alter von fünf .Jahren wurde es dann in unser Waisenhaus geschickt,
und dort ist die Kleine glücklich und zufrieden. Aber auch der
Missionar ist mit ihr zufrieden, denn sie ist (»in braves und folgsames
Mädchen. Hoffentlich hat sie keine der l-ntugenden ihres Va-
ters geerbt, sondern schlägt auf ihre Mutter, die eine ordentliche
Person gewesen sein soll. Dieselbe sei gerne aus dem Leben ge-
schieden, weil ihr Mann ein Häuber geworden.
* •««* € «»—
Tagebuch und Gedankenschnitzel
auf apostolischen Reisen.
10. Januar 1905. Viele Zweige. Vieh» Bäume machen einen
Wald. Wälder haben die Chinesen nicht, und darum gilt bei ihnen
das Sprichwort: r Viele Zweige machen einen Baum*'. Geht man
den Weg von Tnnytuvlftnifn nach TxhutnjH, so sieht man das Sprich-
wort bewahrheitet. Fast alle Bäume den Weg entlang haben flieh
aus der Vereinigung vieler Zweige gebildet. Besonders ist dietses
bei den Weidenhäumen der Fall. Stehen einige junge Sprossen
beisammen, so werden dieselben umeinander geschlungen, und in
wenigen Jahren sind sie miteinander verwachsen. Da« Ver-
fahren geschieht hauptsächlich wohl nach dem Prinzip: Einig-
keit macht stark. Die einzelne Rute ist der Gefahr ausgesetzt,
von den Fuhrleuten, die des Weges ziehen, abgerissen zu werden.
Um das zu verhindern, soll sich die Rute schnell zu einem Baume
entwickeln, der dem Zerstörungstriebe leichter Widerstand leistet.
- äsd —
11. Januar. Bisklotz: Selbstling. Der Eisklotz hält »ein
Wasser fest zusammen, und ein Klumpen Metall laßt sich nicht in
eine Form hingen. Beide Dinge dienen nur sich selhor und glei-
chen den Leuten, deren Sinnen und Trachten nur auf die eigene
Person konzentriert ist, deren Fühlen und Denken in dem lieben
Ich aufgeht, deren Reichtum und Können, deren Wissenschaften
und Fähigkeiten nur dazu dienen, um der eigenen Person einen
Nimbus um das ehrwürdige Haupt zu legen. Soll der Eisklotz sein
Wasser spenden, damit er sich erhebe zu den Regionen der Wolken
und von diesen fortgetragen werde, um als befruchtender Regen
niederzufallen auf die dürstendo Saat: müssen ihn zuvor die Strah-
len der Sonne treffen, er muß seine Härte und Kälte verlieren.
Soll das vereiste Herz des Selbstlings auch für andere schlagen :
muß zuvor die Gnadensonne der gottlichen Liebe hineinscheinen.
Und noch weit größere Hitze ist erforderlich den starren Eisenblock
geschmeidig und flüssig zu machen und ihn in eine Form zu zwin-
gen; ja selbst der kleinste Nagel muß erst gehämmert werden, um ihn
tauglich zu machen für den Gebrauch im Leben. Soll der Selbstling
zu einem nützlichen Gliede der Menschenfamilie umgeschmiedet
werden, bedarf es vieler Ha mm erschlage; wer sie ihm gibt, tut ein
gutes Werk und verrichtet Handlangerdienste für den lieben Herrgott.
12. Januar. Amerikanische Missionare. Katholische Glau-
bensboten brachten das Christentum nach Amerika, und heutzutage
sendet Amerika protestantische Missionare nach dem Reiche der
Mitte, um die heidnischen Chinesen zu bekehren, während die Katho-
liken Amerikas auf dem Gebiete der Glaubensverbreitung vielfach
nur den müßigen Zuschauer machen.
13. Januar. Kleinigkeiten. Es ist wirklich wunderbar, durch
welche Kleinigkeiten sich der arme Mensch gar allzuleicht seine
Laune vergällen läßt. Entfällt seinem Schnauzer ein Haar, dann
schmerzt ihn das vielleicht tief in der Seele, zumal wenn es ein recht
langes war, und die Zahl der Mundbeschatter eine beschränkte
ist. Er kennt sie ja fast alle mit Namen, und fehlt ihm eines der
Lieben, ist es für heute aus mit seiner guten Laune. Die verehrten
Damen tragen ihren Firlefanz nicht unter der Nase, sondern an den
Kleidern, und auch sie können ganz untröstlich tun, wenn da etwas
fehlt oder nicht in Ordnung ist. Dann gibt es einen ganzen Tag
Regenwetter, auch donnerts noch wohl dazu, und der Blitz schlägt
ein auf den ahnungslosen Sofaköter oder die bedauernswerte Küchen-
magd, weil sie den Kaffee eine Minute zu spät serviert.
— 3Ö0 —
IR. Januar. Tji süo: Schnee erflehen. Not lehrt Beten.
Du* NpnVhwort ist wahr, da oh der menschlichen Natur entspricht,
*<> *ay<m\ «Uli auch clor Heide, der den wahren Gott nicht kennt, zur
ZiMl dor N^t ku don falHchen Götzen seine Zuflucht nimmt 7)7 fr
p*rrt fVf> f^?i % sagt ein chinesisches Sprüchwort: „Zur Zeit der Xot
MmliltMtttuohM du Buddhas Füße". Aber auch bezeichnend für die
^hwwu*oho Handlungsweise ist der zweite Teil des Sprichwortes chien
>s^f ** xvAttt» ehUmy: „Zur Zeit des Wohlergehens wird kein Weih-
wwh xwhritiitit. 11
tWan orinnorte ich gestern einen befreundeten Mandarin, der
\nnh oiwor * Wallfahrt," die er zur Erflehung des Schnees unternom-
wvw % ttirttokgnkehrt, bei mir vorsprach. Er meinte, das habe doch
\s\\A\\ ftatiK seine Richtigkeit, denn es werde in der Regel zum Danke
'Vhoalor gespielt, wenn der erflehte Regen oder Schnee gefallen sei.
\\A\ frug ihn dann, ob das Theater gespielt werde zur Belustigung
dor UftUnu oder der Leute. Da wurde der Mandarin um die Ant-
wort etwas verlegen und er meinte, Götzen und Menschen hätten
alUunml ihre Freude am Theaterspiel.
16. Januar. Ein harter Tod. Wie wird es der armen Seele
dnroinstons schwer fallen, sich aus der massiven Behausung des
Kttrpors emporzuschwingen in den lichten Aether der Gottesnähe.
Wer schon im Leben durch beständige Abtötung und Arbeiten im
Dienste Gottes die Körperfeste mehr zu einer Ruine verwandelt hat,
dessen Seele wird dann leicht Abschied nehmen, und die Trennung
geht ohne vielen Kampf, in frohem zuversichtlichen und hoffnungs-
vollen Entgegenharren.
Schnee. In dieser Nacht ist starker Schnee gefallen. In-
folgedessen wird das Fahren beschwerlich, und die gezackten Räder
kreischen durch die bedeckten Wege. Sitzt man im Wagen, so hat
man das Gefühl, als ob das Räderwerk eines Maschinenbetriebes
an das Ohr dränge.
Mitten im Felde liegt ein Begräbnisplatz. Das weille Schnee-
tuch, über die Grabhügel ausgebreitet, mahnt an die Toten, die dort
ruhen. Düster und einsam hält eine Reihe Cypressen Grabeswacht.
Im Winter ist der Baum vollständig in Schwarz gokleidet und hebt
sich deshalb von der weißen Schneehülle um so entschiedener ab.
Wenn dann ein Windeshauch durch die Zweige wimmert, klingt
es wie ferne Geisterstimmen.
25. Januar. Armut und Neujahr. Die Krankheit ist das
Fehlen der Gesundheit, wie die Armut das Fehlen des irdischen
— 391 —
Besitztums bedeutet. Somit ist auch die Armut eine Art Krankheit
und wird nicht minder schmerzlich empfunden als das Nichtvorhan-
densein des leiblichen Wohlbefindens. Heute ist das Nationalfest
der Chinesen, der 1. im 1. Monate, ein Freuden- und Friedenstag
im ganzen Reiche. Und dennoch sah, ich wie zwei Arme draußen
einsam auf dem Felde Brennmaterial sammelten, wozu sie nur die
äußerste Not hat treiben können, denn zu Neujahr will selbst
der Bettler feiern.
27. Januar. Neujahrsvisiten. Niemals im Jahre sind die
Wege derart belebt, wie um Neujahr. Verwandte und Freunde
suchen sich gegenseitig auf, beglückwünschen sich und tauschen
Geschenke aus. Wer daheim einen Karren hat, spannt solchen an,
wer selber über keinen verfügt, nimmt sich einen zur Leihe. Einen
recht behäbigen Eindruck machen diese plumpen Bauerngefährte,
von einigen Matten überdacht, unter welchen sich die Besucher ver-
krochen halten. Das Gespann bilden in der Regel einige Ochsen,
die es ebensowenig eilig haben wie die Wageninsassen. Der Chinese
schwärmt mehr für die Sicherheit, denn für die Eile und huldigt
dem Grundsatze „Eile mit Weile". Will man etwas als besonders
zuverlässig bezeichnen, so sagt man: „lao t'et'e zuo niu tsch'ü uin-
tantichin": Die Matrone auf dem Ochsenwagen ist vor jedem Unfall
sicher. Selbstverständlich hat man sich für solche Besuche aufs
beste aufgeputzt. Junge Frauen und Mädchen tragen die ganze
Farbenskala an ihren Kleidern, und in den Haaren blüht ein künst-
licher Frühling.
Eben sah ich einen Mistsammlcr ein paar Blumen, die sicher
irgend einer Schönen entfallen waren, auflesen und an seinem Mist-
korbe befestigen. Darüber wird sich sicher mancher geärgert ha-
ben; die Blumen aber schmücken gerade so gerne einen stinkigen
Korb als das hohle Haupt einer aufgeblasenen Evastochter mit
Ziegenfüßen.
14. Februar. Kindermund. Es war eine alte Überlieferung
in unserem elterlichen Heim, daß der Jüngste am 1. in jedem
Monate die 15 Nummern der Rosenkranzbruderschaft in die ver-
schiedenen Familien tragen mußte, welche Mitglieder derselben waren.
Ich als der jüngste einer langen Reihe von Brüdern hatte dieses
Aemtchen viele Jahre inne, und es war eine meiner liebsten Be-
schäftigungen von Haus zu Haus die Runde zu machen und den
Leuten die Nummer zu überreichen. Die meiste Angst hatte ich
vor einer Schar Gänse auf einem Bauernhofe, aber ein Fräulein
— 392 —
daselbst füllte die Taschen voll mit Aepfeln und Nüssen, und dafür
ging ich den Gänsen gerne aus dem Wege. In einem anderen
Hause beklagte sich regelmäßig die Bäuerin, wenn ich ihr Nummer
eins brachte, denn dann mußte sie mehr beten als die anderen. Sol-
ches Räsonieren kam mir widerlich vor, und es schien mir der Mühe
nicht wert, einiger Vaterunser halber viele Worte zu machen.
„So laßt euch doch aus der Bruderschaft streichen, wenn euch das
Beten zu viel ist*, sagte ich einstmals der Bäuerin, und seitdem
beklagte sie sich nie mehr.
„80 laßt doch das Christwerden bleiben, wenn euch das Beten
zu viel ist", sagte dieser Tage ein zwölfjähriger Bube zu seinem
Onkel, der gerne getauft werden wollte, aber am Beten keine Freude
hatte. Wie ihm dann der kleine Neffe erklärte, was es eigentlich
mit dorn Beten auf sich habe, sah man fortan den Onkel immer
unter den ersten in der Kirche, und er konnte bald getauft werden.
So kann auch ein Kindermund schon mit ein paar Worten predigen,
und gerade auf alte Herzen wirken solche Predigten nicht selten
am nachhaltigsten.
4. März. Wasser und Eis. Welche Gegensätze bilden
Eis und Wasser zu einander, und doch ist es das nämliche Material.
Das Wasser kann den Tod bringen, sowohl im heißen Zustande,
als auch zu Eis gefroren. Wie viele Geheimnisse umschließt nicht
dieses Element und leistet dem Menschen so vielerlei Frohndienste
wie sonst wohl kein Ding in der Natur. Ja selbst im geistigen
Leben bildet das Wasser die Brücke zum Eintritt in die Kirche
und erschließt den Gnadenstrom der aus den andern Sakramenten
quillt. Es will mir scheinen, daß der Mensch die Geheimnisse des
Wassers auch vielfach in seinem Leben zum Ausdruck bringt.
Bald ist er lau, bald frostig, bald geistig erstarrt, bis er endlich
im Sonnenstrahle der göttlichen Liebe wieder auftaut, erwärmt
wird, ja vielleicht aufkocht und die Expansionskraft des Wassers
in werktätiger Liebe durch Werke des Seeleneifers zum Ausdruck
bringt.
5. März. Papiersammler. In China gibt es keine Lum-
pensammler, denn die Lumpen gebraucht jedermann selber um
daraus Schuhsohlen zu machen. Die einzelnen Stückchen werden
in Mehlbrei getaucht, glatt gestrichen und dann zu einem Viereck
neben- und aufeinander gelegt. Mehrere solche Stücke mit Bind-
faden durchstochen bilden dann eine Sohle; solche Sohlen sind so
— 393 —
lange haltbar als der Schuh im Trockenen ist. Überrascht den
Wanderer aber unterwegs ein Regen, dann läßt er meistens seine
Schuhe im Schlamme stecken und geht barfuß nach Hause.
Aber Papiersammler gibt es in China, besonders in größeren
Städten. Es sind das gewöhnlich gemietete Leute, die sich täglich
200 Eäsch verdienen wollen. Pietätvolle Anhänger des Konfuzius
dingen dieselben, damit sie alle Straßen und Wege ablaufen, um
etwa einen Papierstreifen zu finden, auf dem sich Schriftzeichen
befinden. Denn eine Verunehrung: desselben, würde eine Verun-
ehrung des „heiligen Mannes" bedeuten. Ist ein Häufchen Papier
zusammengebracht, wird es zu Asche verbrannt, und diese muß dann
der Wind in hohe Regionen tragen, oder das Wasser eines Flusses
hinab in das weite Meer.
17. März. Herbstgedanken. Je mehr sich der Schnee des
Alters auf das Haupt legt, um so kälter und einsamer wird es um
uns. Die Gefährten der Jugend sind größtenteils von der Bild-
fläche verschwunden, andere hat Zeit und Ferne uns entfremdet.
Das eigene Feuer des begeisterungfähigen Lebensfrühlings hat
bedeutend abgenommen. Wir sind dadurch uns selbst und anderen
kälter geworden. Die Stille der Nacht umfängt uns mit Todesge-
danken, und herbstliche Stimmung durchzieht oft unser Gemüt. Die
ausgelassenen Jungendfreuden sind uns zuwider, aber auch in der
Einsamkeit fühlen wir uns nicht recht behaglich.
12. April. Abrüstungsreform. Die Völker zum Frieden
ermahnen, daß sie abrüsten, Waffen und Kanonen ins Museum stellen,
oder Pflugscharen daraus machen, — ist vergebliche Liebesmüh.
Zum Frieden hatten schon damals die Engel auf Bethlehems
Fluren die Menschheit ermahnt; aber jene, die darauf hörten, waren
fromme Hirten, von Natur aus friedliche Leute.' Der Menschenstrom
aber floß weiter fort, schäumend, brausend und verheerend wenn
sich ihm Hindernisse in den Weg legten. Es wollten die Menschen
nichts wissen von Kindesnatur ; sie dünkten sich groß und mächtig
und fuhren fort, zu hadern und sich gegenseitig zu bekriegen.
Aber damals war es noch die Muskel im Arme, welche den Sieger
machte: die persönliche Tapferkeit, Mut, Kraft und Ausdauer.
Wie ist es doch seitdem so ganz anders geworden. Seitdem sich
der Mensch die Kräfte der Natur dienstbar gemacht, die ihn tragen,
für ihn arbeiten, mit denen er sich hinwegzaubert über die Schran-
ken der Zeit und Entfernung, hat er auch ebendiese Kräfte
in den Dienst der Menschenschlächterei gestellt. Diese wird im
H. Pieper, „Neue Bänder, 26
— 394 —
grollen betrieben, wenn »ich Ki*ii-In* feindlich gegenüberstehen, wenn
dir K;mom*n brüllen, dir Maschinengewehre knattern. Dann wird der
arme Soldat eben />< r Masrhhir zu Tode gebracht ; und jener, denken
Kanonen und tiewehre am besten funktioniert haben, ist gemeiniglich
Sieger geworden, da. das waren andere Zeiten, alt* sich Mann gegen
Manu gcgenüheistand, und die persönliche Tapferkeit und die per-
HÖnlirlie Kraft ausschlaggehend war im Kampfe
Man lasse den Völkern den Kampf; denn so lange die Erb-
sünde im Meimchenlierzen wuchert, geht es nicht ohne ihn; aber
man verhanne vom Kriegsschauplätze das Pulver und die Flinte
und die Kanonen und gehe dem Krieger eine Keule in die Hand
oder einen Sperr: >o eine Kampfesweise erzeugte Manneamut und
echte Kämpfer und eisparte der Menschheit Tausende von Millionen,
welche die Kanonenkönige in die Tauchen stecken. — Dan wäre «icher
eine vernünftige Ahrü>tung*ref<»rm, der Menschheit zur Stutze und
auch wohl <fnf<h führlm r. Mit einigen hundert der tausend Millionen
könnte man die soziale Krage im eigenen Lande zu lösen suchen, mit
den andern hundert Millionen aher helfe man, den Völkern im
I leidenlande den wahren Frieden zu bringen, indem man die Missio-
nen unterstütze.
15. April. Christentum. Das Heidentum ist der Kiene, der
in der Waflenrüstung des Teufels dem kleinen David, dein Christen-
turne, gegenühersteht. l'nd dennoch: weder prahlerischer Hochmut
und I'an/er, noch Schwert und Schild werden im stände sein, den
<ioliath zum Siege zu führen. David kommt im Namen des Herrn,
und darum wird auch er dereinstens den Kiesen zu Boden strecken
und ihm da> stolz« 1 Haupt mit seinen eigenen Waffen abschlagen. —
Darum verzage nicht du kleine Schar, der Herr, der Allmäch-
tige, ist dein Helfer, und vor Ihm müssen zu Staub zerfallen
alle Feinde.
16. April. Chinesische Städte. Chinesische Städte sind
vielfach der MyadierMadt im alten (Griechenland gleich. Diogenes
gab ihr den Kat, die Tore gut zu schließen, damit die Stadt nicht
fortlaufe.
25. April. Schwalbennest. Heute mittag kehrte ich auf
der Heise nach Dätja in ein \Yirt>haus ein. Im Gastzimmer war
eben an einem Querholz ein Schwalbennest gebaut, und die Alten
waren im eifrigen Fluge beschäftigt, den Jungen Nahrung herbeizu-
holen. Besonders flciUig darin war eine der Schwalben, wahrscheinlich
- 305 —
wohl der Vater. Die andere setzte sich öfter an den Rand des
Nestes und machte sich mit den Kleinen darin zu schaffen. Es
schien mir als wache sie darüber, das keines der Kinder zurück-
gedrängt würde, sondern daß jedes seine Portion mitbekomme. Auch
sorgte sie für Reinlichkeit und zeigte überhaupt eine Liebe zu
den Jungen, die den denkenden Menschen rühren muß. Die Kleinen
aber fühlten sich da wohl und sicher im warmen Nestlein und taten
nichts anderes als den Schnabel aufsperren und schlafen. Bisweilen
schliefen sie so fest, daß die Futter bringende Schwalbe sie erst
im Flüstertone aufwecken mußte. Dann fing die ganze Schar an
zu piepen, und jedes Schwälbchen streckte den Hals hervor und öffnete
den Schnabel. Das schöne Bild brachte mir die Fürsorge Gottes
gegen uns arme Menschenkinder in lebhafte Erinnerung. Wir brau-
chen eigentlich auch nur den Mund zu öffnen im andächtigen Be-
gehren, in frommen Bitten, und allsogleich ist der Allgütige bereit,
unsere Wünsche zu erfüllen. Ist das Schwalbenjunge oder das
Spätzlein erst einige Tage aus dem Ei gekrochen, sind noch die
Augen geschlossen: aber den Schnabel aufsperren kann es schon am
ersten Tage. Und es sperrt ihn auf, unbekümmert darum, was ihm
die Alten hineinlegen werden. Wir, Gottes Spatzen, sollten uns auch
der liebenden Fürsorge des Allgütigen ebenso vertrauensselig über-
lassen und nur eifrig den Mund aufsperren, d. h. fleißig beten,
im übrigen aber ganz und gar mit dem zufrieden sein, was der
Vater im Himmel uns zu schenken für gut befindet. Keine Schwalbe
bringt etwas Unverdauliches oder gar Gift in den Schnabel ihrer
Jungen : sollte der gute Vater im Himmel nicht auch in unseren
Mund das legen, was am besten hineinpaßt — uns nicht das schen-
ken, was uns am zuträglichsten ist?
6. Juni. Ein treuherziger Selbstmörder. P. B. erzählte
heute eine kuriose Geschichte, die ihm erst kürzlich passiert war.
Er wurde zu einem Kranken gerufen. Es war ein Schwindsüchtiger,
schon ziemlich bei Jahren, und auch seine Krankheit ließ keine
Hoffnung auf Besserung mehr aufkommen. Her Kranke wurde mit
den Sterbesakramenten versehen, die er auch mit großer Ehrfurcht
empfing. Der ist gut aufgehoben und gesichert, dachte der Missionar
beim Fortgehen, denn er wird es nicht mehr lange machen. Am
anderen Tage ließ der Kranke seine Frau zu sich kommen. „Ka-
tharina", hub er an, „ich habe vor, dich jetzt zu verlassen und wollte
deshalb Abschied nehmen. Ich habe nun meinen Seelenzustand
völlig in Ordnung gebracht, habe die Sterbesakramente empfangen,
26*
— 396 —
und da, meine ich, hat es wenig Zweck, noch länger mit dem
Sterben zuzuwarten. Ich bin dir doch nur zur Last und mein
Leben hat wenig Zweck mehr. Also sei mir behülflich, ihm ein
Ende zu machen. Reiche mir einen Strick her und hilf mir auf
die Beine, daß ich mich dort an dem Balken aufhänge/
Die gute Katharina war natürlich sehr bestürzt ob solchen
Ansinnens, und sie ermahnte ihren Mann, sie doch nicht verlassen
zu wollen. Vielleicht werde er doch wieder gut, und sie diene ihm
ja gerne. Doch der Kranke hatte seinen Entschluß fest gefaßt.
Am anderen Morgen fand Katharina ihren Mann am Balken hängen,
er war kalt und steif, auf seinen Zügen aber lag es wie Friede und
Hoffnung. Da ist wohl kein Zweifel, daß er dort oben gut ange-
kommen und auch einen gnädigen Richter gefunden hat.
7. Juni. Das Tier lauert auf Beute oder stellt ihr nach.
Das eine Tier versteckt sich in seinem Schlupfwinkel, es lauert
und wartet auf die Beute, bis solche in seine Nähe kommt, dann
erhascht es sie mit einem Sprunge, wie manche Spinnen und die
Katzen es tun, oder es schnellt die Zunge heraus, wie ich soeben
eine Eidechse über meinem Fenster solches tun sah. Das Tier
verhält sich stundenlang in lethargischer Untätigkeit und Ruhe,
aber der Anblick der Beute bringt so etwas wie Elektrizität hinein.
Unwillkürlich bewegt sich der Schwanz oder die Hasch Werkzeuge,
wie es bei Spinnen der Fall ist.
Andere Tiere gehen auf die Beute los ; sie bewegen sich von Ort
zu Ort, bis sie etwas gefunden. Nach St. Petrus soll der Teufel
es auch so machen ; aber es gibt sicher auch Teufel genug, die in
Schlupfwinkeln warten. Ihnen fällt der Unvorsichtige anheim, der
freventlich die Gefahr der Sünde aufsucht und die Gelegenheit nicht
meidet; sein Fall ist besiegelt.
8. Juni. Reue erwecken bei alten Heiden. Schon öfter
ist es mir vorgekommen, daß alte Heiden vor der Taufe nur schwer
zur Erweckung der Reue zu bewegen waren. „Was bereuen", fragen
sie erstaunt, „da wir doch unser Lebtag nicht gesündigt haben. Im-
mer sind wir brav und tugendhaft gewesen, auch einem Kinde haben
wir nie etwas zuleide getan. u Das Befragen nach Sünden ist
meistens auch resultatlos. Sie verneinen alle nur möglichen Sünden
und behaupten hartnäckig ihre Makellosigkeit. Dann bleibt nichts
anderes übrig, als ihnen vorzuhalten, daß ihre größte Sünde darin
bestehe, daß sie Gott nicht früher verehrt und gedient haben,
daß sie so spät Christ geworden seien. Diese Schuld leuchtet ihnen
— 397 —
sofort ein, und sie bezeigen große Reue darüber. Der Missionar
muß ihnen dann Akte der Reue vorsprechen, und er macht dann
auch sonstige Sünden und Mängel namhaft und läßt sie mit in die
Reue einschließen. Das Gewissen solcher Heidenveterane ist, wie
es scheint, zu wenig ausgebildet oder ist völlig verrostet; vielleicht
auch, daß ihnen die Erinnerung an die Vergangenheit durchaus abhan-
den gekommen ist. Da muß Gott, der Allgütige, Gnade vor Recht
ergehen lassen, wie es ja überhaupt bei jedem Sterblichen mehr oder
minder der Fall ist, so lange er noch hienieden weilt. Misericordiae
Domini, quia non sumus consumjrti. Gottes Erbarmung ist es, daß
wir nicht ganz vernichtet sind!
10. Juni. „Gefälligst wenden;" „Bitte wenden", „gefälligst
wenden. u Solche Höflichkeit kommt mir geradezu lächerlich vor.
Man betrachtet mich da als ein großes Kind, das den Verstand noch
nicht, zu gebrauchen weiß. Interessiert mich die Sache aber so wenig,
daß ich mit einer Seite Lektüre genug habe, so wird es mir nicht
beifallen, die nächste zu lesen, wenn auch ein dutzendmal „gefäl-
ligst wenden ", da unten am Räude steht. Nächstens wird man
vielleicht noch beifügen: „Gefälligst aufhören" weil nichts mehr zu
lesen dasteht, „Gefälligst Brille aufsetzen", weil man voraussetzen
darf, daß der hochgelehrte Leser auch eine Brille trägt. So etwas
ist krankhafte Überkultur und Damenhöflichkeit.
15. Juni. Phantasie, Gedächtnis. Die Seele ist gleichsam
eingeschlossen im Kerker des Körpers. Will sie mit der Außen-
welt verkehren, so muß sie sich der Sinne bedienen. Durch die-
selben nimmt sie die verschiedensten Eindrücke von außen auf.
Diese Eindrücke gleichen buntfarbigen Mosaikstückchen, die das
Gedächtnis in einem Haufen zusammenhält. Sache der Phantasie
ist es nun, daraus Bilder zu machen. Dieselben werden um so
schöner ausfallen, je wirksamer die Phantasie zu arbeiten versteht.
17. Juni. Die Barmherzigkeit Gottes ist grenzenlos.
Nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal sollen wir dem
Nächsten verzeihen, wie der Heiland zu Petrus gesprochen. Gott
aber ist unendlich in allen Seinen Eigenschaften, also auch in
Seiner Güte und Seinem Erbarmen. Er wird deshalb dem reue-
vollen Sünder nicht nur siebenmal verzeihen, sondern siebenzig-
mal siebenmal, und wenn das noch nicht genügt auch noch weit
öfter, wenn anders der Sünder aufrichtigen Herzens voll wahrer
Reue zurückeilt in die Vaterarme Gottes.
— :um _
18. Juni. Der Glaube im gereiften Alter. Wenn in den
jungen •Iiilirt'ii der Glaube in« kl:ir«- Bewußtsein übertritt, d. h. wenn
mau anfängt im sinnigen Nachdenken sich in die Glauben* Wahr-
heiten xu vertiefen, dann ist es, als oh sich dem jugendlichen Ge-
miite eine neue, wundervolle Welt iTiiffiifti'. So z.B. wirkt die
Gegenwart Jesu im heiligsten Sakramente der Eucharistie ganz
besonders mächtig auf da**elhe. Ich könnt«' es nie so recht be-
greifen, wenn gcistlii he Herren in der Predigt oder im kateche tischen
rnterrichte auf den im Tabernakel gegenwärtigen Heilande nicht
öfter Itexug nahmen; vielfach vom Heilande sprachen, der einst,
geleht in Judäa und jetzt im Himmel sitzt zur Hechten des Vaterst
vom Heilande in nächster Nähe aber schwiegen. Ich hätte mich
dann oft gerne an Stelle des Geistlichen setzen mögen um hinzu-
zufügen: „lud dieser nämliche Heiland ist jetzt unter uns, ist ganz
nahe hei uns Kr weilt hier im Tabernakel.*
Vom m"i d weltlichen Studierstalc aus in Steil konnte ich in der
Ferne eine Ivirchturmspitze erblicken. Ich weili nicht mehr, wie
das Dorf hieli, e« mulite aber ziemlich entfernt liegen, denn man
-ah nur zeitweilig und nur ein wenig davon. (Ks war nicht Barloo.)
rnzählige Male Uf diese Kirchtiirmspitze für mich ein Gottesfinger
geworden, der nach oben zeigte. So oft ich sie sah, gedachte ich
des Heilandes, der dort im Sakramente gegenwärtig war, vielleicht
ganz allein und unbesucht, und ich schickte dann im Geiste meinen
Schutzengel hin, statt meiner eine kleine Anbetung zu machen. Über-
haupt gedenke ich bei meinen Gebeten gerne bekannter Kirchen
und versetze mich im Geiste in dieselben und besuche den dort
weilenden eucharistischen Heiland. Es ist freilich ja ein und der-
selbe Heiland, aber jede Gegenwart im Sakramente »Seiner Liebe
ist gleichsam ein neuer spezieller lieweis Seiner Liebe, für welche
Ihm auch eigens gedankt werden sollte.
18. Juli. Toilette und Liebkosungen der Tiere. Die
Maultiere vertreiben sich die Langeweile, indem sie sich gegenseitig
Toilette machen. Die Ochsen tun das mit der Zunge, Pferde und
Esel bedienen sich der Zahm». Das Gefühl des Wohlbehagens,
welches das eine Tier dem anderen damit verursacht, ist die Trieb-
feder solcher Zärtlichkeiten, denn sobald das eine weniger eifrig ist
im Heilien oder Lecken, laut auch das andere nach.
Gutes tun, Wohltaten erweisen, einander freundlich sein, beruht
bei den Menschenkindern meistens auf Gegenseitigkeit. So etwas
ist ge wohnlich die Triebfeder, wenn jemand Geschenke gibt oder
- 399 —
Komplimente macht. Aber das sind denn doch keine Geschenke
mehr, sondern nur Ausgaben, gegen welche wir uns wieder einzahlen
lassen wollen. Und doch sollte sich unter Christen auch die selbst-
lose Liebe finden; die Liebe der Gegenseitigkeit ist der Natur an-
geboren, wie sie auch das Tier hat und der Heide.
26. Juli. Wespen. Es gebraucht die Wespe weder Konser-
venbüchsen, noch Salz oder sonstige Mittel, um die Nahrung, die sie
ihrer Brut im Gehäuse von Lehm aufgespeichert hat, vor Fäulnis
zu schützen. Wie wunderbar! Öffne die lehmerne Hütte, und es
bewegt sich darin von Raupen, Spinnen und anderem Getier. Die
Bewegungen sind nur schwach, aber man sieht, es wohnt noch Leben
in dem Gewürm. Erst bei genauem Nachsehen bemerken wir die
winzig kleine Made, für welche all dieser Lebensvorrat hinterlegt
wurde, und die sich zu einer vollständigen Wespe entwickelt ha-
ben wird, wenn der Vorrat verschwunden ist. Ja wunderbar ist
die Allmacht des Allerhöchsten und preiswürdig auch in der armen
Wespe, denn Er hat ihr den Stachel gegeben, ihre Beute zu betäu-
ben und den Instinkt, sie nicht zu töten, damit die kleine Wespe
in Windeln immer frische Nahrung finde. Dank Dir, Allgütiger,
denn es war doch Deine Absicht, daß Du zwei Wespen in meinem
Zimmer ihre Wohnung anfertigen ließest und durch ihre Arbeit
mich wieder erinnertest an Deine Güte und Allmacht. Soll der
arme Menschenwurm da zweifeln und verzagen, wenn es nicht regnen
will und die Saaten verdorren.
27. Juli. Schwarze Wolken, weißer Schnee. Der dur-
stige Wanderer erblickt in wasserloser Wüste am Horizonte Palmen
und Wasserquellcn. Schnell eilt er hinzu; doch er sieht sich
getäuscht; was er geschaut, war nur eine Fata Morgana. — Schwarz
sehen wir die Wolken am Himmel hängen, und doch senden sie
uns den blendend weissen Schnee. Unser Auge läßt sich leicht
täuschen und trügen, darum vertrauen wir uns am besten der Obhut
Dessen an, Der jedes Ding durchschaut in seinem wahren Werte und
Dem offen liegen die geheimsten Palten des Menschenherzens.
28. Juli. Eine Weide auf dem Grabe. Heute mittag,
als ich von Kuentsch'öng nach Puoly zurückkehrte, erblickte ich in-
mitte des Feldes auf einsamen Grabe eine alte Weide mit tief her-
abhängenden Zweigen, auf denen ich vierzehn Raben zählte, die dort
wie in stiller Betrachtung saßen, weit den Schnabel geöffnet, denn
die Luft glühte, als sei sie dem Backofen entströmt. Das Bild regte
mich zum Nachdenken an. Mittagsschwüle und Mittagsruhe: hoch
— 400 —
im Räume die Wuchter des Toten, der schon viele viele Jahro dort
im einsamen Felde fern von <l<*n Seinen geruht. Wahrscheinlich int
es ein Vater gewesen oder eine Mutter, und der sc h merzerfüllte
Sohn hat beim Abschiede vom Urabe dort eine Weidenrute einge-
steckt. Sie hat Wurzeln gefaßt, ist gewachsen und hat Nahrung
gesogen von dem Toten drunten in der Knie, und jetzt hat der
Baum Hchon seihst die Höhe meines Lehens überstunden und reckt
dürr gewordene Äste in die Luft, während sich andere traurig zu
Hoden Henken.
30. Juli. Durstige Tiere. Das unvernünftige Tier hört auf
zu trinken, wenn sein Durst gestillt ist, während der vernünftige
Mensch noch Durst zu verspüren glaubt, wenn seine Vernunft schon
längst umnehelt ist. Aher Durst muh das liehe Vieh nicht selten
leiden, hrennenden Durst, weil die Sonne so glühend brennt. Und
nicht als wenn das Tier Ansprüche machte auf einen Krug Bier oder
«»ine Kanne Kaffee: nein, nur Wasser will es haben, ganz gewöhn-
liches, aus dein Brunnen oder Teiche; aber es kann nicht sprechen,
kann nicht bitten, und der unvernünftige Mensch ist denkfaul genug,
dafür zu sorgen, daß der armen Kreatur bescheidenes Verlangen
gestillt werde. Fast regelmäßg muß ich meinen Fuhrmann daran
erinnern, daß er halten bleibt irgendwo im Dorfe bei einem Brun-
nen, und es kommt mir voi wie eine (Juttat, die ich geübt, wenn
ich dann das Pferd oder den Maulesel mit so vielem Wohlbehagen
trinken sehe»; dem armen Schlucker aber, der den Eimer geholt
und das Wasser geschöpft aus dem Brunnen, verabreiche ich dafür
2 -3 Käsch mehr; davon will aber der Fuhrmann nichts wissen. Man
dürfe die Regel nicht verderben, sagt er; die Kegel aber diktiert
2- -3 Käsch, und das sei genug. Als wir gestern auf das Schiff
stiegen, um über den Huangho zu setzen, sah ich es meinem Pferde
an, wie es so gerne Wasser gesoffen, aber es wagte sich nicht
an den Rand des Flusses. Als es dann auf die Fähre gesprungen,
ließ es den Kopf traurig hängen. Das Übersetzen über die Flüsse
bedeutet für die Tiere immer einen Ruhepunkt in ihrem rastlosen
Arbeiten. Das ist auch wohl der Grund, daß sie im allgemeinen
nicht gerne den halsbrecherischen Sprung machen, um auf die
Fähre zu kommen. Ein europäisches Tier würde sich kaum dazu
verstehen, und man begreift nie so recht, wie es zugeht, daß bei
diesem Springturnen nicht mehr Unglück vorkommt.
15. August. Hoffen und Bangen. Der chinesische Land-
mann lebt in beständigem Hoffen und Bangen. Die Natur gibt sich
— 401 —
hier nur im großen. Setzt Trockenheit ein, so sieht man kein Ende.
Wochen- ja monatelang sehnt sich alles nach Regen. Aber es ist,
als ob ein Schirm ausgebreitet sei unter dem hohen Firmamente.
Die Wolken ziehen trocken vorüber, und alle Regenzeichen sind
unzuverlässig geworden. Schließlich beschleicht das Gemüt stum-
me Resignation, man fügt sich in das Unvermeidliche. Und fällt
dann endlich das langersehnte Naß, so ist es, als wolle keine rechte
Freude mehr emporkommen ob all des vergeblichen Hoffens. Erst
wenn die Natur wieder neu belebt wird und fröhlich ergrünt, freut
man sich doch, und ist dankbar für die Gabe Gottes. Kein Jahr
geht vorüber, das nicht unter dem Zeichen der Hoffnung stände
und der stillen Befürchtung. Naturgemäß bleiben solche Eindrücke
auch mehr oder minder im Gemüte haften, zumal wenn es recht
empfänglich ist. Ein Kind der Natur ist aber jede denkende Men-
schenseele. Wie die Trockenheit die Fluren ausdörrt und den Schmelz
auf Blättern und Blüten verwischt, so verliert auch der Mensch von sei-
ner Frische, wenn er ständig unter solchen Naturverhältnissen lebt.
Wochenlang lechzt die Saat nach Regen ; kommt er dann endlich, ist
es oft zu spät, oder er verwandelt sich in Ströme und Seen, welche die
Saat im nassen Grabe ersäufen. Dann allerdings muß man sich am
meisten über die stoische Ruhe des chinesischen Bauern wundern,
wie er sich sonder Murren in sein hartes Schicksal ergibt, wieder
— hoffend auf ein besseres Jahr.
19. August. Philipp am Sterben. Heute nachmittag starb
der elfjährige Philipp des Tschang-tjen-tu. Noch wenige Stunden
vorher war ich bei ihm gewesen und hatte ihm die heilige Ölung
gegeben und ihn getröstet und ihm auch aufgetragen, er möge im
Himmel Fürsprecher für mich sein und für seine Eltern und für die
ganze Gemeinde Puoly. Er versprach, für uns alle zu beten und
war ganz zufrieden, daß ihn der liebe Gott so früh zu Sich nehme.
Ich schickte ihm dann ein wenig zartes Fleisch, das er auch mit
Appetit verzehrte, ebenso aß er noch eine Viertelstunde vor seinem
Tode ein Stück Wassermelone. Es ist, als ob sich das frische
Leben bis zum letzten Augenblicke sträube, von der jugendlichen
Leibesbehausung Abschied zu nehmen, und während schon die
Wände in Trümmer sinken, wird noch gleichsam eine Kelle Kalk
angeschmiert, die gleich mit zugrunde geht. Schon des öfteren habe
ich bei den Chinesen, besonders bei jugendlichen Personen die Beob-
achtung gemacht, daß sie bis zur letzten Stunde noch Appetit nach
Sachen verspüren, die sie in ihrem Leben nur höchst selten oder gar
— 4*rJ —
iiii ht zu -« hui'"« k'-n l»--k- *Mi?fi*-ri li iIm-h. Man möchte meinen v der welke
I --- 1 *• -Ai.llt- di«- - lj«-i«l--:*-l-- >.-i-|.- fj-M }i dundi i-ini-n gufr'n Bi«*-en n
•*t-A i- l.'iii^-!*-in \ •ta-:!- ri jnl'H K'-ir. \"i«-ll»-:--Sii i-t ••• aur-h die See]*-.
■*•■!• h«- «li»- L-il :mi:- it.-vk.-ji ij...}i /a k-»-H'ii. <i;i in Bälde die
Z»*it •!••- Iv« i«t--fj- und <i'iii';»«-!i- •••nm-i i-t.
I* r k!»-ii»«- I'liiiij'ji Aar i-in h: i ■••■.» Jijii^*. uohl der Ifc— v- tob
nh-u -•-Hi-ii •■•-•;h"AJ»i«-fii. Kr-t kürz!;- h hin»- »t -i*di darauf gefreut.
ImMuu Altar«* di»-n»-n /n ■ 1 jj f f- - Fi . >--iih-«T -i«li uüi-in-t gefreut habend
\" M-il»-i< IjT dar? • ■! j*-r/? '»«»hj J I i : i i n.-l iu- h*-iiii fi*-ili^*-n Mpfi-r die* De«
und -A»'ili aN kl*-:n—r KüiT'-l i"*;:u Altar»- uml liilft »einen kleinen
Kam*-rad-n uri-ji-Liii-ir-T W.-i-.«. A-nn «ii al- Meüdiener tätig find.
!• h li.it t»* ilmi /-Ai-j Tai:»- Y«if »••;iit-!n T«nlf rJi«* »-r-te hl. Koniiuv-
fj i- 'ii il- \V.-^/.»lifurn' i r '-ti:ai|]t. und -.-in»* Mn-» liüler beteten <üu
I mt j ui Zimni-r. ah d i- kr.ink-- Kind \a'j. «li#- Ilankgehef. Leb wohL
kl»in*-r ]'fii!i]i]i. '•••!j iit" un- K-b und bli-ilii- -t»-t- mit un* vereint!
20. August. Ein Greis aus Kuentsch'öng. Heute \*m
•-.'! il!«'.' M ii:ü au- y>-u*\i\»-n und hat um Aufu ihme in- (irei*ena£rL
• ■•-!•-! i --¥ -Auril- •■: Viiii -•■!n-:i: >.!.!•■■. d-r -■■Imii -i*lh«t unter dem
n.M,.-k'- d»-: J ihr •- ^.- : i.-u-:t ••jr:!.-r j.v^ : »r zählt»- l».-r-it- 72 Jahre,
■Aähp-nd --in Vai'-: ■■iü lii-i- v..n *•»; .1 liir-n i-t. Armer Mann.
•i H ht<- i« h. -A.i- ii .-: -in Aiiii :i..jit -•■.■•n all«- in deinem Leben
al- ll*-id- -jj t -lur« 'u- :r. -•!,:. _"•! Tr«-n. l'- -k»-:»-t. y-Xil führt dich die
V..:-.-i;ijrii' zur Mi— ".•■:.. d mii: du a:n L<-h»'n-.ibende n<x-h Den
k»-ji!i-»j 1-rn-t. !»■■: d:i d :« L- 1 --»! :;■— -h.-iikt. und in I)e*-i.-n Hände
«Iu •-- i-a! i wi.Mj.-r zurii"-kir--ii--ri :iiu:.-t.
V-i?-r und S"hr: 1j:it:«-j: • ■;■..■ Ii»>- \'.n 1^ .Stunden gemacht
ijn |ji'-r!:'-r zu j*-) an^-n : «1 r »-i Tl"* !; i t t«-ij -i»- «lazu i:»'l»raueht, was
fü: «1-ü Ait-n j-«k-ii?aii- k. -]u*- kl-iri" L'-i-tun^ w.ir. Vom Hause
A.tr«-!i -U- v»-riri- l M-n dur» !j *li" FIut-ti «!••• fn-lb'-n Flus-e^. der
■!iii-n biün-n •■:n«-r !ialb-n St u !:'!■- all"- ^- raubt hatte. ^*]l^t den
-:. , i^*-h-i , jj-:«-n W-iz-n. Mit knapper N^t li:tt»'n -ie ihr Leben
^-i.-it'-t ujjii -tand«'ji dann hr«^tl-#- und r-ttl*»s auf dem rlubufer und
• ih-n iJi- -iiir::j-iiil»:ii Klut'-n »i— Flu dahin- liaunu-n. der sie zu
]j'-ttl»-rn ^e;n ä':ht lütte. Ji-h li i!m- d-:n Alt»*n wi-nisr^ten« vorläufig
' »tjd.i'h L'*rAährr im ^rn-i-'-n a-yl. S«. wepl«-n di»- Wa— er der TrütaaL,
dit* fib«-r ihn h»-:«'in^«-bp»-li»-n. auch dazu di«*n»*n. lim durch die
Wa— i-r d-r hi-ili^-n Tauf»' zu -in^:n Kind«- Outte- umzugestalten
und iim sfM'-klich zu njd«h"n für <-in- K'^i^k'-it.
22. August. Chinesischer Bauernstand. Traurig, daß
g'-nde d*-r Bauern -t and. d-m chy.h jeder andere Stand so riel zu
— 403 —
verdanken bat, kämpfen muß um seine Existenz und sein Fortkom-
men, wie sonst kaum ein ander! In Europa braucht man nur die
Klagen der Bauern zu hören, nicht wie sie in den Kneipen (dorthin
geht überhaupt kein ordentlicher Bauer) oder hinter dem Bierkruge
oder der Schnapsflasche geführt werden, sondern wie sie der nüch-
terne, aufrichtig denkende und handelnde Landmann voll der Le-
benserfahrung mit schwerbewegtem Herzen unterbreitet und nur
düster in die Zukunft schaut, da — wie er sagt — es für ihn kaum
mehr^einen Ausweg gibt. Getroste dich, mein Freund : Es gibt anders-
Ein chinesischer Bauer beim Pflügen.
wo Genossen die einen noch härteren und erbitterten Kampf um
ihre Lebensexistenz zu führen gezwungen sind, als du. Es sind die
Bauern-Kollegen in China. Willst du ihr Elend erfahren, so komm
abends her und wache die Nacht hindurch; dann hörst du keine
Bierbankpolitik zum besten geben, noch auch schwere Anklagen
gegen die Regierung oder Volksvertretung, die den Bauer auf
keinen grünen Zweig kommen läßt. Du hörst schießen aus allen
Himmelsgegenden, und es ist, als ob die ganze Windrose mit Sol-
daten besetzt sei. Wer führt den erbitterten Kampf? Der chine-
sische Bauer gegen die Räuber, die im Dunkel der Nacht die
Erzeugnisse seines Schweißes, seines Ackers stehlen oder gar rauben
wollen. Bei Tage muß Frau oder Kind Wache halten, er aber muß
hart arbeiten. Willst du tauschen mit dem chinesischen Bauer?
Und Steuer muß der chinesische Bauer zahlen, einerlei ob
das Land Erzeugnisse geliefert oder nicht; ob dieselben vertrocknet,
vom Wasser überflutet, von Hagelschlossen vernichtet oder von Die-
ben gestohlen sind. Wer hat die meiste Ursache zu klagen; der
Bauer im Reiche der Mitte oder der Bauer anderswo auf dieser
— 404 —
elenden Erde? Zu bemerken i-t aber, cl.ili der chinesische Bauer
gar nicht klagt, -« »iifi«-rn -ich in Jim!»-. Geschick fügen kann, selbst
wenn i*r in einer Nacht /.um Itettler wird, weil ihm alle* geraubt
oder vnii dem Wa— er de* Gelben Flu— es fortgeschwemmt i>U
23. August. Chinesische Selbstmörder. Wer nimmt sich
in China da- Lehen 'r I)er Hazatd-picler. weil er das letzte Tausend
eingesetzt und jetzt aim geworden wie ein StralJenbettler und nicht
den Mut hat. sein Leid zu trafen, da« er doch selber verschuldet?
Nein! Audi der < 'Innere verspielt hi-w eilen alles was er hat; ja
-ogar -ein Hemd, das er tragt. Hat er aber nii-liN mehr zu ver-
-pi«-li-ri. dann zieht er M>i:ar -ein Hemd au- und geht als Bettler
auf «Mi» Stralie und d<*nkt. ich habe es gewollt und leide nun,
w.h ich -elher ver-dmldete.
Oder nimmt >idi -elhst da- Leben der Familienvater, weil er
keinen Ausweg mehr sieht für sich und die Seinen? Und da er
auch die Seinen nicht in Elend wi— en will, legt er gar die frevelnde
Hand an Frau und Kind, die letzte Kugel für sich aufbewahrend?
Nein! Solch** Familien- Dramen gibt es im heidnischen China nicht.
Lieber hungern, frieren und betteln, ja verhungern und verelenden,
al- sich und den Seinen da- Teuerste zu nehmen, das Leben. Wer
in China Hand an -ich -eiber legt, tut e- meistens aus Rache, uin
seinen Gegner in- Elend zu -türzen. und für ndi selbst ein nobles
Begräbnis damit heruu-zu-chlagen. So tun es mit Vorliebe junge
Frauen, denen die Schwiegermutter das Leben verbittert hat.
24. August. Chinesen-Beten. Di«' Gründe des Christwer-
dens eiit-tammen bei vielen Chinesen nicht aus dem Geiste und
der Wahrheit, darum beten -ie audi nicht im Geiste und in der
Wahrheit: sondern ihr Gebet ist vielfach nur ein Lippengebet, eine
Korperarbeit, wobei der Gei-t gar nicht oder doch nur sehr wenig
beschäftigt i>t. l'nd gebetet wird vielfach nur. nicht um des lieben
Herrgotts halber, >ondern weil es einmal so Sitte ist, oder dem
Missionar zugefallen, auf dessen Unterstützung man hofft. Hoffartige
Seelen beten auch wohl, und gerne recht laut und anhaltend, um
ihre schone Stimme hören zu lassen, um »ich selber zu hören, und
statt, dali der Geist dann bei Gott weile, weilt er bei sich, streut
sich selber Weihrauch: und auch ein solches Gebet wird nicht im
Geiste und in der Wahrheit verrichtet und ist nichts als eitel Lip-
pengetön und Zungengekrachze.
4. September. Jonas-Atmosphäre. Wenn es heißt Reisen
machen, muli ich wohl so etwas wie Jonas- Atmosphäre um mich
— 405 —
verbreiten. Nicht ohne Ursache nennt man mich den Pechvogel,
aber das Pech faßt nicht immer mich allein, sondern auch bisweilen
meine Umgebung. Kaum hatte ich mich heute zu Pferde gesetzt
und war zum Tor hinausgeritten, kam das Tier zu Fall, wobei mich
Mutter Erde bald in den Armen hielt. Zum Glück kam ich mit
einer kleinen Verstauchung am großen Zehen davon. Ist mir selber
das Glück hold, und bleibe ich unbehelligt von allerlei Mißbill, dann
können sich meine Reisegefährten darauf gefaßt machen. Ein Laien-
bruder, der kürzlich einen kleinen Abstecher mit mir machte in
einen anderen Missionsbezirk, wurde unterwegs vom Typhus befallen.
Ein Mitbruder, mit dem ich voriges Jahr einige Tage auf dem Kai-
serkanal herumsegelte, wurde von der Malaria arg mitgenommen.
9. September. Scherben. Vergeblich hatten wir uns heute
nach einer Herberge umgesehen. Bis zum nächsten Dorfe muß-
ten wir noch fast zwei Stunden machen, und es war schon Mittag.
Die Tiere waren müde und hungrig, und dabei war es recht heiß,
als ob die Herbstsonne zeigen wollte, ihre Herrschaft habe noch
lange kein Ende.
Gott behüte dich du guter Mann, der du den herrlichen
Akazienbaum gepflanzt hast hart am Rande des Weges. Schon so
manchem Wanderer hat er Kühle gespendet in der heißen Sommer-
zeit, und auch uns ladet er ein, ein wenig auszuruhen unter den
dicht belaubten Zweigen, die sich über unserem Haupte ausbreiten.
Meine Leute knobern am harten Brode, das wir so eben im Dorfe
gekauft, unsere Pferde grasen am Wege; zwar ist es nicht viel,
was dort steht, aber geduldig nehmen sie auch mit dem wenigen
vorlieb. Ich setze mich auf einen Stein und lehne mit dem Rücken
gegen den dicken Baumstamm. Vor meinen Füßen liegt eine Scherbe.
Eine Schüssel ist es wohl ehemals gewesen, d. h. in Verbindung
mit den anderen Scherben, die, weiß Gott, anderswo liegen. Eine
blaue Blumenzeichnung hat ihr ehemals zum Schmuck gedient; an
der Scherbe zu meinen Füßen ist nur eine halbe Blumenknospe
mehr übrig. Und die schaut mich so bedächtig an, als hätte sie
recht viel zu erzählen aus der „guten alten Zeit*. So komm denn,
du alte Scherbe, in meine Hand und berichte, was du erlebt; es
ist stille um uns her, und keiner wird dein Geflüster stören.
Hier den Weg, den du Wanderer heute gemacht, habe auch
ich einstens gemacht, vor hundert Jahren. Zu vielen Genossen
waren wir zusammen gepfergt und mit Stroh festgebunden auf einem
Karren, und schon drei Tage lang hatten wir darauf ausgeharrt, ehe
— um —
wir hierher gelangten. l T nsi»r Srhicher ruht«» auch unter dorn Bau-
me liier au*, der damaN iimli ein junges Sräinrii<*luMi war und Kom-
plimente machte vor jedem Winde-diauch. Noch wurden wir eine
Stunde weit ges« hohen, dann harrte unser die Krlösung. Man be-
freite uns von den Strohfe-ocln, -teilte uns auf einem Murktplatze
in Keih und (Mied auf, und lange muhten wir so dastehen, ehe wir
weiter wandern konnten, lud all die treuen Gefährten huIi ich
allmählich scheiden, einen mich dem andern. Und als unser nur
mehr seehse übrig waren, kaufte uns ein Hauer, dessen Junge uns
im kleinen Körhrhen narh Hause trug, Ich und mein nächster
Kamerad muhten alUofort in Dienst treten, während die anderen
vier heiseite gebellt wurden unten in den alten Schrank. Keinen Tag
blichen wir heide da mehr verschont, und so oft es /um Essen oder
'Flinken ging, muhten wir antreten. Kinmal aber, und das war mein
Verhängnis, überschüttete man mich mit einem Mcdizingcbruu, da«
den kranken Hauer wieder heilen sollte. Oh es ihn aber geheilt
hat, weih ich nicht, denn kaum hatte er mich niedergestellt an den
Hand fies Tisches, da kam die Katze he (angesprungen, die schon
so oft von meinem Inhalte gemischt ; ihr Sprung aber kostete mir
das Leben. Ich fiel zu Hoden und bisher eint 1 Schüssel wurden
wir fünf Scherben. Wäre der Hauer nicht gar so krank gewesen,
er hätte sicher gräulieh geflucht; statt seiner tat es denn die
Häuerin, als sie hereinkam und das l'nglück sah, das mir pas-
siert war. Die Katze, der du* Fluchen galt, hörte es nicht mehr,
denn sie war längst ins Freie geeilt ; es war nicht das erste Mal, daß
sie eine Schüssel zerbrochen, und weil sie dann jedesmal eine Tracht
Schläge bekommen, war sie dir>mal wohlweislich der Gefahr entron-
nen. Die Häueriu legte uns Scherben zusammen unter den nämli-
chen Schrank, in dem ehedem die anderen Gefährten gestanden,
die aber auch schon längst ins tätige Leben übergegangen waren.
Jetzt hatten wir Zeit zum Ausruhen; doch tat die Ruhe nicht gut,
da der feuchte Hoden, auf dem wir lagen, uns recht zusetzte. Ein
Glück, dah bald ein Kleiu>chmied ins Dorf gezogen kam; er sollte
uns wieder die alte Facon geben und zu einer Schüssel umgestalten,
wie wir ehedem gewesen. Freilich muhten wir es uns gefallen lassen,
dah man uns Löcher in das Fleisch bohrte und dann mit messingenen
Klammern verband; und wo wir nicht mehr rcwht zusammen paßten,
wurde Kitt in die Wunden eingelassen, und so aufgeputzt ging es
wieder in (hm alten Dienst. Ja, mein«; Bestimmung war fürderhin
noch eine vorteilhaftere; ich wurde nur mehr als Teetasse benutzt,
und es ist nicht zu sagen, wie viel edles Xah man über meinem
— 407 —
Rand geschlürft, besonders zur Sommerzeit und wenn Gäste
kamen. Ich bekam darob allmählich einen braunen Habit, aber
das machte mich meinem Prinzipal nur noch lieber. Einmal,
als eine Klammer nicht mehr zusammenhielt, wurde eine neue
eingefügt, allmählich aber fingen auch die anderen Klammern
an locker zu werden, und weil man es unterließ sie zu erneuern,
nahmen sie eines guten Tages Reisaus. Ich war eben mit Tee
gefüllt; ein Gast wollte mich zum Munde führen — da erreichte ihn
das Geschick: statt daß der Tee seinen Durst stillte, schüttete er
seinen Schoß damit voll; aber auch mein Geschick war nunmehr
beschlossen: Da die Klammern ihren Dienst versagt, fielen wir fünf
Scherben wieder auseinander und am Boden waren unser doppelt so
viele. An eine Aufbesserung war nun nicht mehr zu denken;
wir Scherben lagen da am Boden wie ein Häufchen Elend im Naß
des vergossenen Tees, und unser Hausherr war zornentbrannt, denn
es war ihm unangenehm wegen des Gastes, der seine Kleider voll-
geschüttet. Unter Fluchworten wurden wir mit einem Besen zu-
sammengefegt. Diesmal galten die Fluchworte dem Tassenflicker,
weil er seine Sache nicht besser gemacht; und so mußten wir unter
Schimpf und Schande Abschied nehmen aus dem ungastlichen Heim,
in dem wir mehr als zehn Jahre im Dienste gestanden. Hätten
wir wenigstens jetzt noch eine ehrenvolle Ruhestätte gefunden! Aber
nein, man warf uns auf den Auskehrichthaufen, von wo wir bald
in die Düngergrube wanderten und von dort aufs Feld, hier auf
den Acker nebenan. All meine Gefährtinnen, die verschiedenen
Tassenscherben, wanderten auseinander, und viele Jahre lagen wir
still im Acker begraben. Nur hie und da legte uns die Pflugschar
auf die andere Seite oder ritzte die Egge über unsere Rücken.
Noch lange hätten wir da ausruhen können, wenn dem Bauer nicht
beigefallen wäre, auf seinem Acker es auch mal mit Erdnüssen zu
versuchen. Als die nun im Herbste reif geworden, wurde die oberste
Bodenschicht durch ein Sieb geworfen; die Ackerkrumen gingen
durch das Sieb, die Nüsse aber und wir Scherben blieben darin.
Da zeigte es sich denn auch, eine wie große Menge Scherben im
Acker vergraben lagen, und es war mir sogar vergönnt, zwei meiner
Genossinnen wiederzutreffen. Man trennte uns von den Nüssen; diese
wanderten in den Sack, wir Scherben aber wurden hier beisammen
unter den Baum geschüttet. Da liegen wir nun, werden zertreten
und allerhand Unbilden ausgesetzt. Alljährlich sehe ich auf dem
Acker hier den Bauer arbeiten, dessen Ur-Urgroßvater Tee aus mir
geschlürft, da ich noch Tasse wai\ Dieser Bauer da würdigt mich
— 408 —
keines Blickes mehr, und auch selten, daß mich jemand betrachtend
zur Hand nimmt, wie du, Wandersmann, es heute getan. Habe
Dank dafür; habe dir jetzt auch genug erzählt, nur muß ich noch
erwähnen, daß zwei meiner Gefährtinnen auch von hier Abschied
nahmen. Eine hob ein Altertumsforscher auf, weil sie einen
Stempel trug, der eine Rarität bildet; und die andere sammelte
ein Apotheker, welcher dieselbe zermalmen wird, um das Pulver
auf Brandwunden zu streuen. —
„Habt Ihr Euer Brot verzehrt ? u „Steigen wir auf, haben jetzt
genug gerastet \ u Du Scherbe aber sollst es fortan besser haben;
werde dich zu Hause auf die Fensterbank legen; dort ruhe dann
weiter aus, und harre der Geschicke, die deiner noch warten.
15. September. Letzter Tag der Exerzitien. „Ecce, colu-
mnam ferream dedi te. u „Siehe, ich mache Dich zu einer ehernen
Säule. u Der liebe Gott hat uns Priester, uns Missionare zu Säulen
gemacht. Auf unseren Schultern soll das Heil vieler ruhen, auf
unsern Schultarn will er gleichsam den Bau seiner heiligen Kirche
weiterführen. Eine Säule aber hat eine wichtige Aufgabe: sie trägt;
und fängt sie zu wanken an, so wankt vielleicht der ganze
Bau und fällt in Trümmer, zumal, wenn sie einen hervorragen-
den Platz einnimmt in der Konstruktion des Ganzen. Eine Säule
aber, die stetig allerlei Witterungseinflüssen ausgesetzt ist, wird
allmählich anfangen, zu bröckeln oder morsch zu werden und somit
sich und den Bau, der auf ihr ruht, in Gefahr bringen. Was muß
da geschehen ? Sie muß alljährlich einen neuen Anstrich bekommen,
alljährlich neu gcfirnist werden. — In den heiligen Übungen nun,
soll auch unsere Seele gleichsam einen neuen Anstrich bekommen,
neu gefirnist werden, damit die Witterung keine verderblichen Ein-
flüsse ausüben kann. Aber die Seele da drinnen in der Behausung
des Leibes, von allen Seiten sorgfältig verschlossen: zu der hat
doch weder ein Sonnenstrahl noch ein Regentropfen, ja nicht ein-
mal der Mark und Bein durchfahrende Nord Zulaß und Einkehr.
Ja und doch: Die Witterungseinflüsse, welche auf unsere Seele
eindringen, sind geistiger Natur, und die Seele kann sich wohl da-
gegen schützen, nicht aber völlig absperren. Und mag sich die
Seele auch noch so sorgsam bergen, sie wird es nicht verhindern
können, daß sie bald den Schnupfen im Kopfe oder die Gicht in
den Beinen hat. Ich rede in Bildern; jeder aber wird das Bild ver-
stehen, wird auch begreifen, von welchen Witterungseinflüssen ich
spreche, die die Seele angreifen. Die Versuchungen, welche die drei
— 409 —
Feinde uns bereiten, das sind die verderblichen Witterungseinflüsse,
welche das Wohlergehen der Seele gefährden. Und wer hält sich
da frei, wer bleibt unbehelligt?
21. September. Buchweizen. Einen ungemein winterlich
traurigen, demütig bescheidenen Anblick gewährt das Feld mit blühen-
dem Buchweizen. Nur das Gesumme der Bienen« erinnert daran,
daß es nicht Schnee ist, was das Auge erblickt, sondern unzählige
kleine Blüten, aus denen sich ebensoviclo Körner bilden, eine Speise
für die Armen. Stolz wogt das Roggen- und Weizenfeld unter dem
Hauche des Windes, der darüber hinwegstreicht, und die Ähren
flüstern und neigen die Köpfe gegeneinander, wie schwatzende Wei-
ber, die sich Geheimnisse erzählen. Der demütige Buchweizen
spendet Nektar der emsigen Biene, Nahrung dem frommen Klausner
auf Bergeshöh oder dem weltentlegenen Ansiedler, der dort wohnt,
wo der Reiche nicht wohnen, und der Weizen nicht wachsen will.
22. September. Kriechendes Elend. Das Tier geht auf
vier Beinen und ist in dieser Stellung unvermögend, sein Haupt
emporzuheben zu seinem Schöpfer. Heute sah ich eine Menschen-
kreatur, die infolge eines physischen Fehlers auf den Knieen und
Händen über den Boden kroch, wobei die Fußspitzen als stützende
Schieber dienten und den Anschein gaben, als gehe der Mann auf
sechsen. Der Mensch, für den Himmel geschaffen und so nahe der
Erde, dachte ich mir, und nicht einmal imstande, sein Haupt em-
porzurichten zu seinem Herrn und Schöpfer, den er auch nicht
kennt, denn der Arme war ein Heide. Vielleicht stirbt er als solcher,
und was wartet dann seiner in der Ewigkeit? Ist denn sein Los
hinnieden viel besser gewesen wie das des elenden Wurmes, der
am Boden kriecht, und sollte man nicht wünschen, daß nach seinem
Tode es ihm auch ergehen möchte wie dem stummen Wurme, der
da stirbt im Staube und damit aufgehört hat zu leben? — Herr du
Allmächtiger, wir danken Dir, daß Du uns Dein Antlitz geoffenbart
hast, daß wir Dich kennen : möchten wir Dich auch wahrhaft lieben,
damit wir würdig sind, Dich ewig zu loben und zu preisen in einer
glücklichen Ewigkeit. Im übrigen aber bekennen wir von ganzem
Herzen: Recht sind Deine Urteile und unerforschlich Deine Wege!
23. September. Das wetterwendische Füllen. Auf meiner
Reise nach Tsi-ning ritt ich ein Pferd, das besondere Anziehungs-
kraft für ein Mauleselfüllen zu haben schien. Eben bestellte ein
Bauer seinen Acker, und als Gespann hatte er vor dem Pfluge eine,,
dickbeinige Kuh und eine altershchwächliche Rossinante, deren letzter
H. Pieper, .Nene Bändel*. 27
- 410 —
Sprosse übermütig und lebenslustig im Felde herumtrollte. Sobald
das Füllen mein Pferd gesehen, lief es hinter ihm her, bisweilen
eilte es auch mal voraus und gab sich alle erdenkliche Mühe,
meinem Schimmel seine Anhänglichkeit zu bezeigen und ihm Auf-
wartung zu machen. Der Schimmel allerdings schien wenig Ver-
ständnis dafür zu haben; ruhig ging er seines Weges weiter und
war stumm und* taub gegen alle Komplimente, die das junge Tier
von vorne und hinten machte. Der Bauer geriet in halbe Verzweif-
lung, als er das Füllen uns nachlaufen sah. Mein Begleiter suchte
es umzutreiben, aber vergeblich; ich ließ es meine Peitsche fühlen,
aber dann lief es vornauf nur um so schneller. Der Bauer rief
und lockte immer lauter und eindringlicher, aber auch daraus machte
sich das Füllen nichts. Dann ließ er seinen Pflug mitsamt dem
Gespann stehen und eilte uns nach; aber er begriff bald, daß er
mit seinen alten Beinen uns nicht einholen werde. Schließlich sahen
wir nichts mehr vom Bauer, hörten auch , seine Lockrufe nicht
mehr, das flegelhafte Tier aber lief immer weiter voran. Mehrere
Leute, die uns begegneten, baten wir, es umzutreiben, doch brachte
es keiner fertig. Als wir schon wohl einen Weg von l ! / 2 Stunde
zurückgelegt haben mochten, blieb es plötzlich stehen und begann
zu wiehern; dann sah es sich in die Runde um und machte in wildem
Galopp Kehrt. Die alte Mutterliebe war plötzlich von neuem er-
wacht, der Reiz des Neuen war verschwunden.
„Wenn die Heiden doch auch so gerne Christ werden möchten
als das Füllen uns nachläuft", meinte mein Begleiter. Ich antwortete
ihm nichts darauf. Als das Tier wieder Kehrt gemacht und in
hellem Galopp davon lief, sagte ich ihm: „Schau da: So ein Christ-
werden hätte wenig Zweck."
29. September. Steinsärge bei Tung-ngO-hien im Hohl-
wege. Der Weg von Tung-ngo-hien nach Tung-p' ing-t&chou führt
durch Berge. Viele Jahrhunderte wird derselbe benutzt sein, denn
stellenweise ragen zu beiden Seiten haushohe Wandungen empor,
und nur das Stück Himmel über dem Haupte gewährt Fern- und
Aussicht. Begegnen sich in solcher Wegesschlucht zwei Gefährte,
dann muß eines wieder umkehren, aber keines von beiden mag sich
dazu bequemen, und es bedarf vieler Auseinandersetzungen, Schimp-
fereien und bisweilen sogar Keilereien, ehe man sich über diesen
Punkt geeinigt hat. Um solche unliebsame Begegnisse zu vermei-
den, schreien die Fuhrleute aus Leibeskräften, sobald sie in den
Hohlweg eingebogen sind, um den Ankömmling zeitig zu warnen.
— 411 —
Vielfach erblickt man ain Rande des Wege« Steinplatten aus
dem Boden ragen, die sargartig aufeinander gelegt sind. Und in
der Tat handelt es sich um Tote, die dort begraben sind. Schon
Jahrhunderte, vielleicht gar Jahrtausende haben sie dort geruht,
und ihr Staub hat sich längst mit der Erde vereinigt, die in dem
steinernen Behälter liegt. Aus welcher Zeit diese Art der Beerdi-
gung stammt, wissen die Chinesen selber nicht zu sagen. Heutzutage
ist sie nicht mehr gebräuchlich. Die Steinplatten aber rufen dem
Wanderer im Hohlwege ein stummes Memento mori entgegen,
aber die Tausende, so da vorübergehen, hören es nicht und haben
keine Zeit und Lust, an den Tod zu denken, bis auch sie vom
Sensenmann erfaßt sind, und der ewige Richter das furchtbare
„Rcddo rationein* „Gib Rechenschaft" ihnen entgegenruft.
1. Oktober. Ein Kind, das den Vater schlug. „Kind
mache einmal das Kreuz", sagte ich heute zu einem kleinen Mädchen,
das an der Hand seines Vaters geführt zu mir ins Zimmer kam. Es
geniert sich, meinte der Vater; ich muß ihm das sagen, dann wird
es sicher ein Kreuz machen und auch beten, denn es kann schon
eine Reihe Gebete. „Anna mache das Kreuz", befahl er dem Kinde.
Aber auch die Worte des Vaters blieben unbeachtet und das Kind
wandte den Kopf weg. „Mache doch das Kreuz ", wiederholte der
Vater. Statt nun sein Händchen zu erheben und zur Stirne zu
führen, holte es aus und schlug den Vater auf die Wangen. Dieser
neigte verlegen seinen Kopf zur Seite, das kleine Geschöpf aber
hatte seinen Willen erreicht. — Wer nicht hören will, muß fühlen,
dachte ich ; das Sprichwort gilt in jeder Beziehung. Wer die Kin-
der nicht zum Gehorsam erzieht auch dann schon, wenn sie klein
sind, wird beizeiten fühlen müssen, daß er nicht seine Pflicht
getan. Wo er das Gefühl des Kindes in unverständiger Liebe
schonen zu sollen glaubte, wird er selber dereinstens bittere
Reue empfinden und am eigenen Leibe oder im Herzen die
Schläge fühlen müssen, die er dem lieben Kinde absparen wollte.
In ernsten Worten machte ich das dem Vater klar, und er gab
mir recht.
15. Oktober. Elstern, Raben und Spatzen. Elstern und
Raben und Spatzen sind die treuen Genossen der Chinesen im Win-
ter. Auch im Frühling und Sommer ist China recht arm an Sing-
vögeln. Freilich auch der Chinese hat Gefallen an dem Gezwitscher
der befiederten Sänger, und wo er nur kann, verschafft er sich ein
Privat-Konzert derselben, indem er auf eigene Kosten sich ein
27*
— 412 —
Kanarienvogelchen oder einen Beiling halt — mancher nimmt sogar
mit einem Spatzen vorlieb — denn da draußen gibt es weder Wald
noch Busch, und deshalb finden die Vögel kein Unterkommen oder
doch nur ein sehr dürftiges, und haben deshalb auch keine Freude
an dem prosaischen China. Nur die Lerche trillert wohlgemut ihr
Morgcnlicd im Ackerfelde, aber auch sie sucht der Chinese in seinen
Käfig zu sperren, wie auch sonst kein Vögle in vor ihm sicher ist.
Seine standigen Genoasen freilich, die Raben, Elstern und Spatzen
erfreuen sich gemeiniglich eines ungestörten Daseins; ja man findet
in Städten oft Bäume, in denen mehrere Dutzend Raben ihre Be-
hausung gebaut haben, ohne «laß es dem verwegensten Buben ein-
fiele, auch nur einen Stein nach ihnen zu werfen. Und wenn gegen
Abend das krächzende Volk aufzieht, um im alten Stadtgemäuer
oder in Pagoden sein Nachtquartier aufzusuchen, kann man sie
oft zu Tausenden zählen und noch weit mehr, so daß man sich
unwillkürlich sagt: „Wo hat das liebe Vieh heute doch nur seinen
Tisch godeckt bekommen?" Die heilige Schrift gibt uns Antwort:
Lobet, den Herrn, der . . . dem jungen Raben seine Speise gibt. (Ps.
14.) Oic Kistern sieht man nur mehr vereinzelt; aber sie haben
in ihrem Auftreten, in Gang und Bewegung nichts weniger als das
Bescheidene eines stillen Klausners, vielmehr das trittsichere Stol-
zieren einer selbstgefälligen Stadtdame, die sich vom großen Pöbel
trennt und in Selbstbewunderung ihre einsamen Spaziergänge macht.
19. Oktober. Allerhand Aussatz. Die heilige Schrift spricht
im Buche Leciticux (14, 3. 5. etc.) von einem Aussatze der Häuser
und gibt Verhaltungsmaßregeln, wenn der Aussatz irgend ein Gebäude
ergriffen hat. Mit solchem Aussatze behaftete Wohnungen findet
man hier in Menge. Es ist dieses der Salpeter, welcher bei trockener
Witterung aus dem Boden hinaufsteigt und alles Gestein, das nicht
ganz fest ist, allmählich zerfrißt. Zuerst und am leichtesten bemäch-
tigt er sich der Wände, die aus Lehm oder Erde sind. Solche
Wände fallen unter seiner Einwirkung in wenigen Jahren zusammen.
An den Bauten aus Backsteinen zerfrißt er zunächst die nicht ganz
durchbackenen Steine, welche dann allmählich in Staub zerbröckeln
und im Gemäuer allerhand Höhlungen entstehen lassen. Ein von
solchem Aussätze behaftetes Haus macht in der Tat einen kranken
Eindruck und hat viele Ähnlichkeit mit dem Armen, den der wahre
Aussatz ergriffen. Wenn der Boden einmal durch und durch ver-
salpetert ist, gibt es kein anderes Mittel, das Emporsteigen des
Aussatzes u zu verhüten, als daß man eine Isolierschicht auf den
- 413 -
Grundmauern anbringt. Es sind dafür feste Bruchsteine geeignet;
das gewöhnliche Volk aber benutzt für seine Lehmhütten eine Schicht
Schilf oder auch dünne Bretter. Im Winter aber, wenn der Salpeter
stark an die Oberfläche tritt, wird er mit einem Besen abgefegt,
gekocht und gereinigt und dann verkauft. Arme Leute verdienen
sich auf diese Weise einen kargen Unterhalt. Oft findet man weite
Strecken Landes von Salpeter verseucht, und wo er die Oberhand
gewinnt, wächst kein Getreide mehr, und die Gegend sieht wüsten-
artig öde aus. Wo man seiner aber Herr werden kann, wird die
aufsteigende Salpeterschicht immer von neuem abgefegt, oder man
häuft die oberste Erdschicht wallartig um den Acker an und pflanzt
(jinliu) Tamarisken darauf, die sich um so besser entwickeln, je mehr
der Boden Salpeter enthält. Jeden Herbst werden dieselben abge-
hauen und liefern dann ein gutes Brennmaterial. Im Sommer macht
so ein von Tamariskenstauden umstandener Acker mit seinen zarten
rosaroten Blüten und dem krausen Grün einen ungemein hübschen,
wohltuenden Eindruck. Aber' ebenso öde und trostlos sieht er im
Winter aus. Die dünne Schicht Salpeter, welche sich dann hier und
da an der Oberfläche zeigt, ähnelt dem Schnee; aber er glitzert
nicht in der Sonne. Es kommt ein zerlumpter Armer heran mit
Korb und Besen und fegt den Boden ab. Eben da er seine Mütze
lüftet, sehen wir seinen Kopf — ein treues Abbild des versalpeter-
ten Bodens, den er fegt. Nur hier und da noch ein spärlicher
Haarbüschel, sonst ist der ganze Kopf bedeckt von einer weißen
Schicht, und gegen solchen „ Aussatz u bringen die chinesischen
Ärzte vergebens ihre Quacksalbereien in Anwendung. Wer einmal
mit diesen Kopfschinnen, oder wie die Kranheit heißen mag, behaftet
ist, behält sie meistens das ganze Leben, und selbst wenn alle Haare
verschwunden sind, bleibt die Haut noch von einer weißen schup-
pigen Schicht bedeckt. Hat der Arme seine Arbeit getan, geht er
heim. Folgen wir ihm nun, zu sehen wo er bleibt. Eine armselige
Hütte aus Erde ist seine Behausung, und auch diese ist vom Sal-
peter-Aussatze behaftet, wie sein Kopf und der Acker, den er so
eben gefegt. Der schlimmste Aussatz aber hat seine Seele erfaßt:
er ist Heide und Sünder und kennt den himmlischen Seelenarzt
noch nicht, der da gekommen ist, auch ihn zu retten.
22. Oktober. Alles vergeht, und auch die Erde hat
keinen ewigen Bestand. „ Woher stammt die Erde mit allem
was darauf ist, Lebendem und Totem und der Himmel über uns mit
der Sonne, dem Monde und den unzähligen Sternen, die uns in
— 414 —
stiller Nacht entgegonfunkeln wie blinzelnde Augen, aus denen eine
Seele spricht?* — „Das ist immer so gewesen", meinte der Heide,
an den ich meine Frage gerichtet. — „Wird es denn auch immer
so bleiben, auch dann noch, wenn tausend und viele Millionen Jahre
verflossen sind?" — „0 ganz gewiß", behauptete der Heide, „wie
sollte es überhaupt anders werden können?" Wir saßen unter einer
alten Weide, während wir mit einander sprachen. Es war ein stiller
schöner Mittag; die herbstliche Sonne schien warm und freundlich
wie zum Abschiede. Von den Zweigen der Weide lösten sich hier
und da Blättchen ab und schwebten sachte zur Erde. Eben fiel
mir eines in den Schoß. Ich nahm es zur Hand, und es führte
mich auf einen Gedanken, der die Fortsetzung unseres Gespräches
bilden sollte. „Die Weide ist wohl schon sehr alt und hat sicher
schon manchen Sturm erlebt und viele Herbste." — „Sicher wohl,
denn ich habe sie immer so gekannt, und auch in den Tagen
meiner Jugend hatte sie das nämliche Aussehen." — „Ob sie denn
wohl immer so bleiben wird, auch nach Verlauf von 100 und 1000
Jahren?" — „Das ist nicht möglich; früh oder spät wird sie einmal
absterben, wenn sie unterdes nicht gefällt wird." — „Recht, mein
lieber Freund. Nichts in der Natur hat ewigen Bestand. Die Le-
bensdauer des Einzelwesens ist freilich verschieden ; dieses Blättchen
hat nur 6 bis 8 Monate gelebt, und jetzt stößt der Baum es von sich,
und es verendet im Staube am Wege. Und auch wir Sterbliche
sind schließlich nichts anderes, als Blätter auf dem großen Baume
der Menschheit. Sollte nun der Baum ewig bestehen, nachdem
sich die Blätter jahrtausendelang abgewechselt haben im Entstehen
und Vergehen? Die Spatzen, die über uns in den Zweigen des
Baumes zwitschern, bekommen alle Jahre neue Federn, schließlich
aber geht auch der Spatz zu gründe, nachdem er, weiß Gott wie
oft, seinen Rock gewechselt hat. Dort der Bettler sitzt im warmen
Sonnenschein und reinigt seine Kleider von Insekten. Den Tierchen,
die auf seiner Haut groß gewachsen, ist eine kurze Lebensdauer
beschieden, aber auch der Bettler selber muß dereinstens sterben,
wie wir Menschen alle hienieden. Und was ist schließlich der Ein-
zelne anders, als ein Insekt auf dem Leibe der Mutter Erde, die
uns alle ernährt. Sieh, mein Freund, es vergeht alljährlich das Laub
des Baumes, aber auch der Baum hat keinen ewigen Bestand. Es
stirbt das Insekt, und das Haar fällt allmählich von unserm Haupte,
nachdem es grau geworden oder weiß; aber auch wir selber wer-
den früh oder spät sicherlich selber in Staub zerfallen. Und du
meinst wirklich im Ernste, die Erde mit allem was darauf ist würde
— 415 —
ewig ihren Kreislauf machen? Das ist ebenso unmöglich, wie es
unmöglich ist, daß sie von Ewigkeit her bestanden hat. Oder
glaubst du, die Weide hier stehe da von Ewigkeit her, da du sie
immer so gekannt hast, selbst aus den Tagen deiner Kindheit ?"
— Der Heide mußte mir recht geben; ich hatte ihn zum Nach-
denken veranlaßt, und das ist die erste Stufe fürs Christwerden.
23. Oktober. Sprache des Händedrucks. Wie beredt
ist doch die stumme Sprache eines Händedruckes, zumal wenn
es die zitternde Rechte eines Sterbenden ist. Es heißt ja die
Schwelle überschreiten, welche das Diesseits vom Jenseits trennt, und
der Händedruck bedeutet ein Scheiden, nach welchem es erst ein
Wiedersehen gibt über den Sternen.
Komme soeben von Petrus Yansiu in Yan-tfa-kao. Der Arme
hat heute zum ersten Male nach vielen Jahren wieder gebeichtet.
Die Boxer hatten ihn seinerzeit eine Strecke mitgeschleppt und ihm
mancherlei Schikane bereitet, aber anstatt Nutzen aus seinen Leiden
zu schöpfen und sie als Christ geduldig zu ertragen, hatten sie ihm
das Christsein einigermaßen verleidet. Doch hat der Herr noch in
letzter Stunde Erbarmen gehabt mit dem Armen und ihn nicht um-
sonst leiden lassen. Seine nächsten Verwandten, die noch im Hei-
dentume leben, waren durchaus dagegen, daß man den Priester rufe.
Alles Bitten und Weinen des Kranken war umsonst; im übrigen
suchte man seine Wünsche zu erfüllen, aber das sehnliche Verlangen
nach dem Missionar blieb unbeachtet.
Zufällig kam ein Christ des Weges daher und hörte, wie eine
Stimme aus dem Inneren jener Hütte „Schenfu, Schenfu," rief.
Er ging hinein und sah dann den totkranken Yansiu auf seinem
Lager liegen. Er kannte ihn von früher her und begriff nun sofort,
daß der Kranke nach dem Priester verlange. Eben trat wieder die
älteste Tochter des Kranken ins Zimmer; als sie hörte, daß der
Missionar geholt werden sollte, setzte es natürlich viele Gegenrede
ab, aber es war zu spät. Eine Stunde nachher stand ich neben
dem Sterbenden; er ergriff meine beiden Hände und benetzte sie
mit Tränen. In China ist es nicht gebräuchlich, die Hand zum Ab-
schiede oder Willkomm zu bieten, noch viel weniger aber, dieselbe
zu küssen. Doch die Sprache des Herzens ist überall dieselbe und
wird auf der ganzen Welt verstanden. Und das Herz des guten
Hirten hat Erbarmen mit jedem Schafe, das reuig zurückkehrt an
Sein Gottesherz. — Yansiu beichtete, empfing die Sterbesakramente,
und am anderen Morgen hauchte er froh und friedlich seine Seele aus.
24. Oktober. Erhangt. Viermal hatte X. die heilige Ölung
empfangen; aber der Tod wollte nirht koimnon und ihn erlösen
von seinem langwierigen Leiden. Dazu kam noch eine Armut, die
ihm jede Erleichterung unmöglich machte, ja seihst den nötigen
Lehensunterhalt ihm fast vorenthielt. Die Frau diente bei einem
Reichen als Nährmutter, seine beiden Kinder waren bei unseren
Waisenkindern untergebracht. Die Frau war den kranken Maun,
der ihr jahrelang zur Last gewesen, schon langst müde; er hatte
sie am Morgen um ein Krötcheii gebeten, aber statt dessen hatte
sie ihm ein saueres (tesicht gemacht und harte Worte gegeben.
Als sie abends nach Hau*e zurückkehrte, fand sie den Kranken
— erhaugt.
25. Oktober. Lazarus und der Reiche. „Es war ein rei-
cher Mann, der kleidete hcIi in Purpur und feine Leinwand und
hielt alle Tage herrliche Mahlzeiten." (Luc. 10. 10.) Solche Reiche
gibt es auch in unserem Zeitalter noch genug, nur mit dein Unter-
schiede, dali sie sich noch bessere Stoffe umhängen als Purpur
und feine Leinwand, und dal) die Frauen bei solchen Mahlzeiten
den Vorsitz und Vorrang haben, wovon allerdings bei dein Reichen
in der heiligen Schrift keine. J{ede ist.
„Es war auch ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor
des Reichen Türe." Arme giht es auch heutzutage noch genug,
nur dürfen sie dem Reichen nicht mehr vor der Türe liegen, sonst
treibt die Polizei sie fort, und auch die Hunde werden heutzutage
wenig Neigung mehr verspüren, den Armen die Geschwüre zu
lecken, dafür ist das Ifundegeschlecht zu hoch gestiegen in der
Kultur und in der Achtung der Reichen.
In China allerdings sind die Verhaltnisse noch mehr patriar-
chalischer Art, ähnlich wie zur Zeit Jesu. Da darf der Bettler un-
geniert seine Wege gehen, und mancher halt vor der Türe der
Reichen seinen Nachtschlaf, und auch die Hunde sind hier weniger
verwohnt.
4. November. Herbstlich Laub. Es raschelt das dürre Laub
vom herbstlichen Winde getrieben in die tief geschnittenen Rader-
spuren der Wege und in die gepflügten Furchen des Landes. Dort
sucht es sich ein Grab, und es knistert wie aufseufzend im Tode,
wenn der Wagen darüberher fahrt.
Sonnenaufgang. Ein machtig wirkender Anblick ist es,
wenn in bescheidenen Umrissen feurig rot der junge Tag herauf-
dämmert, und der Morgenstern hoch darüber flammt. Treu hält er
— 417 —
aus auf seinem Plane, wenn auch schon alle Sterne Abschied ge-
nommen ; erst dann schwindet er, wenn die Sonne in voller Pracht
erschienen und er, ihr schmucker Bote, ihr einen guten Tag
gewünscht.
Bauer — Städter. Breitschultrig, dickknochig, fest auf den
Beinen erscheint uns der stämmige Bauer; fern von der Großstadt,
einsam auf seinem Gehöfte waltend, ist er ein treues Abbild der
Cypresse, die vereinzelt oder doch nur zu wenigen Paaren — am
Wege und auf Grabhügeln steht. Der Wind kann sie von allen
Seiten packen, aber auch von allen Seiten saugt sie Sonnenlicht
ein und Leben. Schmächtig und schlank, mit bleichen Wangen
und dürren Fingern ist uns das Stadtkind bekannt; ihm gleicht die
zur Stange emporgeschossene Tanne. Sie war ja umschlossen von
allen Seiten und stand im Gedränge großer Gesellschaft, hatte nur
freien Ausweg nach oben und unten und mußte sich ihr Lebens-
dasein erkämpfen.
5. November. Des Menschen Verhältnisse. Die Ver-
hältnisse machen den Menschen vielfach zu dem, was er ist. Der
arme bestaubte Steinklopfer an der Straße würde vielleicht Minister
sein, wenn er in besseren Verhältnissen gelebt, wenn er dann und
dort geboren wäre, wo der Lebenspfad in höhere Lebensregionen
führt. — Und der gebückte Straßenfeger könnte wo möglich statt
seines Besens den Bischofsstab in der Hand halten, wenn ihn das
Schicksal in Verhältnisse gebracht, wo seine Anlagen und Neigun-
gen zur Entwickelung gelangt wären.
Ein herrlicher Herbsttag ist heute. Kein Wölkchen am Him-
mel ; milder Sonnenschein erwärmt die stille Luft. Er hat auch den
bunten Schmetterling aus seinem Verstecke gelockt, der sich freudig
im Sonnenschein herumtummelt. Er sucht nach einer Blume, aber
die sind längst verblichen. Ich sehe ihn auf einen dürren Grashalm
sich niedersetzen; dann fliegt er weiter und entschwindet im herbst-
lichen Laube. einer Weide meinen Blicken. — Für so manchen Staub-
gebornen ist das Leben ständiger Herbst; keine Blume öffnet sich
seinem traurigen Dasein, das er als Straßenfeger oder Steinklopfer zu
Ende lebt. — Gott sei gedankt für diesen Christentrost : Ein golde-
ner Frühling winkt uns allen, einerlei in welche Bahnen uns
das Schicksal gelenkt. Es kommt nur darauf an, daß jeder seinem
Ziele treu entgegensteuert, der eine mit dem Hammer oder
Besen; der andere mit dem Bischofsstabe, alle aber zur größe-
ren Ehre Gottes.
— 418 —
6. November. Die Sorgenlinien haben sich geglättet.
„Die Sorgenlinien haben sich geglättet", ^souuin chin k'älio" das ist
in China der stereotype Ausdruck, um zu bezeichnen, daß es mit
dem Kranken zu Ende geht. Also begleitet die Sorge den Sterb-
lichen hienieden bis zum Abende seines Erdenwallens und verläßt
ihn nicht eher, bis der Tod seine kalte Hand gelegt auf die in
Schweiß gebadete Stirne. Die Sorge schreibt überall auf der Welt
ihre Runen in das Antlitz des Erdenpilgers, bald mit dem harten
Griffel der Not und Entbehrung, bald mit dem sammetweichen
Pinsel der Sünde und des Lasters. Der Tod glättet dann als milder
Freund die sorgenvolle Stirne, und der kalte Angstschweiß verwischt
die letzten Spuren: es ist überstanden.
7. November. Wolkengebilde. Der Allmächtige zerlöst
nicht minder leicht die hochgetürmten festen Massen der Gebirge
in Erz und Stein, denn die luftigen Gebilde der Wolkenberge am
hohen Himmelsgewölbe. Sieh die Ameise, die wir Mensch nennen,
im Staube wühlend und Berge bauen und Türme, die zum Him-
mel reichen: Ein Hauch aus Seinem Munde; und alles ist vernichtet
als ob es eitel Wolkengebilde gewesen.
9. November. Kleine Statur. Große Bauten, große Reparatu-
ren. Wohnt die Seele in einem hochstöckigen Turme, bietet der-
selbe viele Angriffspunkte für die Außenwelt, und geht es ans
Reparieren, muß immer mehr Mörtel und Material gebraucht wer-
den, als wenn die Seele mit einer kleinen bescheidenen Wohnung
vorlieb nimmt. Es ist auch, als ob sie darin besser Herr im Hause
bliebe. So ein großer Menschenturm repräsentiert sich mehr als
Materie, und es muß schon eine große Seele darin hausen, mit
vieler Willenskraft und Energie, wenn ihn das fleischliche Element
nicht unterkriegen soll. Und dann erst die vielen täglichen Repara-
turen, die sich so ein Goliath zulegen muß in Speise und Trank,
damit er nicht baufällig werde ! Da will es mir scheinen ein kleiner
Mensch oder höchstens einer von gut normaler Eörperlänge sei
besser bestellt, als jene aus dem Geschlechte der Riesen. Man
findet deshalb auch nicht selten, daß große Männer dem Körper
nach klein waren. Und was die „Japaner-Zwerge* vermocht, davon
wissen die „Russen-Riesen" zu erzählen.
15. November. Kastenstolz. Heute beobachtete ich ein
anmutiges Bild vom Lande. Ein blutjunger, armer Leute Köter, strup-
pig und abgemagert wie er war, freute sich doch seines Lebens und
zumal seiner Jugend, indem er mit zwei Zicklein seine Neckereien
— 419 —
trieb. Das Ziegenpaar war Mutter und Tochter, und offenbar gehörte
es besser situierten Leuten an, als es der Eigentümer des Hundes
war. Wie ich die Tiere ihre Spielereien treiben sah, kam mir so
recht zum Bewußtsein, daß selbst die vierbeinige Jugend nichts
von Kastenstolz und vornehmem Eigendünkel weiß. Und bei der
Menschenjugend ist es gerade so, es sei denn, die sehr zivilisierten
Eltern haben sie schon beizeiten aufgeklärt, und der kleine Fleisch-
protz wisse bereits, daß der Herr Papa ein fetter Geldprotz ist.
Dann freilich will er nichts von armen Kindern wissen und fängt
sich zu ekeln an und mag mit Kindern vom gewöhnlichen Schlage
nicht mehr spielen. So ist's daheim in Europa und in China des-
gleichen, denn „Menschen sind die Menschenkinder aller Zeiten
aller Zonen."
19. November. Briefschreiben. Das echte Briefschreiben
ist in unserem Zeitalter viel seltener und weniger bedeutsam gewor-
den wie ehedem, wo so ein Bricflein oft tage- ja wochenlang un-
terwegs sein mußte, ehe es seinen Adressaten fand. Wir fernab
in China fühlen es besser, was es auf sich hat* mit einem guten,
von Herzen geschriebenen Briefe, dem man ansieht, der Schreiber
hat sich die Zeit zum Schreiben genommen. Gewiß, einen guten
Brief zu schreiben, kostet meistens etwas Überwindung, und über-
winden tut man sich nicht gerne. Zudem hat man ja Karten, auf
die nicht viel zu schreiben ist, und um den Raum noch beschränkter
zu machen, ist ein Bild darauf gedruckt, so daß höchstens mehr
ein Gruß Platz drauf findet. Und neuerdings gebraucht man gerne
gedruckte Mitteilungszettcl, um ja nicht in den Verdacht zu kom-
men, man habe einen Brief schreiben wollen. Zudem geht der
Gedankenaustausch durch Telephon und Telegraph viel schneller
von statten und so kommt es, daß das Briefschreiben immer mehr
verlernt wird.
4. Dezember. Menschliche Natur verdorben. Die Ver-
derbtheit der menschlichen Natur zeigt sich auch besonders darin,
daß wir bisweilen so etwas wie Selbstbefriedigung empfinden, wenn
über einen andern, der uns weniger angenehm ist, mißbilligend
gesprochen wird, und wir in der Neigung dann auch unser Ja und
Amen zunicken.